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Max Adler Démocratie politique ou sociale (Extraits) |
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Cette page est associée au texte Aux sources de la social-démocratie: Ferdinand Lassalle, qui fait référence au livre dont nous reproduisons ici des extraits. |
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Source: Max Adler: Politische oder soziale Demokratie
- ein Beitrag zur sozialistischen Erziehung |
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InhaltsverzeichnisSeite Vorwort............................................................................................................... 9 1. Demokratie als Problem................................................................................ 17 2. Die Kritik an der Demokratie........................................................................ 24 3. Die Doppelsinnigkeit des Wortes Demokratie............................................... 32 4. Demokratie als bürgerliches Ideal.................................................................. 35 5. Standesunterschied und Klassengegensatz.................................................... 40 6. Politische und soziale Demokratie................................................................. 49 7. Der eigentliche Sinn der Demokratie ist solidarische Vergesellschaftung...... 55 8. Warum im Staate keine echte Demokratie möglich ist.................................. 60 9. Über den Unterschied von Zwangsordnung und Herrschaftsordnung........... 67 10. Das Problem der Majorität........................................................................... 77 11. Übergang zur Erörterung des Begriffs der Diktatur..................................... 86 12. Unterscheidung von Diktatur und Terrorismus........................................... 95 13. Diktatur und Demokratie.......................................................................... 100 14. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte........................................................ 112 15. Über wirtschaftliche Demokratie............................................................... 132 16. Die funktionelle Demokratie..................................................................... 151 17. Soziale Demokratie und sozialistische Erziehung...................................... 158 Vorwort[1]Dieses Büchlein ist aus Vorträgen über das Problem der Demokratie entstanden, die ich in vielen Arbeiterversammlungen in Österreich, Deutschland und in der deutschen Tschechoslowakei gehalten habe. Das Interesse an den Darlegungen der Vorträge bewies, daß im Proletariate ein großes Bedürfnis nach Klarstellung des Wesens der Demokratie und der mit ihr zusammenhängenden aktuellen politischen Fragen besteht, wie z. B. nach dem Verhältnis von Demokratie und Diktatur, nach dem Wert der demokratischen Republik und nach dem Unterschied von Staat und Gesellschaft. Und die große Zustimmung, ja zumeist leidenschaftliche Anteilnahme, welche die Vorträge überall fanden, scheint eine Gewähr dafür zu bieten, daß die hier versuchten begrifflichen Klarstellungen und Unterscheidungen tatsächlich geeignet sind, eine weitverbreitete Verwirrung politischer Begriffe zu klären und das, was gleichsam instinktmäßig im revolutionären Klassenbewußtsein des Proletariates lebt, auf einen deutlichen Ausdruck zu bringen. Und wenn es sich dabei von manchen Begriffen, die durch die Propaganda des Bolschewismus gleichsam als dessen Monopol erscheinen und dadurch der sozialdemokratischen Arbeiterschaft verdächtig gemacht wurden, herausstellt, daß sie zum eigentlichen Besitzstand des marxistischen Sozialismus gehören und nur in der politischen Praxis des Bolschewismus eine fälschliche Anwendung erfahren haben, so muß auch dies zu größerer Klarheit und zu einem besseren Verhältnis gegenüber den sogenannten kommunistischen Parteien führen. Der Zustand muß endlich überwunden werden, daß gewisse Lehren und Begriffe von Sozialdemokraten schon deswegen allein abgelehnt werden, weil sie Gegenstand der "kommunistischen" Agitation sind. An Stelle dieser blindgegensätzlichen Haltung muß das kraftvolle Bewußtsein treten, daß es sich bei einem großen Teile der bolschewistischen Theorie um Grundwahrheiten des Marxismus handelt, zu denen auch wir uns bekennen, nur daß wir sie nicht als bloße revolutionäre Schlagworte vertreten, sondern bemüht sind, zugleich auch ihre ganze ökonomische und soziale Bedingtheit dem Proletariate klarzumachen. Auf diese Weise wird ein Anfang möglich sein, die Kluft der Verständnislosigkeit, ja des Hasses zu überbrücken, die heute die Arbeiterbewegung in die beiden großen Richtungen, Sozialdemokratie und Bolschewismus, spaltet. Diese Überbrückung aber ist eine unbedingte Notwendigkeit für die Wiedererstarkung des Sozialismus und die Erneuerung der Internationale. Beides wird nicht einseitig von der einen oder der anderen Richtung aus ins Werk gesetzt werden können. Nur indem die einen wieder mehr revolutionären Klassengeist, die anderen weniger illusionären Sektengeist entfalten, wird es zur Bildung jenes einheitlichen revolutionären Bewußtseins kommen, welches allein die Grundlage der Internationale des Proletariates sein kann. Der Gegenstand der nachfolgenden Untersuchung ist in seinen Grundlagen von mir bereits in meinem Buche "Die Staatsauffassung des Marxismus" (Wien, Volksbuchhandlung 1922) behandelt worden, hier aber in eine leichter verständliche Form gebracht. Insofern liegt hier eine Wiederholung bereits früher entwickelter Begriffsbestimmungen vor; ich habe auch mehrfach zur eingehenderen Begründung dieser Arbeit auf jenes Buch verwiesen. Gleichwohl handelt es sich im folgenden nicht bloß um eine Wiederholung und Popularisierung der dort gewonnenen Resultate, sondern um ihre Weiterbildung in der Anwendung auf ein spezielles Problem, auf das Problem der Demokratie, womit zugleich auch eine Weiterentwicklung der marxistischen Staatslehre selbst gegeben ist. In diesem Buche wird manche strenge Kritik an der bloß politischen Demokratie und an der bürgerlichen Republik geübt. Aus dem ganzen Inhalte der Erörterungen geht jedoch unzweideutig hervor, daß damit keineswegs die politische Demokratie für das Proletariat als wertlos oder auch nur nebensächlich bezeichnet werden soll. Um aber solche Mißverständnisse oder böswillige Entstellungen von vornherein unmöglich zu machen, erscheint es zweckmäßig, auch hier nochmals darauf hinzuweisen, daß mit dieser Kritik an der politischen Demokratie nur deren Unterschied und Schranke gegenüber dem höheren Begriff der sozialen Demokratie klargestellt werden soll. Die politische Demokratie ist für das Proletariat eine unentbehrliche Waffe, ein gewaltiges Mittel, seinen Einfluß im Staate zur Geltung zu bringen und seine Massenanziehung zu verstärken. Und insbesonders ist die demokratische Republik ein teuer erkämpfter Rechtsboden, den das Proletariat nie wieder sich rauben lassen wird. Die sozialdemokratische Arbeiterschaft hat nicht umsonst jahrzehntelang einen zähen, unerschrockenen und opferreichen Kampf für die Erringung der politischen Demokratie und der republikanischen Staatsform geführt. Sie hat immer gewußt und weiß es heute noch um so besser, daß sie in der immer vollkommeneren politischen Demokratie auch immer bessere Möglichkeiten für ihren Kampf um die soziale Demokratie schafft. Und heute liegen die Dinge bereits so, daß die bürgerliche Demokratie nirgends in besserer Hut ist als bei der Sozialdemokratie, und daß die Republik keinen ehrlicheren Freund und Schützer hat als das revolutionäre Proletariat. Die demokratische Republik ist heute überall von sie umlauernden reaktionären Bestrebungen bedroht; und nicht an der lauen Sympathie des "freiheitlichen Bürgertums" werden die düsteren Pläne der Reaktion scheitern, sondern an der Entschlossenheit des Proletariates, die republikanische Staatsform mit seinem Blute zu verteidigen. Allein gerade weil die Demokratie heute so stark bedroht ist, weil der Faszismus überall in den verschiedensten Formen teils herrscht, teils nach der Herrschaft strebt, und weil es daher gar nicht so unwahrscheinlich ist, daß das Proletariat für die Republik mit ganzer Kraft wird eintreten müssen, könnte es scheinen, als ob jede Kritik an der Demokratie schädlich wäre. Es könnte scheinen, als ob die Aufzeigung der Begrenztheit und der Unvollkommenheit ihrer bloß politischen Form die Energie ihrer Verteidigung schwächen müßte. Wie soll man verlangen, könnte jemand fragen, daß das Proletariat sein Blut für eine Sache opfert, die ihm verdächtig, ja wertlos gemacht wird? Glaubt man wirklich, daß das Proletariat sich für die Demokratie bis zum todesmutigen Kampfe wird begeistern können, wenn man ihm darlegt, daß die politische Demokratie und die demokratische Republik nur widerspruchsvolle Staatsformen sind, die dem sozialistischen Ideal fernstehen? Dieser Einwand klingt sehr bestechend, erweist sich aber bei näherem Zusehen als sehr mißverständlich. Das Proletariat hat in der Geschichte schon wiederholt für die Erkämpfung oder Verteidigung der Demokratie sein Blut vergossen; aber wofür es sich verblutete, wofür es begeistert war, das war in allen diesen Fällen nicht die formale Demokratie, sondern die Idee einer neuen freieren und gerechteren Gesellschaftsordnung, als deren Symbol ihm bloß das Wort Demokratie galt. Unter Demokratie verstand es eben nicht die bloß formale Idee der Rechtsgleichheit, sondern die Idee der Herrschaft des Volkes, der Arbeitenden über die Müßiggänger, der Besitzlosen über die Besitzenden, zum Zwecke der Ermöglichung eines glücklicheren Lebens. Es ist auch gar nicht einzusehen, wie denn sonst viel Begeisterung dafür möglich wäre, daß man auch einen Stimmzettel abgeben dürfe, und daß der Staat statt von einem Monarchen von einem Ausschuß der besitzenden Klassen regiert werde. Nur weil die Demokratie, die das Volk meinte, immer etwas anderes war als die, welche im Klassenstaate schließlich dann verwirklicht wurde, hat das Volk, das heißt die Masse der werktätigen Schichten, sich für die Demokratie begeistert und geopfert. Es war also im Grunde immer das, was wir in diesem Buche als den eigentlichen Sinn der Demokratie darlegen, die Idee der sozialen Demokratie, der solidarischen Gesellschaft, was die Forderung nach dem allgemeinen Wahlrecht und nach der Republik als den "Volksstaat" mit dem Feuer des politischen Idealismus durchglühte. So war es schon in der ersten Arbeiterbewegung für das allgemeine Wahlrecht, im Chartismus, der dadurch zur ersten sozialistischen Massenbewegung wurde, und so auch wieder in der Agitation Lassalles, bei dem die Idee des allgemeinen Wahlrechtes zugleich den Aufruf zur Umgestaltung des Staates durch "die Idee des Arbeiterstandes" bedeutete. So, wie es dieser soziale Idealismus war, der in der Erkämpfung der politischen Demokratie die Massen bewegte, so muß er es auch in der Verteidigung der errungenen demokratischen Freiheiten bleiben; und nur aus ihm wird sich die moralische Energie ergeben, welche diese Verteidigung verlangt. Diese moralische Energie wird nicht geschwächt, sondern gestärkt durch eine Kritik, welche zeigt, daß auch die demokratische Republik noch ein Klassenstaat ist. Denn darin liegt ja gerade der mächtige Antrieb für das Proletariat, nunmehr die demokratischen Formen zur Überwindung dieses Klassencharakters zu gebrauchen. Und die Proletarier werden diese Demokratie und diese Republik um so leidenschaftlicher verteidigen, obgleich es nicht die soziale Demokratie und die soziale Republik ist, je mehr sie in ihr keinen Selbstzweck, sondern das starke Mittel erkannt haben, ihre eigenen revolutionären Ziele zu verwirklichen. Hingegen muß eine Sinnesart, welche die demokratische Republik als solche bereits als einen selbständigen Wert und nicht als bloßen Übergang betrachtet, alle moralische Verteidigungsenergie des Proletariates schwächen, sobald es sieht, wie alle Formen der Ausbeutung und des Elends des Proletariates in ihr weiterbestehen, ja in ihrer Rechtsordnung aufrechterhalten werden. Wenn schließlich noch ein Wort der Rechtfertigung dafür verlangt wird, wieso ein Buch über wesentlich politische Fragen in einer Schriftenreihe zur Veröffentlichung gelangt, welche wesentlich an dem Aufbau einer neuen Geistesart arbeiten will, so muß ich auf den Inhalt des Buches selbst verweisen. Aus ihm wird hoffentlich zuletzt klar geworden sein, daß die Unterscheidung zwischen politischer und sozialer Demokratie selbst schon ein Stück dieser neuen Sinnesart ist, und daß die entschlossene Verfolgung dieser Unterscheidung in alle ihre Konsequenzen eine Umgestaltung der Politik bedingt, die zugleich eine sozialistische Selbsterziehung der Massen voraussetzt. Die Forderung des "neuen Menschen", die heute mit immer größerer Intensität in den Mittelpunkt des sozialistischen Emanzipationskampfes tritt, bedeutet eben nicht nur ein pädagogisches Problem für die Jugend, sondern ebenso eine Erziehungsaufgabe für die Erwachsenen. Die Lösung der Aufgabe, welche der Begriff der Demokratie stellt, weist in eine neue Welt: sie wird daher auch nur von solchen Streitern für die Demokratie erbracht werden können, die sie schon heute in ihrem Denken und Fühlen vorbereiten. Wien, im Februar 1926. Max Adler. [...] 14. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte[2]Die marxistische Lehre vom Staate und von der Demokratie, wie wir sie bisher auseinandergesetzt haben, hat im letzten Jahrzehnt eine eigenartige Bekämpfung erfahren, in welcher sie als überlebt dargestellt wird. Man hält sie nämlich durch die moderne staatliche Entwicklung für widerlegt, da diese zu einer immer größeren Interessiertheit des Proletariates am Staate geführt habe. Diese an sich richtige Konstatierung wird mit einer Abschwächung des Klassengegensatzes, ja der Notwendigkeit seiner Überbrückung gleichgesetzt. Und diese Auffassung sieht sich nun unter anderem auch durch eine bedeutungsvolle Lehre unterstützt, durch die Lehre vom Gleichgewicht der Klassenkräfte, an die sie aber nur sehr mißverständlich anknüpfen kann. Bekanntlich hat Otto Bauer diese Theorie im Anschluß an Friedrich Engels, den er selbst als einen ihrer ersten Vertreter bezeichnet, in seinem Buche "Die österreichische Revolution" dargelegt und sodann in einem Aufsatze "Das Gleichgewicht der Klassenkräfte" näher ausgeführt[3]. Der Hauptgedanke dieser Lehre besteht darin, daß der Staat nicht in jeder Phase seiner geschichtlichen Entwicklung das Instrument der Herrschaft einer Klasse über die anderen war und ist, sondern daß in mehr oder minder langen Zeiträumen die Macht zweier oder mehrerer Klassen so stark anwachsen kann, daß keine von ihnen den Staat allein beherrschen kann. Ihre Kräfte halten sich das Gleichgewicht, und die Folge davon ist, daß es entweder der Exekutivgewalt des Staates gelingt, sich gegenüber allen Klassen zu verselbständigen und sie alle gleichmäßig niederzuhalten, oder aber daß sich die einander das Gleichgewicht haltenden Klassen in die Staatsmacht teilen. Das erstere war z. B. der Fall des absoluten Königtums im 17. und 18. Jahrhundert, das letztere in der Teilung der Macht zwischen Grundherrenklassen und Bürgertum in England nach der Englischen Revolution von 1688. Auch die Gegenwart zeigt abermals nach dem Umsturz resp. nach dem Kriegsende in allen Staaten immer mehr eine Situation, in welcher die Klassenkräfte der Bourgeoisie und des Proletariates sich das Gleichgewicht halten. In einer solchen Situation kann sich die Herrschaft einer Klasse über den Staat nicht auswirken. Dies hat zur Folge, daß eigentümliche neue Formen des Staates und neue Aufgaben für die Politik des Proletariates erwachsen. Wir werden darüber noch zu reden haben. Aber zuvor ist es nötig, erst all den Widersinn und Unverstand wegzuräumen, der sich in der populären Auffassung dieser Lehre immer mehr eingenistet hat. Wir können hierbei sehen, wie die Preisgebung des klassenrevolutionären Sinnes der marxistischen Staatslehre die verhängnisvolle Fortwirkung hat, daß sie auch sofort jede tiefere Einzelheit derselben verflacht und völlig um ihren eigentlichen Sinn bringt. Es sind hauptsächlich zwei gründliche Mißverständnisse, die dazu führen, die Lehre vom Klassengleichgewicht direkt in ihr Gegenteil zu verkehren: daß das Gleichgewicht der Klassenkräfte in sich schließe eine Ausgleichung der Klassengegensätze, und daß die Phase des Gleichgewichtes der Klassenkräfte ein Dauerzustand sei, welcher nur der Ausdruck der erreichten Höhe der Demokratie wäre, so daß diese Phase sich immer mehr zu einer Epoche der gesellschaftlichen Harmonie und dadurch des Überganges zum Sozialismus herausgestalten werde. Was zunächst das erste Mißverständnis betrifft, so ergibt sich sowohl aus dem logischen Begriffe des Gleichgewichtes, als aus der historischen Betrachtung der einzelnen Fälle des Gleichgewichtes der Klassen, daß es eine der gröblichsten Verkennungen des Begriffes und der Tatsachen ist, zu meinen, daß dieses Gleichgewicht irgendwie eine Ausgleichung der Klassen, eine Annäherung oder gar Versöhnung derselben bedeute. Schon aus dem Begriffe des Gleichgewichtes ergibt sich, daß ein solches nur dort vorliegt, wo entgegengesetzte Kräfte sich gegenseitig hemmen und bekämpfen. Das zeigt schon der typische Fall des Gleichgewichtes, nämlich der an einer Wage. Das Gewicht in der einen Wagschale strebt das Gewicht in der anderen Wagschale in der seiner eigenen Bewegung entgegengesetzten Richtung zu bewegen. Das gleiche tut das andere Gewicht. Nur durch diese entgegengesetzten Strebungen bleibt bei gleichen Gewichten die Wage in Ruhe, also nur dadurch, daß jedes Gewicht seiner eigenen Strebung folgt. Die Gewichte sind leblose Wesen und können daher nicht das Gleichgewicht ihrer Kräfte mit einer Ausgleichung derselben verwechseln. Aber gesetzt den Fall, sie hätten Bewußtsein und damit die Fähigkeit, sich zu irren, und das eine Gewicht würde das Gleichgewicht so auffassen, daß es sich der Bestrebung des anderen angleichen müßte, also, da dieses es hoch ziehen will, selbst in diese Richtung wirken wollte, so wäre im selben Augenblick das Gleichgewicht verschwunden. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte kommt ja nur gerade dadurch zustande, daß jede Klasse ihre Klasseninteressen und ihren Klassenwillen, soweit es eben geht, geltend macht. Dieses Gleichgewicht bedeutet also nicht ein Aufhören des Klassenkampfes, ja nicht einmal eine Abschwächung desselben, sondern im Gegenteil, die stärkste Fortführung des Klassenkampfes. Denn im selben Augenblick, in dem eine Klasse von ihrem Klasseninteresse nachläßt und daher hinter dasselbe ein geringeres Klassenbewußtsein und eine geringere Klassenmacht stellt, ist auch sofort ihre Klassenkraft geringer geworden und verwandelt sich das Gleichgewicht der Klassenkräfte in die Übermacht der anderen Klasse. Man kann daher nicht einmal sagen, daß in der Phase des Gleichgewichtes der Klassenkräfte der Klassenkampf latent ist. Er ist nicht einen Augenblick verschwunden und darf es nicht sein; er ist vorhanden in dem klassenbewußten Widerstand der Klasse, in ihrem organisierten Aufmarsch und in ihrer sprungbereiten Aktivität. Für das Proletariat heißt dies, daß das Gleichgewicht der Klassenkräfte zur notwendigen Voraussetzung hat die Revolutionsbereitschaft des Proletariates, das heißt sowohl die organisatorische als insbesonders die bewußtseinsmäßige Bereitschaft. Das Gleichgewicht der Klassenkräfte kann daher zwar in der Politik zu Kompromissen führen; aber es ist selbst kein Kompromiß der Klassen, keine Annäherung derselben, sondern ein Verhältnis der äußersten Spannung zwischen ihnen, so wie jedes Gleichgewichtsverhältnis in der Natur ein Spannungsverhältnis ist. Es wäre daher besser, statt von dem Gleichgewicht der Klassenkräfte zu sprechen, den Ausdruck der gleichen Spannung der Klassenkräfte zu wählen. Dieser Ausdruck, der genau dem entspricht, was Friedrich Engels und Otto Bauer eigentlich meinen, würde von vornherein alle die ärgerlichen Mißverständnisse dieser Lehre unmöglich machen. Und vor allem würde er verhindern, daß sich an ihn die dem Proletariat so schädliche Ideologie einer Phase der Vermittlung zwischen den Klassen, die als die eigentliche Frucht der Demokratie angesehen wird, hätte anschließen können[4]. Der Zustand des Gleichgewichtes der Klassenkräfte ist kein Dauerzustand, also schon ganz gewiß nicht etwas, was das Proletariat zu erstreben oder zu erhalten hätte, sondern ein Zustand, in welchen das Proletariat ganz ohne seinen Willen durch die Dynamik der gesellschaftlichen Entwicklung gelangen kann. In diesem Zustand sind dann zwar die Klassenkräfte im Gleichgewicht und daher in einem augenblicklichen Ruhezustande; das bedeutet aber nicht, daß auch der Klassengeist des Proletariates in einen ähnlichen Ruhezustand verfallen dürfte. Darum ist gerade in der Gleichgewichtsphase die Revolutionierung der Massen durch sozialistische Erziehung und Aufklärung unerläßlicher als in anderen Zeiten, damit die proletarischen Massen den bloßen Gegenwartswert der augenblicklich notwendigen politischen Mittel und Aufgaben richtig verstehen. Gewiß ist das eine schwierige Aufgabe, aber sie ist nur schwierig ohne sozialistische Gesinnung, ohne Pflege des revolutionären Klassenbewußtseins. Wird dieses erhalten und verstärkt, dann ist es durchaus möglich, die proletarischen Kräfte intensiv für Gegenwartsaufgaben einzusetzen und gleichzeitig das Bewußtsein damit zu verbinden, daß dies nicht unsere eigentlichen Aufgaben sind und daß wir sie nur auf uns nehmen, um uns für diese den Weg frei zu machen. Nur auf diese Weise wird das Proletariat fähig, das Gleichgewicht der Klassenkräfte in seinem Sinne zu überwinden. Aber für diesen Fall muß es auch gerüstet sein. "Denn", so schreibt Otto Bauer, "da der ökonomische Prozeß selbst die Machtverhältnisse zwischen den Klassen immer wieder verschiebt, kommt schließlich unvermeidlich der Augenblick, in dem das Gleichgewichtsverhältnis aufgehoben wird und nur noch die Wahl bleibt zwischen dem Rückfall unter die Klassenherrschaft der Bourgeoisie und der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat[5]." Es ist also gar kein Zweifel, wie die Lehre des Gleichgewichtes der Klassenkräfte zu verstehen ist. Wenn sie trotzdem mißverstanden werden konnte, so liegt dies vor allem in jener Denkweise, welche überhaupt den revolutionären Klassenstandpunkt der marxistischen Staatslehre bereits verloren hat und daher ihre sozialpazifistischen, um nicht zu sagen sozialpatriotischen Assoziationen wie selbstverständlich in die Begriffe dieser Lehre einströmen läßt. Zum Teil aber haben auch gewisse Seiten der Darstellung bei Otto Bauer sicherlich einiges dazugetan. Ich meine damit die Ausführungen, die so klingen, als ob die Lehre von Marx, daß der Staat die Organisation der Herrschaft einer Klasse zur Aufrechthaltung der Unterdrückung und Ausbeutung anderer Klassen ist, eine bloße Anfangswahrheit wäre, die durch die spätere feinere Analyse überholt worden sei, sowie auch den höchst fraglichen Begriff einer Volksrepublik, die das Produkt des Gleichgewichtes der Klassenkräfte sei. Schon in seinem Buche "Die Österreichische Revolution" spricht Otto Bauer[6] davon, daß die Anschauung, wonach der Staat der Klassenstaat der Bourgeoisie und die Regierung bloß als ein Vollzugsausschuß der herrschenden Klassen zu betrachten sei, eine Lehre ist, welche "den seelischen Bedürfnissen des erst erwachenden, sich erst organisierenden, erst in den Kampf tretenden Proletariates" entsprochen habe. Und auch in seinem Artikel "Das Gleichgewicht der Klassenkräfte" bezeichnet Otto Bauer den berühmten Satz aus dem Kommunistischen Manifest: "Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet", als einen allgemeinen abstrakten Satz, der "vorerst genügte", wo es galt "die Arbeitermassen zum Klassenkampf erst zu erwecken". Dies wurde nun merkwürdigerweise so aufgefaßt, als ob die feinere Analyse, von der Otto Bauer spricht, die Wahrheit dieses allgemeinen Satzes aufgehoben hätte. Man hat ganz übersehen, daß Otto Bauer, wenn er den Grundgedanken von dem Klassencharakter der bürgerlichen Gesellschaft und des in ihr zu entwickelnden Staates als eine Anfangswahrheit bezeichnet hat, dies nur in gleichsam pädagogischem Sinne gemeint war, nicht aber als einen Ausgangspunkt, den man später aufgegeben hat oder aufgeben müßte. In der Tat: Zu einer Zeit, in der das Proletariat politisch und ökonomisch noch gänzlich unwissend und höchstens in den Traditionen der offiziellen und vaterländischen Ideologie verfangen war, konnte man ihm noch nicht zumuten, bereits auch alle die Abarten und historischen Komplikationen zu erfassen und zu würdigen, in denen sich die Klassengegensätzlichkeit des Staates in der historischen Wirklichkeit entfaltet. Gerade um diese schwierigen Verhältnisse später wirklich verstehen zu können, mußte vorerst die grundsätzliche Orientierung über das Vorhandensein der Klassenspaltung- überhaupt gewonnen werden. Prinzipiell mußte zuerst die Anschauung dem Proletariat vermittelt werden, daß der Staat keine Institution zur Wahrung des Allgemeininteresses ist, sondern vor allem zum Schutze und zur Vertretung der herrschenden Klassen. Das heißt nicht die Sache allzu primitiv machen, sondern auch im Komplizierten die Grunderkenntnis des einfachen Klassengegensatzes von Besitzenden und Besitzlosen nicht zu verlieren. Erst innerhalb dieser grundsätzlichen Auffassung konnte der Blick geschärft und das Verständnis erweckt werden für das mannigfaltige Spiel der Klassenkräfte, für die Differenzierungen und Gegensätze der ökonomischen Interessen der herrschenden Klassen selbst und für die zeitweilige Kooperation gegensätzlicher Machtgruppen. So ist daher gewiß der Satz, daß der Staat, mit dem es die Arbeiterklasse zu tun hat, der Staat der Bourgeoisie ist, nicht zu jeder Zeit richtig gewesen, wie er es insbesonders auch zur Zeit der Abfassung des Kommunistischen Manifestes nicht war. Aber zu dieser Zeit gab es z. B. auch noch nirgends, abgesehen von England, jenes klassenbewußte Proletariat, von dem das Manifest spricht. Das ist ja das Großartige, was diese klassische Schrift zu einem die Jahrzehnte seit seiner Abfassung lebendig überdauernden Dokument gemacht hat, daß es in grandiosen Zügen eine gesellschaftliche Entwicklungsrichtung aufzeigt, die erst die späteren geschichtlichen Ereignisse und auch noch unsere Gegenwart zur Verwirklichung und Vollendung führen sollten. Übrigens hat auch Otto Bauer den vorerwähnten Satz des Kommunistischen Manifestes nicht etwa selbst durch die Tatsachen als widerlegt bezeichnet, sondern als eine von Karl Marx aufgewiesene Tendenz der Entwicklung. Und das entscheidende in diesem Zusammenhange ist, daß es nicht so sehr darauf ankommt, ob der Staat, gegen den das Proletariat kämpft, bereits im eigentlichen Sinne des Wortes ein Staat der Bourgeoisie ist oder nicht, sondern daß er überhaupt ein Klassenstaat ist, das heißt eine Organisation zur Aufrechthaltung des Klassenverhältnisses, und daß er dies auch bleibt, selbst wenn es sich um eine Phase des Gleichgewichtes der Klassenkräfte handelt. Aber freilich, hier lesen wir bei Otto Bauer die merkwürdigen Sätze, daß der Staat in einer solchen Situation aufhört, ein Klassenstaat zu sein, in dem er, im Falle z. B. des Gleichgewichtes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, weder ein Staat der Bourgeoisie noch des Proletariates genannt werden kann. So heißt es in der "Österreichischen Revolution" von dem Staate unmittelbar nach dem Umsturz, in welchem das Proletariat so stark war, daß seine Vertrauensmänner in der Regierung den Staat leiten konnten: "Die Republik war in dieser Phase kein Klassenstaat, das heißt kein Instrument der Herrschaft einer Klasse über die andere Klasse, sondern ein Ergebnis des Kompromisses zwischen den Klassen, ein Resultat des Gleichgewichtes der Klassenkräfte[7]." Und deshalb nennt Otto Bauer diese Form des Staates eine Volksrepublik. Wir haben bereits gesehen, daß er vor der kleinbürgerlichen Illusion gewarnt hat, schon in der bloß demokratischen Staatsform eine solche Volksrepublik verwirklicht zu sehen. "Nicht aus der formalen Rechtsgleichheit der Demokratie," sagt Otto Bauer, "sondern nur aus realer Machtgleichheit der kämpfenden Klassen geht die Volksrepublik hervor[8]." Der Satz, daß der Staat im Stadium des Gleichgewichtes der Klassenkräfte kein Klassenstaat ist, kann also selbstverständlich nur so verstanden werden, daß er nicht der politische Ausdruck und das politische Instrument einer einzigen Klasse ist. Aber dies ändert nichts daran, daß er ökonomisch nach wie vor eine Klassenherrschaft bleibt. Der Klassengegensatz ist ja in erster Linie ein ökonomischer Begriff, und die Klassenbildung im Sinne des Marxismus ist vor allem ein Produkt des ökonomischen Prozesses und der durch ihn bedingten gesellschaftlichen Struktur[9]. Selbstverständlich waren daher auch die absolutistischen Staaten des 17. und 18. Jahrhunderts sowie die der beiden Napoleone, obgleich ihre Regierungsform wesentlich aus dem Gleichgewicht der kämpfenden Klassen hervorgegangen war, Klassenstaaten. Und nicht minder war das auch nach der Darstellung Otto Bauers die österreichische Volksrepublik. Es kann natürlich gar keine Rede davon sein, daß der Klassencharakter des Staates irgendwie auch nur erschüttert ist, solange das kapitalistische Ausbeutungsverhältnis besteht. Solange die Produktion im Dienste der Profiterzeugung und nicht im Dienste des Gemeinschaftsbedarfes steht, so lange bleibt das ganze Leben des Proletariates, auch mitsamt sozialpolitischen Errungenschaften, die es gerade in einem Gleichgewichtszustande der Klassen durchsetzen kann, eben das Leben von Menschen, die, wie es im Kommunistischen Manifest heißt, "nur so lange leben, als sie Arbeit finden, und die nur so lange Arbeit finden, als ihre Arbeit das Kapital vermehrt". Daß daher der Staat im Gleichgewichtszustande der Klassenkräfte weder ein Staat der Bourgeoisie noch des Proletariates ist, womit Bauer vollständig- recht hat, wenn damit nur die politische Herrschaftsform der Klasse gemeint ist, darf natürlich nicht so verstanden werden, daß er in diesem Stadium kein Klassenstaat ist. Wir meinen das nicht etwa bloß deshalb, weil nach wie vor die Rechtsordnung des Staates auf den Grundgedanken des Privateigentums an den Produktionsmitteln und der Institution der bürgerlichen Familie aufgebaut ist; denn so wichtig auch und unerläßlich die Änderung dieser Rechtsgrundlagen für die Aufhebung des Klassencharakters ist, so ist doch die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft nicht eine Sache bloß der rechtlichen Regelung, sondern der Besitznahme der ökonomischen Kräfte der Gesellschaft durch das Proletariat. Gerade diese Verfügung über die ökonomischen Kräfte verbleibt aber auch in der Phase des Gleichgewichtes der Klassenkräfte in den Händen der besitzenden Klassen. Dadurch entsteht ja eben das Gleichgewicht der Klassenkräfte, daß die ökonomische Macht dieser Klassen noch ungebrochen ist. Und so wird gerade hier deutlich, daß die ökonomische Macht zwar am vollendetsten durch die politischen Mittel herrscht, daß dies aber durchaus nicht ihre alleinigen Herrschaftsmittel sind. Und dies ist, nebenbei bemerkt, auch der Grund, warum eine sogenannte Arbeiterregierung, das heißt eine Regierung, die nur aus Sozialdemokraten besteht, selbst wenn sie sich auf eine sozialdemokratische Majorität stützen kann, doch niemals eine sozialistische Regierung sein kann, solange das Proletariat nicht stark genug ist, auch die ökonomische Macht im Staate an sich zu reißen. Daraus entspringt dann die historische Tragik jeder Arbeiterregierung, die durch gewisse innerpolitische Situationen notwendig werden kann, daß auch sie nur eine Verwalterin des bürgerlichen Staates sein kann, freilich mit sehr radikaler Wahrung und Förderung der Arbeiterinteressen, aber doch zugleich berufen, auch die "Staatsnotwendigkeiten" zu vertreten, welche noch Notwendigkeiten des Klassenstaates der Besitzenden, der kapitalistischen Wirtschaftsordnung sind. Wir werden also zwar gewiß uns vor der Verflachung der Marxschen Klassenstaatslehre zu hüten haben, als ob der Staat immer nur die Herrschaftsorganisation der einen oder der anderen Klasse sein kann; wir müssen uns aber ebenso vor der Verflüchtigung dieser Lehre hüten, als ob in den Perioden des politischen Gleichgewichtes der Klassenkräfte die ökonomische und soziale Herrschaft der besitzenden Klassen und damit der Klassencharakter des Staates selbst beseitigt oder auch nur gemildert würde. Und deshalb sollte man den Ausdruck vermeiden, daß der Staat im Zustande des Gleichgewichtes der Klassenkräfte kein Klassenstaat ist. Aber auch der Ausdruck Volksrepublik ist sehr irreführend. Denn er führt die Idee einer Volksgemeinschaft mit sich, also die Vorstellung eines Staates, der die Gesamtheit seiner Mitglieder einheitlich vertritt, kurz, die Idee einer solidarischen Gesellschaft. Das Wort "Volk" gehört, genau so wie das Wort "Staat", "Nation", "Vaterland" usw., zu jenen Allgemeinbegriffen, die zwar für die bürgerliche Ideologie unentbehrlich sind, weil sie ihr helfen, ihre Klasseninteressiertheit mit dem Mantel eines Allgemeininteresses zu umgeben, die aber in der marxistischen Terminologie möglichst vermieden werden sollten. So hat auch z. B. Otto Bauer in seinem grundlegenden Buch über die "Nationalitätenfrage" sehr schön dargelegt, wie der Begriff der Nation im Sinne der bürgerlichen Ideologie als eine schon vorhandene kulturelle Allgemeinheit noch gar nicht existiert, sondern dies erst durch Überwindung des Klassengegensatzes möglich sein wird. Das "Volk" im Staate ist heute entweder bloß ein juristischer Begriff, das Staatsvolk, oder eine politische Tirade in der offiziellen Beredsamkeit der Vertreter und Verteidiger der bürgerlichen Gesellschaft. Vom Standpunkte der Marxschen Staatslehre gibt es, solange der Klassengegensatz die Gesellschaft spaltet, in keinem Staate noch ein Volk, das heißt ein Volk, eine solidarische Lebens- und Kulturgemeinschaft, sondern nur eine Bevölkerung. In diesem Sinne kann man also von einer Volksrepublik überhaupt nicht sprechen. Denn deren Wesen, wie es Otto Bauer beschrieben hat, besteht ja nicht darin, daß sie bereits eine Volksgesamtheit enthält, sondern nur darin ‑ und etwas anderes ist ja auch in der Klassengesellschaft gar nicht möglich ‑, daß alle Klassen Anteil an der Bildung der Staatsmacht haben. Die Idee der Volksgesamtheit bedeutet aber etwas ganz anderes: sie ist nicht das Resultat einer bloßen Summierung von Kräften, also eigentlich, da diese Kräfte sich gegenseitig schwächen, eine bloße Resultierende, sondern im Gegenteil, eine Integration, das heißt eine Ineinssetzung und Verschmelzung zahlloser gleichgerichteter Interessen und Kräfte in eine gewaltige Kollektivkraft, in der jeder einzelne sich vertreten, gefördert und gestärkt sieht. Das ist die große Idee der volontée générale, auf welcher Rousseau, wie wir gesehen haben, allein die Demokratie zu gründen vermochte. Sie allein schafft erst den Begriff eines einheitlichen Volkes, den Begriff einer Staats- und Volksgesamtheit, ‑ sie ist aber auch nichts anderes als ein ideeller Ausdruck für eine in ihren Lebensinteressen solidarische, das heißt klassenlose Gesellschaft. Es gibt freilich auch einen politischen Sprachgebrauch des Wortes Volk, von dem aus der Begriff Volksrepublik weniger anfechtbar ist, wenn man sich erst einmal darüber verständigt hat. Das ist nämlich jener Sinn des Wortes Volk, der etwa dem französischen Worte peuple in dem Sinne entspricht, in welchem dieses Wort in den revolutionären Bewegungen bis zum Jahre 1848 gebraucht wurde. Da der ökonomische Begriff des Proletariates damals noch nicht so klar herausgearbeitet war, wie dies erst durch den Marxismus geschah, so bezeichnet das Wort peuple zwar noch nicht eine Klasse, wohl aber die große Masse des werktätigen Volkes, sowohl der Hand- wie der Kopfarbeiter, sowohl des Proletariates, als des Kleinbürgertums und der freien Berufe, welche im scharfen politischen und sozialen Gegensatz zu den herrschenden Klassen standen. Und da diese Schichten die weitaus überwiegende Majorität der Bevölkerung umfaßten, so sprach man sie als "das Volk" an und bezeichnete ihre Forderung, die Macht an sich zu reißen, als die Forderung der Volksherrschaft. Nicht die Hochfinanz, nicht die Industrieherren, nicht die hohen Militärs und hohen Bureaukraten sollten weiterhin den Staat beherrschen, sondern das "Volk" sollte herrschen. Das war, worauf schon einmal hingewiesen wurde (S. 49), der eigentliche Sinn, den die revolutionären Bewegungen bis zum Jahre 1848 mit der Forderung der Demokratie verbunden haben. Und in diesem Sinne kann man auch von einer Volksrepublik dort sprechen, wo das "Volk", das heißt aber für unsere heutige klassenmäßige Betrachtung hauptsächlich das Proletariat, einen entscheidenden Einfluß auf die staatliche Regierung und Verwaltung nehmen kann. Diese "Volks"-Republik ist dann zwar gewiß keine Republik der Volksgesamtheit, aber sie nimmt diesen Namen nicht ganz ohne Anrecht an, weil sie auf dem Wege zu einer solchen liegt, wenn es ihr gelingt, ihre Errungenschaften festzuhalten. Und so sieht man, daß diese Volksrepublik es gerade nur so weit und um so mehr ist, je mehr sie in den Schichten des "Volkes", das heißt des Proletariates, nicht von dem Geiste einer noch gar nicht existierenden Volksgesamtheit, sondern von dem eines unversöhnlichen proletarischen Klassenkampfes erfüllt ist. Das ist es übrigens auch, was in der Darstellung bei Otto Bauer ebenfalls den eigentümlichen Charakter der österreichischen Volksrepublik ausmacht. "Sie war in Österreich 1919 bis 1922 nicht das Resultat der parlamentarischen Demokratie, sondern gerade umgekehrt das Resultat der funktionellen Demokratie, durch die die parlamentarische Demokratie begrenzt und berichtigt wurde, das Resultat der außerparlamentarischen Macht des Proletariats, die die parlamentarische Mehrheit der Bourgeoisie hinderte, ihre Klassenherrschaft aufzurichten[10]." Die funktionelle Demokratie, von der hier die Rede ist, und auf die wir noch in einem späteren Zusammenhange zurückkommen müssen, das ist die Kontrolle der Staatsregierung durch die Interessenorganisationen der verschiedenen wirtschaftlichen Interessenkreise, vor allem aber des Proletariats. Es bedeutet dies also, daß das Proletariat durch seine Gewerkschaften, Genossenschaften und politischen Organisationen, besonders aber auch dadurch, daß es in der Wehrmacht einen starken organisierten Rückhalt hatte, die Möglichkeit besaß, sein besonderes Klasseninteresse in hohem Maße innerhalb des Staates in nicht demokratischen Formen geltend zu machen. Aus alledem ergibt sich schließlich, daß jener Zustand der "Volksrepublik" in Wirklichkeit nur als ein revolutionärer Zustand möglich ist. Es ist der Zustand nach dem Umsturz, der eigentlich gar nicht mehr ein bloßes Gleichgewicht der Klassenkräfte war, sondern ein starkes Überwiegen des proletarischen Einflusses, vor allem wegen der totalen Einschüchterung der besitzenden Klassen und des völligen Verlustes ihres Selbstvertrauens. So also erscheint uns auch der Begriff der Volksrepublik als ein solcher, den man lieber vermeiden sollte. Er gehört zu jenen Begriffen, die, wie der "Freie Staat", der "Volksstaat", von Marx und Engels energisch abgelehnt wurden, weil sie geeignet sind, das Urteil der breiten Massen über den Klassencharakter des Staates innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu täuschen. Die Volksrepublik im Sinne einer Gesamtherrschaft des Volkes ist, wie wir sahen, innerhalb der Welt des Kapitalismus unmöglich, und die Volksrepublik, die hier allein bestand und bestehen konnte, war das Resultat des revolutionären Vorsturmes des arbeitenden Volkes, war eine Phase, in der das Gleichgewicht der Klassenkräfte für kurze Zeit im Sinne einer Vorherrschaft des Proletariats überwunden war. Und schließlich ist dies das Entscheidende, was das richtig verstandene Wesen des Gleichgewichtszustandes der Klassenkräfte ausmacht, daß er kein Dauerzustand sein kann, sondern eben durch die Kräfte, die sich in Schach halten, beständig nach der einen oder anderen Seite hinübergedrängt wird. So schreibt Otto Bauer: "In der Tat kann ein solcher Gleichgewichtszustand keine Klasse dauernd befriedigen. Jede Klasse strebt über den Zustand des Gleichgewichts der Klassenkräfte hinweg zu einem Zustand, in dem sie herrschen kann, hin[11]." Das heißt: Jeder Gleichgewichtszustand der Klassen hat die Tendenz zur Restauration und führt unbedingt zur Reaktion, wenn in ihm nicht eine tatbereite Tendenz zur Revolution vorhanden ist. Wenn das Gleichgewicht der Klassen daher im Proletariat so verstanden würde, daß es zur Gleichgültigkeit gegenüber dem revolutionären Klassenbewußtsein würde, dann wäre im selben Augenblick auch das Gleichgewicht bereits zum Schaden des Proletariats verloren. Mit allen diesen Ausführungen haben wir nun auch schon jenes zweite im Eingang dieses Kapitels aufgezeigte Mißverständnis widerlegt, als ob das Gleichgewicht der Klassenkräfte eine besondere Funktion, ja sogar die Vollendung der Demokratie wäre. Wir sehen jetzt, daß es mit dieser überhaupt nichts zu schaffen hat, weil es ja geradezu als Korrektur der bloß formalen Demokratie wirksam wird. Die Idee des Klassengleichgewichtes kann der formalen Demokratie keinen neuen Inhalt geben, durch den sie ihre bloß formale Natur verlieren würde. Wohl aber kann sie, richtig verstanden, helfen, die Überschätzung der formalen Demokratie zu überwinden und in den Vordergrund zu rücken, worauf es dem Proletariat eigentlich ankommen muß: den Kampf um die Macht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, also auch mit außerparlamentarischen und außerdemokratischen Mitteln. [Ende des 14. Kapitels] |
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[1]. S. 9‑15 des Buches.
[2]. S. 112‑131 des Buches. Dieses Kapitel ist vollständig wiedergegeben.
[3]. Otto Bauer a. a. O., § 16 und "Der Kampf", Jahrg. 1924, Heft 2.
[4]. Gerade dieses Moment der Spannung der Klassenkräfte ist es, was Otto Bauer in seiner Darstellung überall hervorhebt. Er bezeichnet die Meinung, daß das Gleichgewicht der Klassenkräfte zu einem Zustande jenseits des Klassenkampfes, zu einer Art Versöhnung des ganzen Volkes führen könnte, ausdrücklich als eine kleinbürgerliche Illusion. So heißt es in der Schrift "Die Österreichische Revolution": "Die kleinbürgerliche Illusion glaubt, die Volksrepublik werde dadurch verwirklicht, daß sich das Volk über die Klassengegensätze in seinem Schoß erhebt, die einzelnen Klassen des Volkes dem Kampf gegeneinander entsagen. In Wirklichkeit geht die Volksrepublik gerade aus dem Klassenkampf hervor, dann hervor, wenn das Ergebnis des Klassenkampfes ein Zustand ist, in dem die kämpfenden Klassen einander das Gleichgewicht halten." A. a. O. S. 245.
[5]. "Der Kampf", a. a. O. S. 66. ‑ Es ist also eine sehr falsche Ansicht, die besonders in der deutschen Sozialdemokratie ihre Vertreter hat, daß die Tatsache, wonach bei Gleichgewicht der Klassen jede Partei ihre Ziele nur in der Richtung der Diagonale des Kraftparallelogramms durchsetzen kann, zufolge haben müsse, daß das Proletariat sich auch nicht radikalere politische Ziele stellen dürfe. Die Diagonale ist doch Resultat des Klassenkampfes, nicht ihr Ziel. Darum ist der Gedanke einer sogenannten staatsverantwortlichen Politik ein jedenfalls nicht mehr klassenrevolutionärer Gedanke. Er stellt die Politik des Proletariates auf den Boden des Klassenstaates, statt diesen zu bekämpfen. Und vollends der Grundsatz, daß die Opposition des sozialistischen Proletariates sich von dieser "Staatsverantwortlichkeit" leiten lassen müsse, daß, wie man gesagt hat, der sozialistische Politiker nicht verlangen dürfe, wovon er nicht weiß, daß er es morgen als Mitglied einer Staatsregierung wird ausführen können, gibt den ganzen geschichtlichen Inhalt einer sozialistischen Politik preis. Er verkennt, daß ja nicht jede Regierung, in die Sozialdemokraten innerhalb des Klassenstaates zeitweilig eintreten müssen, eine sozialistische ist. Er macht das, was doch bloß das Ergebnis des Klassengleichgewichtes ist, zu einem Vorsatz und zu einer prinzipiellen Geisteshaltung des Proletariates selbst. Und was ein politisches Kompromiß ist, wird so bereits in den Klassenwillen selbst verlegt. Das muß zur geistigen Abrüstung des Proletariates führen, zu einer psychologischen Umstimmung desselben, die es für seine sozialrevolutionäre Aufgabe gänzlich unfähig machen muß.
[6]. Otto Bauer, "Die Österreichische Revolution", S. 242, und "Der Kampf", a. a. O. S. 63.
[7]. A. a. O. S. 244 und ganz ähnlich im "Kampf" a. a. O. S. 61.
[8]. "Die Österreichische Revolution", S. 245.
[9]. Vgl. hierzu Karl Marx, Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie, in: Neue Zeit, Jg. XXI., I. Bd. und mein Buch "Die Staatsauffassung des Marxismus", Kap. VII.
[10]. Otto Bauer, "Die Österreichische Revolution", S. 245.
[11]. Otto Bauer a. a. O. S. 245 und 246.