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Deutsch > Grunddokumente > |
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Béla Kun Die Februarkämpfe in Österreich und ihre Lehren März 1934 |
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Quelle: Béla Kun[1]: Die Februarkämpfe in Österreich und ihre Lehren; Moskau - Leningrad, Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter in der UdSSR, 1934. |
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Liens complémentaires: |
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Autriche, février 1934 : Un jalon dans la résistance contre le fascisme |
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Erstellt: Juni 2017 |
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1. Kein Ende ‑ sondern ein AnfangDie Arbeiterschaft Österreichs hat sich am 12. Februar 1934 in Waffen erhoben. Zehntausende Proletarier ‑ Männer und Frauen, Alte und Junge, ja sogar Kinder ‑ haben den einzig gerechten Krieg, den Bürgerkrieg der Geknechteten gegen ihre Unterdrücker, gegen den Faschismus, mit grenzenlosem Heldenmut geführt. Fünf Tage dauerten die Gefechte der Aufständischen mit den Streitkräften der faschistischen Konterrevolution. Die herrschende Bourgeoisie hat alle ihre bewaffneten Kräfte gegen die Aufständischen aufgeboten: das Söldnerheer und die Polizeimeute, die Gendarmerie und die faschistischen Banden. Sie hat alle Waffenarten in den Kampf geworfen: Gewehre und Maschinengewehre, Panzerwagen und Flugzeuge, Minenwerfer, Feldkanonen und Haubitzen. Die österreichischen Proletarier haben sich mit einem Heldenmut geschlagen, wie dies nur die Angehörigen einer Klasse imstande sind, der die Zukunft gehört. Die Bourgeoisie in Österreich, ihre faschistischen Banden feiern ihre Blutorgien über dem Schlachtfeld des niedergeschlagenen Aufstandes, wie es nur eine Klasse zu tun pflegt, die ihre letzten Lebenskräfte im wilden faschistischen Terror austobt. Ohne zentrale politische und militärische Führung haben die Arbeiter die opferreichen blutigen Kämpfe geführt Als sie ihre Köpfe aus dem Sumpf der geistigen Knechtschaft der Sozialdemokratie[2] erhoben und gegen die Faschisten zu den Waffen griffen, haben sie einen Weg verlassen und einen anderen Weg beschritten. Der eine Weg, den sie verlassen haben, ist der Weg der Sozialdemokratie gewesen, die ihnen jahrzehntelang versprach, sie auf diesem Wege mit friedlichen Mitteln zum Sozialismus zu führen. Der andere Weg, den sie nun beschritten, war der Weg des bewaffneten Aufstandes, auf dem das Proletariat, geführt von seiner bolschewistischen Partei, auf einem Sechstel des Erdballs ‑ in der Sowjetunion ‑ wirklich zum Sozialismus gelangt ist. Doch wenn wir im Zusammenhang mit den Februarkämpfen in Österreich von Aufstand und von Aufständischen sprechen, so nur in bedingtem Sinne. Die ganze Darlegung der Februarkämpfe, die durch uns gegeben wird, zeigt schon, daß es sich nicht um einen solchen Aufstand handelt, wo die Arbeiterklasse, geführt durch eine revolutionäre Kommunistische Partei, den bewaffneten Kampf unter klaren Parolen der Machtergreifung, mit der klaren Aufgabenstellung der Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmacht und der Aufrichtung der Diktatur des Proletariats vorbereitet und führt. Die heldenhaften Kämpfe des österreichischen Proletariats waren ‑ daran kann kein Heldenmut etwas ändern ‑ nicht nur militärisch, sondern auch politisch ein Ausdruck des defensiven Widerstandes gegen die bürgerliche Gewaltanwendung. Die Arbeiter haben zu den Waffen gegriffen, um etwas abzuwehren. Eine Erhebung der Arbeiterklasse, die ohne Vorbehalt als bewaffneter Aufstand gekennzeichnet werden kann, muß mit klarer Zielsetzung durch eine revolutionäre Arbeiterpartei in den Massen vorbereitet werden. Die österreichische Sozialdemokratie war nicht die Partei des bewaffneten Aufstandes, sie war von vornherein die Partei der Sabotage, des Verrats der bewaffneten Erhebung. Wir benützen also die Ausdrücke Aufstand, Aufständische nur in dem bedingten Sinne, daß die Aktionen der Arbeiter in Österreich die Form von breiten bewaffneten Kämpfen annahmen. Eine der wichtigsten Voraussetzungen des Sieges der Arbeiterklasse wurde und wird in diesen Kämpfen geschaffen. Die geistigen Fesseln, in denen die Sozialdemokratie die übergroße Mehrheit der österreichischen Arbeiter hielt, wurden in der Hitze des Aufstandes gesprengt und zerschlagen. Den neu beschrittenen Weg des revolutionären Kampfes können keinerlei faschistische Banden der Arbeiterklasse dauernd verlegen, die solche Schlachten geliefert hat wie die Schlachten in Wien, Linz, Steyr, Bruck a. d. Mur und in den anderen Herden des glorreichen Aufstandes. Nicht die Arbeiterklasse wurde besiegt. Das Proletariat hat einen großen politischen Sieg über die Sozialdemokratie errungen. Dieser Sieg ist der Anfang des endgültigen Sieges über die Bourgeoisie, weil die Arbeiter Österreichs in diesen Kämpfen mit den Waffen in der Hand nicht nur das große Werk der Änderung der Verhältnisse begonnen haben, sondern auch die Änderung ihrer selbst, die die wichtigste Bedingung für ihre Befähigung zur Erkämpfung der Macht, zur politischen Herrschaft ist. So ist denn der niedergeschlagene Aufstand kein Ende, sondern ein Anfang. 2. Der Weg Österreichs zur revolutionären KriseDer Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat in Österreich war bereits seit dem 15. Juli 1927 [3], seit der Erhebung der Wiener Proletarier zur Verteidigung gegen die Vorstoße des Faschismus, mehr oder weniger ein offener Bürgerkrieg. Seit dieser Zeit haben die Regierungen eine Reihe von Verfassungsänderungen vorgenommen, die den Zweck hatten, den Bürgerkrieg der Bourgeoisie gegen das Proletariat zu legalisieren. Die Bourgeoisie hat eine Maßnahme nach der anderen getroffen, die Waffen dem Besitz der Arbeiter zu entreißen und ihre faschistischen Horden bis zu den Zähnen zu bewaffnen. Gestützt auf die Waffengewalt hat die Bourgeoisie die niedrige Lebenshaltung der Arbeiterklasse noch mehr als früher herabgedrückt. In der Vorgeschichte des Aufstandes werden wir nur auf die Zeit seit dem Wendepunkt, seit dem Staatsstreich von Dollfuß[4] am 7. März 1933, zurückgreifen, der bald nach den Reichstagsbrandwahlen in Deutschland erfolgte. Der Staatsstreich Dollfuß' bedeutete, daß das österreichische Finanzkapital, das die österreichische Republik seit ihrem Bestehen beherrschte, seine uneingeschränkte Herrschaft nunmehr offen aufrichtete, seine Klassendiktatur entblößte. Infolge des Staatsstreiches am 7. März 1933 ist die Macht nicht aus den Händen der einen Klasse in die einer anderen übergegangen. Die Austrofaschisten Dollfuß und Starhemberg[5] haben sich nicht einmal damit gebrüstet, womit sich Hitler und seine nationalfaschistischen Banden ihrer demagogischen Zwecke halber brüsteten, daß sie nämlich eine "nationale Revolution" verwirklicht hätten. Die österreichischen Faschisten haben klipp und klar ausgesprochen, daß sie nur die Schranken niederreißen wollen, die nach ihrer Meinung die ungehemmte Ausübung der Bourgeoisherrschaft, das Brechen des Widerstandes der Arbeiterklasse in der Zeit der schweren Krise hindern könnten. Das Finanzkapital blieb weiter der Herrscher über Österreich, wie es das auch zu der Zeit war, als Karl Renner und Otto Bauer ihre "sozialistische" Regierung am 16. März 1919 [6] bildeten, zur Zeit der "Volksrepublik" der Sozialdemokratie. Das Finanzkapital herrschte in Österreich in der Zeit, die Otto Bauer als "Übergangsperiode zwischen zwei revolutionären Prozessen"[7] bezeichnete, als, nach der Meinung des Austromarxismus[8], in Österreich ein "Gleichgewicht der Klassenkräfte"[9] bestanden haben soll. Das Finanzkapital herrschte in Österreich, als sich die "Volksrepublik" der Sozialdemokratie, nach der sozialdemokratischen Feststellung, in eine Bourgeoisrepublik "verwandelt" haben soll. Die Staatsmacht in Österreich war die Herrschaft des Finanzkapitals, und nicht "die politische Herrschaft der reaktionären Kleinbürgerei", wie dies Otto Bauer den Arbeitern einreden wollte. (Otto Bauer, "Die österreichische Revolution", S. 278.) Die Form der Ausübung dieser Herrschaft änderte sich, insofern die Bourgeoisie statt der Mittel des parlamentarischen Betruges immer mehr und mehr die nackte Gewalt zur Niederhaltung der revolutionären Arbeiterschaft in Anwendung brächte. Das Wesen dieser Staatsmacht aber war im Laufe der ganzen Zeit stets das gleiche ‑ es war die Macht des Finanzkapitals über die Arbeiterklasse. Die Faschisierung Österreichs, die am 7. März 1933 im Staatsstreich von Dollfuß zum Ausdruck kam, war also kein Wechsel der herrschenden Klasse, sondern nur eine jähe Änderung der Herrschaftsmethoden der herrschenden Klasse. Worin drückte sich nun diese Änderung der Herrschaftsmethoden des Finanzkapitals nach diesem Wendepunkt aus und was bezweckte sie? Der Sinn des StaatsstreichesDer Staatsstreich vom 7. März 1933 bedeutete zunächst die Ausschaltung des Parlaments und die Einführung des Systems der Notverordnungen der Exekutivgewalt als der normalen Methode des Regierens über das Land. Zum Unterschied vom deutschen System wurde das Regime durch Notverordnungen nicht auf Grund eines § 48 einer demokratischen Verfassung, wie es die Weimarer Verfassung war, eingeführt[10], sondern auf Grund eines Kriegsermächtigungsgesetzes aus der Zeit der Habsburgermonarchie, das auf die Verhältnisse des Weltkrieges zugeschnitten war[11]. Die österreichische Bourgeoisie rüstete zum offenen Bürgerkrieg, um den Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Ausbau eines kapitalistischen Auswegs aus der Krise zu brechen, den revolutionären Weg zu verhindern ‑ sie führte die Kriegsgesetze rechtzeitig ein. Die Ausschaltung des Parlaments war durch die Bedürfnisse der Bourgeoisie diktiert, eine bewegliche Exekutivgewalt gegen die Arbeiterklasse zustande zu bringen, die durch keine parlamentarischen Zeremonien in ihrem Vorgehen gehemmt werden kann. Die österreichische Bourgeoisie mußte um jeden Preis alle ihre Macht gegen die Arbeiterklasse konzentrieren. Ihre Kräfte waren infolge der Krise stark geschwächt, und nur die äußerste Konzentrierung dieser geschwächten Macht konnte nach der Rechnung der führenden Schichten der Bourgeoisie die Arbeiterklasse unter Anwendung aller Gewaltmittel vom Betreten des revolutionären Weges abhalten. Die Faschisierung in Österreich ging unter besonderen Umständen vor sich. Der Sieg des Faschismus in Deutschland stellte die Gleichschaltung Österreichs mit Hilfe eines Teils der österreichischen Bourgeoisie als brennende Frage auf die Tagesordnung. Ein Teil der Bourgeoisie in Österreich forderte die Gleichschaltung, ein anderer Teil war gegen den Anschluß. Die österreichische Bourgeoisie war gespalten, die Anschlußfrage hat diese Spaltung noch mehr vertieft. Auf diese Spaltung des Lagers der Bourgeoisie in verschiedene Fraktionen stützen sich denn auch die imperialistischen Großmächte, die den Anschluß Österreichs an Deutschland zu verhindern bestrebt waren und bestrebt sind. Dem Prozeß der Faschisierung in Österreich hat also der internationale imperialistische Kampf um das Land einen eigenartigen Charakter verliehen. Die innerhalb der Bourgeoisie zur Herausbildung gelangten zwei Richtungen des Faschismus haben ihr besonderes Gepräge erhalten ‑ die eine als der Nationalsozialismus oder Hitlerfaschismus, die andere als der Austrofaschismus oder Klerikofaschismus. Beide strebten danach, den Staat nach ihrer Art zu faschisieren, wobei der Austrofaschismus die Hegemoniestellung in der faschistischen Bewegung errang. Ihm wurde die Ehre zuteil, die bürgerliche Demokratie in Österreich zu liquidieren. Was waren die Folgen der Faschisierung? Hier sind, in allererster Reihe, die nachstehenden zu nennen: verschärfter Kurs auf den Ausbau des Gewaltapparates der Bourgeoisie und auf den Abbau der sozialpolitischen Leistungen sowie der Arbeitslöhne. In dem Staatshaushaltsvoranschlag der Dollfußregierung für das Jahr 1934 ist eine Ersparnis von 54,2 Millionen Schilling bei den Ausgaben für Sozialversicherung vorgesehen. Gleichzeitig weist dieser Staatshaushaltsvoranschlag nach den Daten des "Österreichischen Volkswirts" u. a. folgende Mehrausgaben auf:
Der Verminderung der Aufwendungen für Sozialversicherung um 54,2 Millionen Schilling steht eine Mehrausgabe für den Gewaltapparat der Bourgeoisie von 16,1 Millionen Schilling gegenüber. Dabei ist zu bemerken, daß der Aufwand für Polizei und Gendarmerie schon in den vergangenen Jahren gründlich erhöht worden ist. Der Lohnindex der Arbeiter ist in Wien nach dem Staatsstreich in der Zeit vom Juni bis zum Oktober 1933 von 108 Punkten auf 88 Punkte gesunken. Die Bourgeoisie hat nach dem Staatsstreich, gestützt auf die Vermehrung der Waffengewalt, die durch die Einbeziehung der faschistischen Heimwehrformationen[12] in die Polizei bewerkstelligt worden war, eine verschärfte politische Verfolgung der Arbeiterklasse begonnen, um die weitere Einschränkung der Bewegungsfreiheit der Arbeiter und ihrer Organisationen zum weiteren Abbau der Löhne, zur weiteren Verschlechterung der Arbeitsbedingungen auszunützen. So setzte eine verschärfte Unterdrückung der kommunistischen Presse ein. Die revolutionären Massenorganisationen der Arbeiter wurden eine nach der anderen verboten. Es erfolgte alsbald das Verbot der revolutionären Partei des österreichischen Proletariats, der Kommunistischen Partei Österreichs. Die bis dahin schon bestehenden Beschränkungen der Versammlungs- und Aufmarschfreiheit der kommunistischen und anderen revolutionären Arbeiter wurden zu einem Versammlungs- und Aufmarschverbot gegen die gesamte Arbeiterklasse erweitert. Die gelben Gewerkschaften ‑ die christlichen und Heimwehrgewerkschaften ‑ wurden durch den Druck des Staatsapparates mit Hilfe von Terrormaßnahmen auf Kosten der Freien Gewerkschaften gefördert. Mitte März werden die Schutzbundformationen[13] in Tirol aufgelöst, die sozialdemokratische und reformistische Gewerkschaftspresse unter Vorzensur gestellt. Am 30. März wird der Schutzbund in allen Bundesländern aufgelöst, kurz darauf gliedert die Regierung die Heimwehrformationen als Hilfspolizei in den Staatsapparat ein. Die Regierung erläßt durch Notverordnung ein Streikverbot. Sie verbietet die Maifeier und mobilisiert die ganze bewaffnete Macht gegen die Arbeiter, die den 1. Mai trotzdem feiern wollen. Darauf folgen schwere Schläge gegen den Achtstundentag und eine Reihe von Notverordnungen, die die Sozialversicherungsleistungen an Betriebsarbeiter und Erwerbslose einschränken. Der Arbeitsdienstzwang wird eingeführt. All dies geschah zum größten Teil in der ersten Hälfte des Jahres 1933. Die österreichische Sozialdemokratie hat unter den Arbeitern stets die Auffassung verbreitet: alle österreichischen Probleme werden durch die ausländischen Mächte entschieden, alles, was in Österreich geschieht, geschieht nur im Auftrage derjenigen imperialistischen Länder, denen gegenüber Österreich sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet. Kein Zweifel, Österreich ist ein abhängiges Land. Alle diese Maßnahmen der österreichischen Bourgeoisie zur Verschärfung der Unterdrückung und Verstärkung der Ausbeutung der österreichischen Arbeiter sind aber von der österreichischen Bourgeoisie selbst in ihrem eigensten Interesse unternommen worden. Die österreichischen Arbeiter, die der Sozialdemokratie Gefolgschaft leisteten, können jetzt Überlegungen darüber anstellen, welchem Zwecke die Verbreitung dieses schicksalsschweren Ohnmachtsgefühls unter den österreichischen Arbeitern diente. Die Zersplitterung der österreichischen Bourgeoisie und ihre UrsachenDie österreichische Bourgeoisie blieb auch nach dem Staatsstreich in hohem Maße zersplittert. Alle ihre Schichten, die einen Einfluß auf den Gang der Ereignisse hatten, waren sich darüber einig, daß man in der gegebenen Lage des Landes parlamentarisch nicht mehr weiter regieren kann. Sie waren einig gegen die Arbeiterklasse, aber jede Fraktion der Bourgeoisie hatte besondere, durch ihre besonderen Gruppeninteressen bestimmte Gruppenziele. Bei der Zersplitterung der Bourgeoisie spielten die besonderen Gruppeninteressen in den Fragen der Außenhandelspolitik, der Steuer- und Kreditpolitik sowie die Frage des Gegensatzes zwischen Stadt und Land die größte Rolle. Alle diese innerpolitischen Gegensätze sammelten sich wie in einem Brennspiegel im Problem des Anschlusses Österreichs an Deutschland. Diese Frage verschärfte sich nach dem Machtantritt Hitlers durch das Aufwerfen des Problems der Revision der Friedensverträge und der Aufrüstung Deutschlands. Die Anschlußfrage wurde zur zentralen Frage der europäischen Politik der führenden imperialistischen Mächte, besonders Deutschlands, Frankreichs und Italiens, wobei England die ganze Zeit einen lavierenden Standpunkt einnahm. Österreich wurde zu einem Knotenpunkt der europäischen imperialistischen Politik; die innerpolitische Zuspitzung in Österreich verflocht sich mit der Verschärfung der europäischen Situation, die ihrerseits zu einer weiteren äußersten Vertiefung der bestehenden Gegensätze innerhalb der österreichischen Bourgeoisie führte. In der Frage des Anschlusses bildeten die innerpolitisch zersplitterten Fraktionen der Bourgeoisie zwei große Lager: die Anhänger des Anschlusses an Hitlerdeutschland (die Nationalsozialisten, die nach verschiedenen Schätzungen über 1/3 der Bourgeoisie aller Schichten beeinflussen) und die Gegner des Anschlusses (Vaterländische Front[14], die die Christlichsoziale Partei und den Heimwehrfaschismus zusammenfaßt). Abseits von den beiden großen faschistischen Parteien nimmt der Landbund keinen klaren Standpunkt zum Anschluß ein. Werfen wir nun einen Blick auf die Klassenbeziehungen und Parteiverhältnisse, auf ihre internationalen Zusammenhänge, die die Ausreifung der revolutionären Krise, den Ausbruch des offenen Bürgerkrieges beschleunigten. Die größte Partei der österreichischen Bourgeoisie, die einen Bestandteil der regierenden Vaterländischen Front bildet, ist die Christlichsoziale Partei. Sie, als die nach der Sozialdemokratischen Partei Österreichs älteste, noch aus der Vorkriegszeit stammende Partei, die seit langem an der Macht steht, verfügte über die ältesten und größten Massenorganisationen unter allen bürgerlichen Parteien. Sie ist die Partei des einheimischen österreichischen Finanzkapitals, der verarbeitenden Großindustrie, derjenigen kapitalistischen Kreise, die in erster Reihe mit dem französisch-englischen Finanzkapital verflochten sind und ihre Märkte in den Donau-Balkanländern haben. Ihr Anhang rekrutiert sich überwiegend aus dem städtischen Kleinbürgertum, aus den Bergbauern in den Alpenländern. Sie besitzt Organisationen in allen Bundesländern. Die Partei hat auch einen kleinen Arbeiterflügel und eigene Gewerkschaften, in denen rückständige Elemente aus der Arbeiterschaft und aus den Reihen der Angestellten organisiert sind. Sie ist "gemäßigt antisemitisch". Die Kapitalistenschichten, die hinter der Christlichsozialen Partei stehen, waren seit jeher gegen den Anschluß an Deutschland. Sie fürchteten die Konkurrenz des reichsdeutschen Kapitals auf dem inneren Markt. Vor ihnen stand das Beispiel der Slowakei, wo das mächtigere tschechische Finanzkapital die ganze Industrie der Slowakei nach der Vereinigung in der Tschechoslowakischen Republik gänzlich stillgelegt hat. Ihre Interessen auf den Märkten der Donau-Balkanländer, besonders Ungarns, bestimmten die Orientierung bedeutender Teile der Christlichsozialen Partei auf die Bildung einer Donauföderation statt des Anschlusses an Deutschland; sie sind Verfechter der Restauration der Habsburgerdynastie. Ihre Politik wurde zu einem großen Teil durch die Interessen der katholischen Kirche bestimmt, und dies führte auch zur Verschärfung ihrer Anschlußgegnerschaft nach Errichtung der Hitlerdiktatur, von der der österreichische Klerus die Beschneidung der Hegemonie der katholischen Kirche befürchtete. Hat doch die Christlichsoziale Partei als Regierungspartei, die für die Krise verantwortlich war, viele ihrer kleinbürgerlichen Anhänger eingebüßt. Der Partner der Christlichsozialen Partei in der Vaterländischen Front, die die Faschisierung Österreichs durchführte, ist die Heimatschutzwehr, kurz die Heimwehr genannt. Der Organisation der Vaterländischen Front hat die Heimwehr den Stempel des offenen und ausgesprochenen Faschismus aufgedrückt. Die Heimwehr, die von Anfang an den Charakter einer halbmilitärischen Formation hatte, steht unter Führung der Reste der feudalen, schwarzgelben Aristokratie. Sie ist unter Führung von Offizieren der alten österreichischen Armee in den Kämpfen gegen Jugoslawien für die Verteidigung der Provinz Kärnten entstanden. Sie hat ihre endgültige Form nach der Spaltung der nationalsozialistischen Bewegung in Österreich gefunden, seit welcher zwischen der Hitlerbewegung und der Heimwehr eine scharfe Fehde besteht, wobei einige nicht unbedeutende Teile der Heimwehr (besonders in Steiermark) stets für ein Zusammengehen mit Hitler eintraten. Die Heimwehr rekrutierte ihre Massenanhängerschaft aus kleinbürgerlichen, besonders aber aus mittel- und großbäuerlichen Elementen, in erster Reihe aus denjenigen, die mit der christlichsozialen Kredit-, Zoll- und Steuerpolitik unzufrieden waren. Ihr Zusammengehen mit den Christlichsozialen läßt sich durch die Verflechtung des Großgrundbesitzes mit dem einheimischen Finanzkapital erklären, wobei aber die unmittelbare Finanzierung der Heimwehr durch Italien ihre Außenpolitik in eine antifranzösische Richtung trieb. Der Grundzug der außenpolitischen Der Grundzug der außenpolitischen Orientierung der Heimwehr ist heute die Anschlußfeindschaft. Diese wird durch die Furcht der Großgrundbesitzer und Großbauern vor der Konkurrenz der deutschen Landwirtschaft bestimmt, eine Furcht, die durch die Konkurrenz zwischen Hitler und Heimwehrführerschaft, besonders Starhemberg, noch mehr verschärft wurde. Wie bei den Chistlichsozialen spielten auch bei der Heimwehr die Bestrebungen nach einer Habsburgerrestauration in der Stellungnahme zum Anschluß eine große Rolle. Ein Anschluß an Deutschland hätte die endgültige Vereitelung der Restauration der Henkerdynastie der Habsburger bedeutet, weshalb denn auch ihre Anschlußfeindschaft noch größer geworden ist. Die verzweifelte Lage der österreichischen kleinen Handwerker, Kleinhändler und Mittelbauern hat viele von ihnen zu den Heimwehren getrieben, dagegen hat die Heimwehr in den Reihen der Arbeiterschaft nur »ehr wenig Anhänger erobern können. Die Christlichsozialen haben sich früher fast ausschließlich auf Frankreich orientiert. Die französischen Pläne zur "Organisierung des Donaubeckens" haben trotzdem mit den Außenhandelsinteressen der österreichischen Bourgeoisie und der auf Eigenbedarfswirtschaft gerichteten Politik der österreichischen Landwirtschaft wenig gerechnet, und dies führte zu einer Abkühlung des französisch-österreichischen Verhältnisses, zu einer Hinwendung der österreichischen Bourgeoisie zu Italien. Trotzdem behielt Frankreich einen bedeutenden Teil seines Einflusses auf die Christlichsozialen. Die außenpolitische Orientierung der Heimwehr ist ausgesprochen italienisch. Beide Richtungen der Vaterländischen Front suchten und suchen bei Italien den Schutz der "österreichischen Unabhängigkeit" gegen die Angriffe Hitlerdeutschlands. Die Vaterländische Front wurde zur Vertreterin des Austrofaschismus, auch Klerikofaschismus genannt. Der Austrofaschismus griff viel weniger zur sozialen Demagogie, als es die nationalsozialistische Bewegung in Deutschland tat. Er griff offen auf das Mittelalter in der Propaganda für die Ständeordnung zurück, er warb bei den Kleinbürgern mit den Traditionen des Innungswesens und bei ihnen wie auch bei den Bauern mit den Erinnerungen an die "gute alte patriarchalische Zeit". Das "Soziale" in ihm ist der "Sozialismus" der päpstlichen Enzyklika und der bischöflichen Hirtenbriefe. Die nicht unbedeutenden, in der letzten Zeit aber zurückgedrängten Organisationen des Landbundes sind Vertreter des Großbauerntums mit einem gewissen kleinbürgerlichen Anhang in einigen Provinzstädten. Sie sind Verfechter der Eigenbedarfswirtschaft Österreichs gegenüber der ausländischen Konkurrenz der Agrarwirtschaft der Nachbarländer. Deswegen sind sie heute ebenfalls gegen den Anschluß. Sie sind auch Verfechter eines österreichischen Ständestaates mit einem gewissen demokratischen Einschlag gegen den Großgrundbesitz und gegen das Bank- und Handelskapital, gegen die Monopole, die die Bauernwirtschaften ausbeuten. Ihre außenpolitische Orientierung ist immer eine schwankende gewesen. Die Nationalsozialistische Arbeiterpartei Österreichs war eine Gauorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei. Nach der Verschärfung der Gegensätze zwischen Deutschland und Österreich hat Hitler unter außenpolitischem. Druck dieser Gauorganisation den Titel einer selbständigen Partei verliehen, doch blieb sie nichts weiter als eine Zweigstelle der deutschen Nationalsozialistischen Partei mit einem Landesvogt Hitlers an der Spitze. Hinter dieser Partei steht jener Teil der Schwerindustrie, der sich in den Händen des deutschen Finanzkapitals befindet und ein Anhängsel der deutschen Schwerindustrie bildet (in erster Reihe die Alpine Montangesellschaft[15]). Die Nationalsozialistische Partei ist besonders seit dem Machtantritt Hitlers zum Anziehungspunkt für die überzähligen österreichischen Intellektuellen, die sich in hoffnungsloser Lage befinden, und für die mit der Christlichsozialen Partei unzufriedenen Handwerker geworden. In ihren Reihen befinden sich viele Staatsbeamte aus den Reihen der früheren Großdeutschen Partei, des ältesten Verfechters der Anschlußidee. In die Reihen der Arbeiterschaft ist die Nationalsozialistische Partei noch bedeutend weniger eingedrungen als die Hitlerpartei in Deutschland. Die Nationalsozialisten sind die Träger des Kampfes für die Gleichschaltung Österreichs mit Deutschland; sie führen eine scharfe Sprache gegen Frankreich, gegen die Länder der Kleinen Entente. Gegenüber Italien und Ungarn nehmen sie natürlich die jeweilige Stellung der deutschen faschistischen Regierung ein. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs ist in der ganzen Nachkriegszeit der Verbündete des mit den französisch-englischen Banken verflochtenen einheimischen Finanzkapitals. Dies zeigt sich am eindeutigsten in ihrer Teilnahme an der Sanierung der verkrachten Österreichischen Kreditanstalt. Die Sozialdemokratie und die Führung der Freien Gewerkschaften sind aber auch noch auf andere Weise mit diesen Kapitalistenkreisen, denen auch das tschechische Finanzkapital angehört, verflochten. Eine Reihe industrieller und kommerzieller Unternehmungen der österreichischen Sozialdemokratie, vereinigt durch die Arbeiterbank, waren nichts anderes als Filialen dieses Finanzkapitals. In der Anschlußfrage spielten die sozialdemokratischen Führer mit verteilten Rollen. Otto Bauer hat sich als Verfechter des Anschlußgedankens aufgespielt, Karl Renner schrieb lange Zeit große Abhandlungen über die Vorteile einer Donauföderation. Nach dem Machtantritt Hitlers trat die Sozialdemokratie mit dem österreichischen einheimischen Finanzkapital zusammen gegen den Anschluß auf. Sie vertrat eine ausgesprochene Orientierung auf das französische Kapital und auf die Tschechoslowakei, was sie einerseits durch Parolen gegen die Habsburgerrestauration, andererseits mit den Parolen des Zusammenschlusses der demokratischen Länder gegen den Faschismus und der internationalen antifaschistischen Solidarität bemäntelte. Dies hinderte die Sozialdemokratie jedoch nicht daran, die Orientierung der Vaterländischen Front auf den italienischen Faschismus als das kleinere Übel im Vergleich zu Hitler zu tolerieren. Aus diesem flüchtigen Bild ist ersichtlich, daß das Märchen der österreichischen Sozialdemokratie, daß alles, was in Österreich geschieht, von dem Willen der österreichischen Bourgeoisie unabhängig sei, nichts anderes war als ein Versuch, die österreichischen Arbeiter vom Kampf gegen ihre eigene Bourgeoisie zurückzuhalten. Österreich als ein abhängiges Land im System des Imperialismus, welches zum Knotenpunkt, zu einer der Achsen der internationalen Politik in Europa wurde, war und ist ein außenpolitisches Problem, aber nicht nur ein außenpolitisches Problem, wie das die österreichische Sozialdemokratie behauptete und auch heute noch behauptet. Aus der Verflechtung der nationalen Probleme Österreichs mit den internationalen folgte nicht, daß die österreichische Arbeiterklasse ohnmächtig war, ihre Lebensfragen im Klassenkampfe gegen die eigene Bourgeoisie zu entscheiden. Die österreichische Sozialdemokratie hat die Verflechtung der inneren und außenpolitischen Probleme des österreichischen Kapitalismus ausgenützt, um den Arbeitern einzureden, daß die Fragen der Arbeiterklasse Österreichs nicht durch« den Klassenkampf im Innern, sondern durch außenpolitische Manöver entschieden werden. Der Hauptfeind war also nach der austromarxistischen Auffassung nicht das österreichische Kapital, sogar nicht die Nationalsozialistische Partei, noch weniger die austrofaschistische Vaterländische Front, die überhaupt als "kleineres Übel"[16] gegenüber den Nationalsozialisten angesehen und toleriert werden sollte. Der Hauptfeind, sagte die Sozialdemokratie, steht im Ausland, das ist Hitler, und da in Österreich ein Teil der Bourgeoisie gegen den Anschluß, gegen die Gleichschaltung Stellung nimmt, müsse man mit diesen austrofaschistischen Gegnern des Hitlerfaschismus zusammengehen, und natürlich mit den demokratischen Ländern, d. h. mit dem französischen und tschechischen Imperialismus. Indessen zeigten die Ereignisse, daß aus der Verflechtung der innen- und außenpolitischen Gegensätze in und um Österreich keineswegs Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit für die Arbeiterklasse, für ihre Klassenkampfaktionen folgte. Die Zuspitzung der außenpolitischen Gegensätze um Österreich bedeutete die Verschärfung der Zersplitterung der bürgerlichen Kräfte in Österreich, und diese Verschärfung der Gegensätze innerhalb des bürgerlichen Lagers ist ein wesentlicher Faktor gewesen, der den Marsch Österreichs auf dem Wege zur revolutionären Krise nach dem Machtantritt Hitlers mit schnellen Schritten vorwärtstrieb. War die Verschärfung der internationalen Lage um Österreich, der Gegensätze zwischen Deutschland und den Ländern, die Gegner des Anschlusses sind (Frankreich, Kleine Entente, Italien usw.), nicht ein wesentlicher Faktor, der die Gegensätze zwischen dem Austrofaschismus und dem Hitlerfaschismus, zwischen den zwei Feinden der Arbeiterklasse äußerst verschärfte? War die Verschärfung dieser internationalen politischen Gegensätze nicht ein wesentlicher Faktor für die Dollfußregierung, der das Verbot der Nationalsozialistischen Partei in Österreich ermöglichte? Aus dem Einfluß der internationalen Politik auf die österreichischen Verhältnisse entstanden nicht nur Schwierigkeiten, sondern gleichzeitig auch größte Möglichkeiten für den revolutionären Klassenkampf der österreichischen Arbeiterklasse. Die Voraussetzung der Überwindung dieser Schwierigkeiten war die Ausnützung dieser Möglichkeiten. Dies konnte nur im revolutionären Klassenkampf geschehen. Den aber wollte die österreichische Sozialdemokratie nicht. Die Arbeiterschaft drängt zur Revolution - die Sozialdemokratie bremstDie Revolutionierung der Arbeiterklasse in Österreich ging nach dem faschistischen Staatsstreich in wachsendem Tempo und Ausmaß vor sich. Die tapfere Kommunistische Partei Österreichs setzte ihre revolutionäre Arbeit trotz aller Verfolgungen der faschistischen Mächte, die mit Tolerierung und Unterstützung der Sozialdemokratie durchgeführt wurden, unerschütterlich fort. Ihr Einfluß erweiterte und vertiefte sich ständig. Am 1. Mai konnten die sozialdemokratischen Führer noch die Arbeiter bei den spanischen Reitern, die die Faschisten um die innere Stadt aufstellten, zurückhalten, aber die Teilstreiks gegen die politischen Terrormaßnahmen der Regierung wurden immer zahlreicher. Der Monat August stellte einen Wendepunkt dar. Der "wilde" Streik bei der Alpine Montangesellschaft zeigte, daß die österreichische Sozialdemokratie und die reformistischen Gewerkschaften nicht mehr in der Lage waren, jeden Widerstand der Arbeiterklasse gegen den Raub der letzten Reste ihrer Bewegungsfreiheit so zu verhindern, wie sie dies am 7. März, am Tage des Staatsstreiches, getan hatten. Die Sozialdemokratische Partei sammelte Unterschriften bei den Arbeitern für die Wiedereröffnung des Parlaments, für die Verteidigung der Verfassung und ‑ verhandelte mit Dollfuß und seinen Anhängern über eine Revision der Verfassung im Sinne der Einführung einer durch allgemeines Wahlrecht gemäßigten Ständeordnung. Sie vertrösteten die österreichischen Arbeiter auf die Hilfe der französischen Sozialdemokraten und Radikalsozialisten sowie der tschechoslowakischen Regierung, an der sich die tschechischen und deutschen Sozialdemokraten beteiligten; sie vertröstete die sich revolutionierenden Arbeiter auf den "Druck", den die Parteien der 2. Internationale durch die bürgerlichen Regierungen ihrer Länder auf Dollfuß im Interesse der österreichischen Demokratie ausüben würden. Den zum Kampfe drängenden Arbeitern hat Otto Bauer im Juli 1933 in seinem Artikel im "Kampf" den Weg in folgender Weise vorgezeichnet: "Die Kräfte der Arbeiterklasse sind durch die Wirtschaftskrise, durch die Arbeitslosigkeit, durch die mächtige gegenrevolutionäre Welle, die sich von Deutschland aus über Mitteleuropa ergießt, geschwächt. In solcher Lage müssen wir die Gegensätze im bürgerlichen Lager ausnützen und der Arbeiterklasse Verbündete im bürgerlichen Lager zu gewinnen suchen." Statt die Gegensätze im bürgerlichen Lager, die die Bourgeoisie schwächen, zum entscheidenden Kampf gegen den vorwärtsmarschierenden Faschismus auszunützen, sollte also die Aufgabe der Arbeiterklasse sein ‑ Bundesgenossen im bürgerlichen Lager zu gewinnen, in dem sich alle Parteien in der Frage der Faschisie- rung nur in bezug auf das Tempo und auf die Wahl des ausländischen Verbündeten unterschieden. Kein Kraftausdruck kann genügend kräftig sein, diese Politik zu kennzeichnen. Das ist einfach die ‑ Realpolitik des Austromarxismus. Der Führer des Austromarxismus, der Haupttheoretiker der 2. Internationale ist aber in der "Verteidigung der Demokratie vor dem Faschismus" noch weiter gegangen. Er wollte, daß die sozialdemokratischen Arbeiter die Nationalsozialisten vor der Verfolgung seitens der Dollfußregierung in ihren Schutz nehmen sollen. Er machte in demselben Artikel Vorwürfe den "opportunistischen Demokraten", die das Verbot der Nazis nicht als einen Angriff auf die Demokratie betrachten wollten, indem er schrieb: "Ein opportunistischer Demokratismus aber, der über die Verletzung demokratischer Freiheitsrechte sehr entrüstet ist, wenn sie sich gegen uns richtet, aber derselben Verletzung demokratischer Freiheitsrechte applaudiert, wenn isie unsere Gegner trifft, wird niemals starke moralische Kräfte gegen die Diktatur (Diktatur welcher Klasse ?‑ B. K.) mobilisieren können. Nur ein gesinnungstreues Beharren auf demokratischen Grundsätzen, das auch zum Zwecke des Kampfes gegen unsere Feinde die Freiheitsrechte nicht leichten Herzens preisgibt, ein festes Beharren auf dem Recht, das den Rechtsbruch bekämpft, auch wenn er unsere Feinde trifft, wird weit über die Reihen der Arbeiterklasse hinaus Mitkämpfer für die Freiheit, Mitkämpfer für das bedrohte Recht zu werben vermögen." Als die Kommunistische Partei Österreichs durch Verletzung der demokratischen Verfassung von dem sozialdemokratischen Bürgermeister Seitz der Demonstrationsfreiheit beraubt wurde, als Schober ‑ 1919 der Polizeipräsident der sozialdemokratischen Regierung, 1927 der Bluthund vom 15. Juli und 1929 der durch die Sozialdemokratie unterstützte Bundeskanzler ‑ die Kommunisten blutig verfolgte, als die Dollfußregierung die Kommunistische Partei und kurz darauf die "Rote Fahne" verbot, da hat Otto Bauer seine Stimme nicht zu einem solchen Hohelied auf die Demokratie erhoben und nicht den "moralischen Mut" zur Verteidigung der Demokratie gegen den Rechts- und Verfassungsbruch aufgebracht. Er tat das erst, als es sich um die Verletzung der "demokratischen Freiheitsrechte" der österreichischen Filiale der Hitlerfaschisten handelte. Die Arbeiter revoltierten, sie drängten zum Kampf. Eine Lohnbewegung folgte der anderen, bis zum Streik sind sie selten gekommen. Die Gewerkschaftsführungen haben sie erwürgt. Die sozialdemokratische Parteiführung hat seit dem Staatsstreich jeden begonnenen ernsten Kampfschritt der Arbeiterschaft mit der Parole erwürgt: "Immer initiativ bleiben, immer sich rühren, immer zeigen, daß die Sozialdemokratische Partei da ist." Die Führer waren wirklich immer da, als es sich um die Abwürgung der Aktionen der revolutionären Arbeiterschaft handelte, ebenso als es galt, "Bundesgenossen im bürgerlichen Lager" zu suchen. Vier Punkte, die die österreichische Bourgeoisie nicht einschüchtertenDie oppositionellen Stimmungen der Arbeiterschaft gegen die Führung der Sozialdemokratischen Partei und der Freien Gewerkschaften verdichteten sich. Die oppositionellen Arbeiter haben im Gegensatz zu den "oppositionellen" Führern innerhalb der Sozialdemokratie enge Verbindung mit den Kommunisten gesucht. Der Einfluß der Kommunistischen Partei auf die oppositionellen Arbeiter in der Sozialdemokratie erweiterte sich. In der Zeit des Streiks bei der Alpine Montangesellschaft war die Stimmung der Arbeiter in ganz Österreich sehr erregt. Die Notverordnungen der Dollfußregierung haben diese Erregung Schritt für Schritt gesteigert. Die Erfahrungen des Hitlerterrors wirkten sich in der österreichischen Arbeiterklasse aus. Wird uns das Schicksal der deutschen Sozialdemokratie ereilen? ‑ diese Frage quälte die Mitgliedermassen der Sozialdemokratischen Partei. Auch kleinbürgerliche und kleinbäuerliche Massen empörten sich gegen die frechen Vorstöße der Hitlerregierung und die fortwährenden geheimen Verhandlungen der Heimwehr und der Umgebung von Dollfuß mit den Nationalsozialisten. Diese Verhandlungen riefen unter ihnen große Schwankungen gegenüber der Politik der Austrofaschisten hervor. Ein entschiedener Angriff auf die Bourgeoisie hätte diese kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Elemente, die ins Schwanken gerieten, von der Vaterländischen Front losreißen und mit der Arbeiterklasse in den Kampf führen können. Ein Beweis für die erregte Stimmung, für den Kampfwillen breitester Volksschichten in Österreich war die Einberufung der Konferenz der Vorstände der Freien Gewerkschaften im September 1933. Unter dem Druck dieser Volksstimmung haben die Gewerkschaftsführer für den Fall weiterer Vorstöße des Faschismus den Generalstreik in Aussicht stellen müssen. Auf dieser Konferenz haben sie den "Kriegsfall" mit dem Faschismus in vier Punkten festgelegt[17]. Diese vier Punkte setzten die Vorbedingung der Ausrufung eines Generalstreiks fest. Diese vier Punkte wurden auch von dem außerordentlichen Parteitag der SPÖ im Oktober 1933[18], der gleichfalls unter Massendruck einberufen wurde, zum Beschluß erhoben. Nach diesen Punkten soll die österreichische Arbeiterschaft sich "bereithalten", in den Generalstreik zu treten: "1. wenn die Regierung die Wiener Gemeindeverwaltung auflöst oder einen Regierungskommissar einsetzt; 2. wenn die Bundesregierung die Sozialdemokratische Partei auflöst oder ihre Tätigkeit verbietet; 3. wenn die Bundesregierung die Gewerkschaften auflöst oder sie in irgendeiner Weise gleichschaltet; 4. wenn die Bundesregierung eine neue Verfassung auf verfassungswidrigem Wege einführt." Die sozialdemokratische Parteiführung hat nicht verhehlt, daß ein Generalstreik in einen bewaffneten Aufstand umschlagen muß. In der illegalen Wochenschrift der österreichischen Sozialdemokratie "Ruf der Wahrheit" vom 19. Januar 1934 [19] hieß es, daß "[...] der Generalstreik aber unter den jetzigen Verhältnissen unvermeidlich zur Entscheidung des Streites durch die Waffen, zum Bürgerkrieg führen muß." (Da wir diese Nummer nicht zu Gesicht bekamen, mußten wir das Zitat aus dem Organ der russischen Menschewiki, dem in Paris erscheinenden "Sozialistischen Boten" Nr. 2 vom 24. Januar 1934 rückübersetzen.) Diese Einsicht der sozialdemokratischen Führer war eben einer der Hauptgründe, warum sie den Generalstreik nicht wollten. Die österreichische Sozialdemokratie wußte ‑ und darin hat sie recht gehabt ‑, daß der Generalstreik unter den gegebenen Verhältnissen unbedingt in einen bewaffneten Aufstand, in einen Bürgerkrieg umschlagen muß. Die Situation war eben die, daß der Kampf gegen den Faschismus überhaupt nur mit den letzten revolutionären Mitteln geführt werden konnte, ‑ die Zuspitzung der revolutionären Krise war da. Revolutionär aber wollte die Sozialdemokratische Partei nicht kämpfen. Sie wollte den Kampf gegen den Faschismus lieber aufgeben, als revolutionäre Mittel gegen ihn anwenden. Als "der Kriegsfall" eingetreten war, haben die Gewerkschaftsführer den Generalstreik nicht erklärt und den Aufruf der Kommunistischen Partei zum Generalstreik mit Gegenmaßnahmen beantwortet. Als der politische Massenstreik trotzdem ausgebrochen war, hat die Sozialdemokratie die vier Punkte vergessen und nicht zu den Waffen aufgerufen. Die Sozialdemokratie blieb auf dem Verfassungswege, als es in Österreich keine Verfassung mehr gab. Aber Waffen hatte sie reichlich in ihrem Besitz und der Kampfwille der Arbeiter drängte zu den Waffen. Die vier Punkte, deren Annahme der Vormarsch der revolutionären Krise erzwang, waren nicht die Vorbereitung zum Barrikadenbau im proletarischen Aufstand, sie waren Barrikaden zum Schutze der zum Faschismus schreitenden Bourgeoisie vor dem zum Kampf stürmenden revolutionären Proletariat. Die vier Punkte waren der beste Vorwand dafür, die Vorbereitung des Generalstreiks und des unvermeidlichen bewaffneten Aufstandes zu hintertreiben. Die revolutionäre Krise drängt zur EntscheidungKurz nach der Jahreswende ging eine weitere Verschärfung der revolutionären Krise vor sich. Die Gewalt des Faschismus war in Österreich bereits das einzige Recht. Diesem Recht konnte die Arbeiterklasse nur ihr einziges Recht ‑ das Recht auf die Revolution entgegenstellen. Die Faschisten befanden sich buchstäblich im Aufmarsch zum Bürgerkrieg, sie waren nur noch nicht sicher, wie sich die Arbeiter verhalten werden. Sie tasteten die Front der Arbeiterklasse ab, um zu wissen, wie die sozialdemokratisch organisierten Proleten auf die Vollendung des Faschisierungswerkes reagieren werden. Deshalb folgte Provokation auf Provokation seitens der Organe der Staatsmacht, die vom Vizekanzler Fey[20] kommandiert wurden. Die sozialdemokratische Parteiführung hatte in dieser Zeit, als die breiteste Massenstimmung in der Arbeiterklasse die Aufnahme des Kampfes forderte, eine einzige Sorge ‑ einen "Putsch" zu verhindern. In der illegalen Wochenschrift der SPÖ, die am 8. Januar 1934 unter dem Namen "Der Ruf" erschien (wir rückübersetzten aus der oben angeführten Nummer des "Sozialistischen Boten"), lesen wir über die Sorgen der sozialdemokratischen Parteiführung folgendes: "Der Kampf, durch ein Signal von oben begonnen, würde ein Putsch sein. Er kann nicht erfolgreich sein. Der unaufhaltbare Ausbruch des Volkshasses, das ist die Revolution. Revolutionen dürfen nicht von oben gemacht werden. Sie werden von selbst Wirklichkeit, wenn ihre Zeit gekommen ist. Siegen kann nicht ein Putsch, sondern nur eine Revolution." Die Sozialdemokratie hat in der Zeit der vorwärtsstürmenden Ereignisse der revolutionären Krise wirklich nichts unternommen, um die Revolution zu organisieren. Sie hat aber "von oben" alles aufgeboten, um den Ausbruch des Volkshasses, der schon zur Siedehitze gestiegen war, doch noch aufzuhalten. Von einem Putsch konnte keine Rede sein. Es gab auch keine Verschwörung zu einem Putsch, es gab nur eine Verschwörung gegen die Revolution. Ein Aufstand gegen den Faschismus konnte sich auf die fortgeschrittenste Klasse, auf die Erhebung des ganzen Proletariats gegen den Faschismus stützen, nur die umfassende politisch-organisatorische Vorbereitung war dazu nötig. Nicht nur in einigen Schichten der Arbeiterklasse, nicht nur in der Arbeiterklasse selbst war eine revolutionäre Stimmung ‑ ein revolutionärer Aufschwung des Volkes gegen den Faschismus drückte sich in der Sympathie und Solidarität der breitesten Massen des Volkes für den Aufstand aus. Die Schwankungen in den Reihen der Bourgeoisie, das wüste Durcheinander im bürgerlichen Lager kamen einerseits in den Geheimverhandlungen des Führers der niederösterreichischen Heimwehren Graf Alberti mit den "Feinden" der "Vaterländischen Front", den nationalsozialistischen Führern, zum Ausdruck, andererseits aber auch in den Gegensätzen zwischen Heimwehr und Christlichsozialer Partei. Knapp vor dem Aufstand mußten Heimwehrführer Heimwehrführer verhaften lassen. Die Sozialdemokratie schrieb gegen eine Verschwörung zu einem Putsch, um eine Verschwörung mit Dollfuß gegen die Entscheidung, zu der die revolutionäre Krise drängte, zustande zu bringen. Die Sozialdemokratie schrieb, daß die Revolution der unaufhaltbare Ausbruch des Volkshasses ist, und hat alles aufgeboten, um den Ausbruch des Volkshasses aufzuhalten. Sie appellierte nicht an die Kraft der Arbeiterklasse, des werktätigen Volkes gegen den Faschismus, sie tat so, als ob sie die bewaffnete Kraft des Schutzbundes gegen den neuen Staatsstreich bereit hielte, um auf dem Wege einer Verschwörung mit Dollfuß ein Kompromiß mit den Austrofaschisten erreichen zu können. Aber auch das erwies sich als unmöglich. Am 30. Januar leitet die Regierung die entscheidenden Schritte zum Staatsstreich ein. Der Habsburgermajor und Heimwehrführer Feg nimmt die Macht in seine Hände. Unter dem Vorwand der Abwehr eines Naziputsches werden in Tirol die Heimwehren mobilisiert. Gleichzeitig erscheint eine Verordnung der Regierung, die einer Reihe von Gemeinden die Polizeifunktionen entzieht. Schon früher wurden Sicherheitskommissare in allen Landesverwaltungen eingesetzt. Die "Arbeiterzeitung" stellt sich auf den Standpunkt, daß die Austrofaschisten wirklich diese Maßnahmen gegen die Nationalsozialisten ergreifen. Sie schreibt am 31. Januar: "Die große Mehrheit des österreichischen Volkes wünscht unzweifelhaft die Abwehr des nationalsozialistischen Angriffes [...] Uns dünkt, daß der Kampf gegen den Naziterror in völlig verfassungsmäßiger Weise wirksamer und rechtlich gesicherter zu führen wäre." Am 31. Januar ‑ kein Arbeiter"putsch", sondern Mobilisierung der Heimwehr in Tirol. Die Forderungen der Heimwehr sind nicht gegen die Nationalsozialisten gerichtet. Sie fordern die Auflösung der Sozialdemokratischen! Partei in Tirol, die Selbstauflösung der Christlichsozialen Partei und die Ersetzung der Tiroler Landesregierung durch ein diktatorisches Komitee aus Vertretern der Heimwehr und der monarchistischen Ostmärkischen Sturmscharen. Die "Arbeiterzeitung" unterschlägt die Bedeutung der Heimwehraktionen. Sie spricht noch am 2. Februar von einer "eigenartigen Doppelstellung der Heimwehr". Am 3. Februar berichtet die "Arbeiterzeitung": "Die Lage in Tirol noch ungeklärt." Am 4. Februar schreibt sie wieder: "Die Lage bleibt einstweilen weiter ungeklärt." Am 7. Februar berichtet die "Arbeiterzeitung", daß die Tiroler Forderungen der Heimwehr auch in Oberösterreich erhoben wurden, und beschäftigt sich mit der Frage des allgemeinen Wahlrechtes als Grundlage der Verfassung. Am 8. Februar berichtet die "Arbeiterzeitung" über polizeiliche Haussuchung nach Waffen in dem sozialdemokratischen Parteihaus in Wien. Am 11. Februar bringt die "Arbeiterzeitung" einen Leitartikel unter dem Titel: "Tage der Entscheidung". Sie schreibt über die Vorbereitung des unmittelbaren Überganges zum Ständestaat, dessen Verfassung ‑ nach dem Ausdruck des Verfassungsministers Dr. Ender ‑ "autoritär, ja fast diktatorisch" sein wird. Die "Arbeiterzeitung" berichtet über die Verfügung des Vizekanzlers Fey, wonach dem Bürgermeister von Wien alle Rechte auf dem Gebiete des öffentlichen Sicherheitsdienstes abgenommen und auf den Polizeipräsidenten übertragen werden. Sie stellt fest, "daß wir die Tage der allerwichtigsten Entscheidung erleben". "Tage", schrieb die "Arbeiterzeitung", und am nächsten Tage beginnt der bewaffnete Überfall von Polizei und Heimwehr in Linz auf das Parteihaus. Diese ganze Vorgeschichte des Aufstandes haben wir ausschließlich auf Grund von sozialdemokratischen Quellen zusammengestellt. Es fehlt in dieser Zusammenstellung die parlamentarische Seite des Geschehens ‑ aber ein Parlament gab es schon nicht mehr, in dem die sozialdemokratischen Führer Protest erheben konnten. Nur die Straße war da. Nur die Massen waren da. Und nur die Waffen waren da. Vielleicht ‑ wird jemand sagen ‑ konnte die sozialdemokratische Parteileitung nicht alles schreiben, was sie gewollt hätte? Vielleicht hat sie das gerade Gegenteil dessen gemacht, was sie in der "Arbeiterzeitung" schreiben ließ? Sie ließ über Verfassungsfragen, über Nachgiebigkeit, über defensives Verhalten der Arbeiterklasse schreiben, in Wirklichkeit aber hat sie vielleicht alles vorbereitet, um einen entscheidenden Angriff auf den Faschismus vorzubereiten? Es wäre durchaus erlaubt gewesen, alles zu unternehmen, um den Klassenfeind irrezuführen, alles aufzubieten, um die Taktik nicht zu verraten, um die Mobilisierung der Massen nicht behindern zu lassen. Aber die Worte und die Taten der Austromarxisten ‑ ein seltener Fall ‑ deckten sich diesmal. Hören wir, was die Sozialdemokratie in den letzten Stunden vor dem Aufstand, in der Hitze der revolutionären Krise und auch noch nach dem Ausbruch des Aufstandes getan hat, hören wir die maßgebendsten Zeugen: Otto Bauer und Julius Deutsch. Otto Bauer erklärte nach seiner Ankunft in der Tschechoslowakei dem Vertreter der Korrespondenz "Südost": "Wir haben alle nur möglichen Schritte unternommen, um mit Dollfuß ein Kompromiß zustande zu bringen. Ja, mehr als das. Wir haben zu verstehen gegeben, daß wir unter bestimmten Bedingungen bereit sind, für die Ausstattung der Regierung mit außerordentlichen Vollmachten für eine Frist von 2 Jahren zu stimmen. Doch wurden unsere Vorschläge vom Kanzler Dollfuß abgelehnt. Er erklärte, keine Verhandlungen mit den Sozialisten zu wünschen." Als die Austromarxisten sich sehr radikal gebärdeten, haben sie zur Beruhigung der Arbeiter zu erklären gewagt, daß sie die Berechtigung einer Diktatur des Proletariats ‑ natürlich ohne Sowjetmacht ‑ als Übergangsstadium "von der Demokratie zur Demokratie", im Falle eines Angriffes der Bourgeoisie auf diese Demokratie, für einige Monate anerkennen könnten, und das nur im äußersten Notfall, wenn die Bourgeoisie Gewalt gegen die Arbeiterklasse anwendet. Der faschistischen Diktatur gegenüber sind sie liberaler gewesen ‑ eine faschistische Diktatur wollten sie gleich für zwei Jahre als berechtigt anerkennen. In seiner Erklärung sprach Otto Bauer auch davon, daß die Parteiführung der Sozialdemokratie selbst am 12. Februar, als der Aufstand in Linz schon im Gange war, als die Arbeiter in Wien bereits in den Streik traten, noch nicht über die Ausrufung des allgemeinen Streiks entschieden hatten und daß sie selbst im letzten Moment zwei Mittelsmänner (zwei christlichsoziale Politiker) zur Regierung schickte, denen sie auftrug, "Mittel zur Beruhigung der Arbeiterklasse zu finden". Doch "auch dieser Schritt war vergebens". "Wir treiben keine Prestigepolitik" ‑ sagte Otto Bauer sofort nach dem Staatsstreich vom 7. März 1933, als er über die Zurückweisung der sozialdemokratischen Koalitionsangebote durch die Christlichsozialen vor den Wiener Vertrauensmännern berichtete. In der Zeit, als die Arbeiter schon zu den Waffen griffen, konnte er wieder nichts anderes tun als seine Politik fortsetzen ‑ den Versuch, das Betteln bei der Bourgeoisie zur Politik der Arbeiterklasse zu erheben. Der Schutzbundführer Julius Deutsch machte gleichfalls in der Tschechoslowakei demselben Korrespondenten von "Südost" die Mitteilung: "Als in Linz der Kampf bereits begonnen hatte, versuchten die Sozialisten in Wien die Ruhe noch aufrechtzuerhalten." Das wollte freilich auch die Heimwehr, auch die Polizei, auch das Bundesheer, auch Kanzler Dollfuß, auch Vizekanzler Fey; das wollten die Banken, die Fabrikanten, die Großkaufleute und die Hotelbesitzer ebenfalls. Sie alle zusammen mit Julius Deutsch wollten in Wien ihre Ruhe haben. Dazu dienten die Terrormaßnahmen der Faschisten und dazu diente das Streben Julius Deutsch': zu verhindern, daß die Arbeiter zu den Waffen greifen. Sie alle taten alles für die Aufrechterhaltung der Ruhe. Die Faschisten setzten ihre bewaffneten Kräfte gegen die Arbeiterklasse ein, während Julius Deutsch und Otto Bauer zwei Christlichsoziale als Mittelsmänner einsetzten. Es kam anders, als Otto Bauer und Julius Deutsch und die anderen sozialdemokratischen Führer es gewollt haben. Nicht nur die konterrevolutionären Kräfte marschierten auf, auch die sozialdemokratischen Arbeiter in und außerhalb des Schutzbundes haben zusammen mit den Kommunisten zu den Waffen gegriffen. Die sozialdemokratischen Partei-, Gewerkschafts- und Schutzbundführungen konnten die Auswirkungen der revolutionären Krise nicht aufhalten. Der Februaraufstand der österreichischen Arbeiterschaft begann. Die zwei Fronten entfalteten sich gegeneinander ‑ die Front der austrofaschistischen Konterrevolution und die Front des bewaffneten Aufstandes der österreichischen Arbeiterschaft. 3. Die bewaffneten Kräfte der zwei FrontenDie Anzahl und das Verhältnis der Kräfte sowohl der Front der Konterrevolution als auch der des revolutionären Aufstandes waren nicht nur für die Parteiführungen kein Geheimnis, sie waren auch den breiten Massen genau bekannt. Die Reserven des Aufstandes sind schwerer abzuschätzen, da sie viel dehnbarer und in ihrer Entfaltung schwerer zu übersehen sind als die Reserven der Konterrevolution, sie sind aber jedenfalls viel größer gewesen als die des Faschismus. Die bewaffneten Kräfte der KonterrevolutionDie Konterrevolution verfügte über folgende Arten bewaffneter Kräfte: a) die reguläre Armee, b) die Hilfsarmee, c) geheim bewaffnete Formationen, die nach dem Staatsstreich vom März 1933 zum großen Teil "legalisiert" wurden. a) Die reguläre Armee. Das Bundesheer ist laut Vertrag von Saint Germain eine Söldnerarmee, die durch Freiwillige ergänzt wird; ihr Stand war auf 30.000 Mann begrenzt, bestehend aus 1.500 Offizieren, 2.000 Unteroffizieren und 26.500 Soldaten; diese Zahl wurde früher nicht erreicht. Nach dem Machtantritt Hitlers in Deutschland und den verstärkten Bestrebungen der deutschen Faschisten zur Gleichschaltung Österreichs haben Frankreich und die anderen interessierten Großmächte Dollfuß gestattet, den Präsenzstand der Armee zur Verteidigung der Unabhängigkeit Österreichs zu erhöhen. In die Armee wurden bis zum Beginn des Aufstandes ‑ soweit bekannt ‑ ungefähr soviel neue Söldner geworben, daß der Präsenzstand des Bundesheeres in dieser Zeit auf 35.000 Mann geschätzt werden kann. Die Armee besteht aus sechs Brigaden, von denen zwei in Wien stationiert sind. Die sechs Brigaden sind aus 12 Regimentern Infanterie (32 Bataillonen und 4 selbständigen Bataillonen), 6 Fahrradbataillonen, 6 Kavallerieeskadronen, 6 Artilleriedivisionen, 3 selbständigen Artillerieabteilungen (die Artillerie teilweise motorisiert), 6 Sappeurbataillonen, 6 Telephon- und Telegraphenkompanien und 6 Automobilkompanien zusammengesetzt. Die Bewaffnung des Bundesheeres wurde durch die Verfügung des Saint Germainer Vertrages begrenzt, dieser Vertrag hat der Republik Österreich keine Tanks, keine Luftfahrzeuge, keine schwere Artillerie und keine chemischen Kriegsmittel zugebilligt. Das, Bundesheer wurde von der Sozialdemokratie noch vor wenigen Jahren als die demokratischste Armee der Welt geschildert und war der Stolz aller sozialdemokratischen Militärpolitiker. Nach dem feigen Verrat der Sozialdemokratie während des Juliaufstandes 1927 in Wien haben die Christlichsozialen die Leitung des Bundesheeres vollkommen an sich gerissen und die Sozialdemokraten Schritt für Schritt aus ihren Positionen in der Armee verdrängt. In der Körperschaft der Vertrauensmänner der Armee war der sozialdemokratische Militärverband im Jahre 1926 mit 218 Mandaten, der christlichsoziale Wehrbund mit nur 35 Mandaten vertreten. Im Jahre 1927 nach dem Juliverrat ist die Zahl der sozialdemokratischen Mandate auf 118 zurückgegangen, die Zahl der christlichsozialen Mandate auf 214 gestiegen. Im Jahre 1929, als das Bundesheer von den Sozialdemokraten gereinigt wurde und die Regierung die Rechte der Vertrauensmänner vollständig zunichte machte, betrug die Zahl der sozialdemokratischen Mandate nur mehr 23, die der Christlichsozialen aber 250. In der Offizierskörperschaft sind fast überhaupt keine Sozialdemokraten geblieben, dagegen gibt es unter den Offizieren sehr viele Hitleranhänger. Dies waren die Erfolge der sozialdemokratischen Realpolitik auf militärpolitischem Gebiete. b) Die Hilfsarmee, bestehend aus Polizei, Gendarmerie und Grenzschutzwache. Die Polizei umfaßte 17.500 Mann, sie ist besser bewaffnet als das Bundesheer. Sie hat Panzerwagen, verfügt über Polizeiluftfahrzeuge und chemische Kampfmittel. Die Mannschaft ist mit Gewehren bewaffnet und reichlich mit Maschinengewehren ausgerüstet. Die Gendarmerie besteht aus 5.500 Mann und ist mit Karabinern, Bajonetten und Säbeln bewaffnet, mit Maschinengewehren ausgerüstet. Jeder Gendarm besitzt entweder ein Fahrrad oder ein Motorrad. Die Grenzschutzwache, ungefähr 9.000 Mann, ist ebenso bewaffnet wie die Gendarmerie. Alle diese militärischen Formationen waren früher in den Händen der Sozialdemokratie, waren in ihrer übergroßen Mehrheit freigewerkschaftlich organisiert. Nach dem Jahre 1927 sind sie den Händen der sozialdemokratischen Führung entglitten. c) Die faschistischen Bürgerkriegsformationen der Konterrevolution. Die Heimatschutzwehr (kurz als Heimwehr bekannt) soll nach verschiedenen Schätzungen aus 100‑150.000 Mitgliedern bestehen. Die Tiroler Heimwehrorganisation umfaßt 25‑27.000 Mann. In Kärnten zählt die Heimwehr 25‑30.000 Mann, in Steiermark 30.000 Mitglieder. Nur ein Teil dieser Organisationen kann als bewaffnete Formation angesprochen werden. Die Bewaffnung besteht aus Infanteriegewehren, leichten und schweren Maschinengewehren und Feldkanonen. Die Ausbildung der Heimwehrmitglieder wurde von aktiven und Reserveoffizieren des Bundesheeres durchgeführt. Die Ostmärkischen Sturmscharen sind eine verhältnismäßig junge und unorganisierte Formation, die "persönliche Armee" des Kanzlers Dollfuß. Über ihre Zahl sind keine verläßlichen Angaben vorhanden. Sie sollen aber nicht nur nicht sehr zahlreich, sondern auch militärisch unausgebildet sein. Der Bund österreichischer Offiziere besteht angeblich aus mehr als 10.000 Mitgliedern, darunter ungefähr 1.500‑2.000 aktiven Offizieren. Er soll bis zum Aufstand nicht militärisch bewaffnet gewesen sein. Die Nationalsozialistische Österreichische Arbeiterpartei, die Filiale der Hitlerpartei, soll vor ihrer Auflösung einige zehntausend bewaffnete Mitglieder gehabt haben. Ihre Waffen konnte die Dollfußregierung nicht beschlagnahmen; was von ihren Waffenbeständen in die Hände der Polizei fiel, wurde aus Deutschland reichlich ergänzt. Die nationalsozialistischen Formationen haben in ihren Reihen viele aktive Offiziere und Polizeibeamte, die zum Teil aus der Armee und Polizei entfernt wurden und jetzt den Kaderbestand der nationalsozialistischen Kommandeure bilden. Die bewaffneten Kräfte des AufstandesDer Republikanische Schutzbund war eine sozialdemokratische Organisation zur Verteidigung der bürgerlichen Republik. Für welche Zwecke die sozialdemokratische Parteiführung diese Organisation gründete, zeigt der Umstand, daß die Kommunisten aus ihren Reihen ausgeschlossen wurden. Vor dem Beginn des Aufstandes war der Schutzbund schon verboten, er führte aber seine Existenz halblegal als Ordnerorganisation der SPÖ weiter. In den Schutzbund wurden nach den Statuten Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei aufgenommen, die mindestens zwei Jahre Mitglied der Partei waren und das 20. Lebensjahr erreicht hatten. Der Mitgliederbestand des Schutzbundes hat vor der Auflösung angeblich die Zahl von 100.000 erreicht; aus verschiedenen Angaben kann man annehmen, daß unmittelbar vor dem Aufstand die Zahl der Mitglieder ungefähr 80.000 betragen hat. Die Bewaffnung des Schutzbundes bestand aus Revolvern und Infanteriegewehren, Maschinenpistolen und Handgranaten. Der Schutzbund hat große Waffenlager besessen, die von der Polizei teilweise ausgehoben wurden. In den Waffenlagern hat der Schutzbund außer Infanteriegewehren und Revolvern viele Maschinengewehre, Hand- und Gewehrgranaten, und, laut Mitteilungen, auch einige Kanonen besessen; er hat in allen wichtigen Zentren über Radiosender verfügt. An der Spitze des Schutzbundes stand eine dreigliedrige zentrale Führung, in der Julius Deutsch der politische Führer (Oberbefehlshaber des Schutzbundes), ein zweites Mitglied der Leitung, der sozialdemokratische General Körner, der militärische Leiter war. In den einzelnen Provinzen standen an der Spitze der Schutzbundorganisationen ebenfalls dreigliedrige Führungen, gestehend aus dem politischen Leiter, dem militärischen Leiter, dem stellvertretenden Leiter. Die militärischen Leiter sind früher zum großen Teil aktive Offiziere des Bundesheeres und bis zuletzt in ihrer Mehrheit gut ausgebildete Reserveoffiziere und -unteroffiziere gewesen. Die angeblich 289 Schutzbundbataillone waren in 16 Schutzbundbezirke eingeteilt, darunter in Wien 5 Bezirkskommandos, in Niederösterreich 4, in Oberösterreich 2, in Steiermark 2, in Kärnten, Tirol und in Vorarlberg je 1 Bezirk. Die Ausbildung des Schutzbundes in der Form von Wehrsport, Kleinkaliberschießen und taktischen Geländeübungen stand auf einem hohen Niveau. Die Disziplin der Mannschaft war mustergültig. Die Kommunistische Partei hat keine bedeutende organisierte bewaffnete Formation besessen; um die illegal erscheinende Zeitschrift "Der Rote Soldat" begannen sich kleine Gruppen von Soldaten des Bundesheeres zu organisieren, außerdem haben die Kommunisten einige untere Abteilungen des Schutzbundes bedeutend beeinflußt. Dies war das Verhältnis der bewaffneten Kräfte der Konterrevolution und des bewaffneten Aufstandes im Augenblick der Erhebung der Massen. 4. Fünf Tage im Feuer gegen den Faschismus
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[1]. Béla Kun.
Béla Kun wird in Transsylvanien geboren. 1914 wird er in die österreichisch-ungarische Armee eingezogen, er wird an der russischen Front gefangengenommen, nach der Revolution von Februar 1917 tritt er in die SDAPR(b) ein. Am 24. November 1918 halten die nach Ungarn zurückgekehrten Mitglieder der Ungarischen Föderation der KPR(b), darunter Kun, zusammen mit ehemaligen Mitgliedern der Ungarischen Sozialdemokratischen Partei (Magyarországi Szociáldemokrata Párt, MSzdP) sowie mit den anarcho-syndikalistischen Revolutionären Sozialisten, die sich im Herbst 1917 konstituiert hatten, den Gründungskongress der Partei der Kommunisten Ungarns (Kommunisták Magyarországi Pártja, KMP) ab. Am 21. März 1919 findet eine gemeinsame Sitzung der Exekutivkomitees der KMP und der MSzdP statt, in der der Zusammenschluss der beiden Parteien unter dem Namen Ungarische Sozialistische Partei (Magyarországi Szocialista Párt, MSzP) sowie die Bildung einer Räteregierung beschlossen wird. Auf der ersten Tagung des gemeinsamen Parteivorstandes noch am selben Tag wird ein Revolutionärer Regierungsrat gebildet. Kun übernimmt das Volkskommissariat für Äußeres. Die Räterepublik wird im August durch eine von Frankreich organisierte militärische Operation zu Fall gebracht. Kun und andere KMP-Mitglieder emigrieren nach Wien. Die KMP wird, von der MSzdP getrennt, neuaufgebaut.
Im Februar 1921 wird Kun Mitglied des Präsidiums des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale; am 13. Juli, im Zuge des 3. Kongresses der KI, wird er zu diesem Posten wiedergewählt, und während des Jahres nimmt er an den Sitzungen des EK teil. Am 2., erweiterten, Plenum des EK im Juni 1922 ist er nicht anwesend. Am 2. Kongress der KI im November desselben Jahres legt er einen Bericht über den 5. Jahrestag der Russischen Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution vor. Er ist nicht mehr Mitglied des EK. Am 3., erweiterten, Plenum des EK im Juni 1923 ist er nicht anwesend. 1924 ist er Verantwortlicher der Agitprop-Sektion der KI. Im Zuge des 5. Kongresses der KI im Juli desselben Jahres zählt er zu den ernannten Kandidaten des EK. Am 5., erweiterten, Plenum des EK im März 1925 wird er Mitglied des Organisationsbüros. Am 7., erweiterten, Plenum im Dezember 1926 zählt er zu den ernannten Kandidaten des Präsidiums des EK. Am von Juli bis September 1928 abgehaltenen 6. Kongress der KI wird er in seinen Funktionen im EK bestätigt. Am 10. Plenum des EK im Juli 1929 trägt er zu den Debatten bei; er wird beauftragt, das Sekretariat für den Balkan zu leiten. Am 11., erweiterten, Plenum im März-April 1931 wird er Mitglied des Präsidiums des EK. Er trägt zu den Debatten auf den Plenums des EK von August-September 1932 und Dezember 1933 teil. 1934 ist er Mitglied der mit der Vorbereitung des 7. Kongresses der KI beauftragten Kommission. Im Zuge dieses Juli-August 1935 abgehaltenen Kongresses wird er zum Mitglied des EK gewählt.
[2]. Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ/SDAPDÖ).
Im deutschsprachigen Raum Österreich-Ungarns fand eine erste sozialdemokratische Parteigründung 1874 in Neudörfl (bei Wiener Neustadt) statt; in den folgenden Jahren herrschte jedoch Spaltung in mehrere Gruppen vor. Vom 30. Dezember 1888 bis zum 1. Januar 1889 tagte in Hainfeld (Niederösterreich) ein Parteitag, der eine Einigung der verschiedenen Fraktionen unter Führung von Victor Adler ergab. Die neue Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) hatte ihre Schwerpunkte im Raum Wien, in den Industriegebieten Niederösterreichs und der Steiermark sowie in Böhmen und Mähren. Sie trat der 2. Internationale bei. Mit der Ausrufung der Republik Deutschösterreich am 12. November 1918 wird der Name entsprechend zu Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAPDÖ) geändert. 1945 wird die Partei auf Sozialistische Partei Österreichs (SPÖ) umbenannt, schließlich 1991 auf Sozialdemokratische Partei Österreichs (weiterhin SPÖ).
[3]. Österreich, Wien, Juli 1927.
Am 30. Januar 1927, in Schattendorf, einem Ort des Bundeslandes Burgenland, eröffnet eine Gruppe monarchistischer Kriegsveteranen das Feuer auf einen Zug des Republikanischen Schutzbundes. (Republikanischer Schutzbund: cf. Fußnoten 23 ► und 29 ►.) Der Angriff hat zwei Tote zur Folge, davon ein Kind. Der Fall wird am 14. Juli in Wien vor Gericht behandelt, die Täter werden freigesprochen, ungeachtet dessen, dass sie die Tatsachen nicht leugnen. Am 15. bricht ein spontaner Generalstreik aus und führt zu Zusammenstößen in der Umgebung des Justizpalastes. Die Polizei macht von Feuerwaffen Gebrauch, die Schiessereien setzen sich am nächsten Tag noch fort. Der Schutzbund reagiert zunächst nicht; später greift er ein, aber unbewaffnet und in der Absicht, das Vorgehen der Demonstranten zu entschärfen; schließlich, den mörderischen Angriffen der Polizei ausgesetzt, zieht er sich zurück. Insgesamt werden 86 Tote unter der Bevölkerung gezählt, sowie 4 Polizisten; mehr als 1000 Verletzte werden in Spitäler eingeliefert. In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli verbreitet die Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) eine Sonderausgabe ihres Organs Die Rote Fahne, wo die von der Partei formulierten Forderungen vorgebracht werden: Auflösung und Entwaffnung aller faschistischen Organisationen, Säuberung des Staatsapparates (Polizei, Heer, Gendarmerie) von reaktionären Elementen, Bewaffnung der Arbeiterschaft. Am Nachmittag des 15. Juli entschließen sich die SDAPDÖ und die Gewerkschaftsführer dazu, zu einem 24‑stündigen Generalstreik sowie zu einem unbeschränkten Streik der Verkehrsmittel und des Post-, Telegraphen- und Telefondienstes aufzurufen, wobei sie an die Regierung eine Reihe von Forderungen richten: Ende der Repressalien, Anklage gegen die für das Gemetzel Verantwortlichen, Einberufung des Parlaments. Der Bundeskanzler Ignaz Seipel (Christlichsoziale Partei) weist die Forderungen zurück und, um sich über die Delegation lustig zu machen, bemerkt er in Hinsicht auf eine Abhaltung einer Parlamentssitzung: da "müssen Sie, meine Herren, erst dafür sorgen, daß die Bahn wieder fährt, sonst können ja die Abgeordneten nicht nach Wien fahren." Die Sozialdemokraten heben tatsächlich die Anweisung zum Verkehrsbetriebsstreik auf.
Am 16. Juli schreibt das Mitteilungsblatt der Sozialdemokratie: "Je vollständiger die Genossen die Parole, heute zu Hause zu bleiben und nicht auf die Straße zu gehen, befolgen, desto wirksamer wird die Bereitschaft des Schutzbundes sein, im Falle der Notwendigkeit einzugreifen."
Und am 7. August schreibt die Arbeiter‑Zeitung: "Wir sind nicht im Kampf besiegt, wir sind vielmehr dem Kampf ausgewichen."
[Zitate nach Historische Kommission beim ZK der KPÖ: Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs, 1918‑1955 - Kurzer Abriss; Wien, Globus Verlag, 1977; S. 103‑104.]
[4]. Österreich, Engelbert Dollfuß.
Am 20. Mai 1932 bildet Engelbert Dollfuß (Christlichsoziale Partei) eine aus Christlichsozialen, Heimatblock und Landbund zusammengesetzte Regierung. Der Heimatblock erhält als politischer Arm der Heimwehr drei Ministerposten, obwohl er nur acht Parlamentssitze innehat. Diese Koalition verfügt nur über eine Mehrheit einer Stimme, gegenüber der SDAPDÖ und der Großdeutschen Partei. Am 17. Oktober wird Emil Fey, Landesführer der Wiener Heimwehr, zum Staatssekretär für Sicherheitswesen ernannt.
Ein am 1. März 1933 begonnene Eisenbahnerstreik ist Anlass für eine dringliche Sitzung des Nationalrates am 4. März. Unregelmäßigkeiten bei der Abstimmung und eine Geschäftsordnungsdebatte führen zum Rücktritt der drei Parlamentspräsidenten und zu einer Beschlussunfähigkeit des Parlaments. Dollfuß bietet dem christlichsozialen Bundespräsidenten Wilhelm Miklas seinen Rücktritt an, wird aber mit der Fortführung der Regierungsgeschäfte beauftragt. In einem Aufruf an das österreichische Volk am 7. März verkündete er:
Die Regierung wünscht nicht, daß das Land dauernd einer aktionsfähigen, dem allgemeinen Wohl dienenden Volksvertretung entbehrt. Die Führung eines Staates liegt aber nicht allein bei der Gesetzgebung, sondern ebenso beim Staatsoberhaupt und der Regierung. Die von Herrn Bundespräsidenten ernannte gesetzmäßige Regierung ist im Amte. Sie ist von der Parlamentskrise, die ohne ihr Zutun heraufbeschworen wurde, nicht berührt; es gibt daher keine Staatskrise!
[Protokolle des Ministerrates der Ersten Republik - 1918‑1938; Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei, 1982; S. 403.]
Dollfuß führt die Pressezensur ein und verbietet Aufmärsche und Versammlungen. Er stützte sich dabei auf Notverordnungen unter Anwendung eines kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetzes vom 24. Juli 1917(cf. Fußnote 11 ►). Am 31. März wird die Auflösung des Republikanischen Schutzbundes erklärt, dieser besteht illegal fort. Am 21. Mai erfolgt die Gründung der "Vaterländischen Front" als "patriotisch-österreichisch-nationale" Sammlungsbewegung. Am 27. Mai wird die KPÖ verboten, nach den Kämpfen im Februar 1934 auch die SDAPDÖ. Am 1. Mai 1934 proklamiert Dollfuß eine neue Verfassung und beseitigt damit den Parteienstaat.
Am 25. Juli erfolgt ein nationalsozialistischer Putschversuchs, der misslingt, jedoch wird Dollfuß im Laufe der Ereignisse getötet.
[5]. Österreich, Ernst Rüdiger Starhemberg.
Ernst Rüdiger Starhemberg kämpft 1921 als Mitglied des Freikorps "Oberland" in Oberschlesien, nimmt am 9. November 1923 an Adolf Hitlers Marsch auf die Feldherrenhalle in München teil, schließt sich in Österreich der Heimwehr an und wird 1929 deren Führer in Oberösterreich und 1930‑1936 Bundesführer der Heimwehr (aus der sich der den Christlichsozialen nahestehende Flügel unter Emil Fey abspaltet, cf. Fußnote 20 ►), 1930 einige Monate hindurch auch Innenminister und im November Abgeordneter zum Nationalrat (Zurücklegung des Mandats nach 66 Tagen). Nach der Ausschaltung des Parlaments 1933 (cf. Fußnote 4 ►) fordert er in immer schärferer Form die Entmachtung der sozialdemokratischen Stadtregierung. Er unterstützt den ständestaatlichen Kurs von Engelbert Dollfuß; 1933‑1934 ist er stellvertretender Führer der Vaterländischen Front. Nach Dollfuß' Ermordung (cf. Fußnote 4 ►) ist Starhemberg von Juli 1934 bis Mai 1936 Bundesführer der Vaterländischen Front und Vizekanzler. Da er eine enge politische Anlehnung an das faschistische Italien vertritt und Mussolini die Heimwehr reichlich mit Geld und Waffen unterstützt, wird er (wobei die Rivalität mit Fey eine nicht unwesentliche Rolle spielt), von Bundeskanzler Schuschnigg zur Demission gezwungen (Verbot der Heimwehr) und emigriert 1937.
[6]. Republik Deutsch-Österreich, 1918‑1920.
Am 12. November 1918 wird die Republik Deutsch-Österreich ausgerufen. Anfangs führt Staatskanzler Karl Renner (SDAPDÖ) eine Provisorische Regierung an, bevor am 16. Februar 1919 Wahlen abgehalten werden. Die SDAPDÖ wird mit 40,8 % stärkste Partei. Die Christlichsoziale Partei erreicht rund 35 %, sie erringt die Mehrheit der Mandate außerhalb der Hauptstadt Wien und dominiert die Landtage der Bundesländer. Renner bleibt Staatskanzler bis zum 7. Juli 1920. Das Amt des Staatssekretärs für Äußeres wird von März 1919 bis Juli 1919 durch Otto Bauer (SDAPDÖ) ausgeübt, dann bis Oktober 1920 von Renner. Nach den Nationalratswahlen von Oktober 1920 ist die SDAPDÖ nicht mehr an der Regierung beteiligt.
[7]. Otto Bauer: Die österreichische Revolution; Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1923; S. 275:
Der Krieg hat ganz Europa in eine Revolutionskrise gestürzt. Aber schon nach wenigen Wochen wurde die Demobilisierungskrise in den westeuropäischen Ententestaaten überwinden. Schon 1919 und 1920 erlitt das Proletariat in Deutschland und in Ungarn, in Frankreich und Italien eine Reihe schwerer Niederlagen. Schon seit 1921 ist das internationale Proletariat in die Defensive gedrängt. Die internationale Offensive der Bourgeoisie ist aus wirtschaftlichen und aus sozialen Gründen besonders heftig und besonders gewaltsam. Aus wirtschaftlichen Gründen: die Verarmung Europas durch den Krieg, die Notwendigkeit, die tief gesunkene Akkumulationsrate zu erhöhen, die Schwierigkeit des Konkurrenzkampfes auf dem von schwerer Industriekrise befallenen, durch die Zerrüttung der Währungen deroutierten Weltmarkt treiben zum Lohndruck und zur Rückbildung des Arbeiterschutzes. Aus sozialen Gründen: die Bourgeoisie, durch die Heftigkeit des revolutionären Ansturms 1918 und 1919 erschreckt, fühlt sich nicht mehr sicher genug, sich mit den Herrschaftsmitteln, die ihr vor dem Kriege genügt haben, zu bescheiden. In allen Staaten östlich des Rheins ‑ Österreich ist die einzige Ausnahme ‑ hat sie sich mit den Waffen der Ausnahmegesetzgebung, der Beschränkung der Vereins-, Versammlungs-, Preßfreiheit und der Schwurgerichte ausgerüstet. In vielen dieser Staaten ‑ auch Österreich ist unter ihnen ‑ greift sie zu den Waffen der fascistischen Gewaltorganisationen. So ist in ganz Europa der Revolutionskrise von 1918/19 schwerer Rückschlag gefolgt.
Aber die Revolutionskrise von 1918/19 hat die durch den Krieg aufgeworfenen Probleme nicht gelöst. Es ist dem Imperialismus der Siegermächte nicht gelungen, das deutsch-französische Reparationsproblem zu lösen, die Sowjetrepublik dem europäischen Staatensystem einzugliedern, in dem Raum der einst russischen "Randvölker" und der einst österreichischen "Nachfolgestaaten" dauerhaften Frieden zu begründen, die revolutionäre Gärung zwischen dem Bosporus und dem Tigris, zwischen dem Nil und dem Ganges zu beendigen. Scheint der amerikanische Kapitalismus die schwere Industriekrise der Nachkriegszeit schon überwunden zu haben, so wird die Erholung des europäischen Kapitalismus durch politische Krisen und politische Unruhe gehemmt. Wirtschaftlicher Druck und politische Krisen verschärfen die soziale Unruhe und treiben neuen sozialen Erschütterungen zu.
So scheint die gegenwärtige Entwicklungsphase nur eine Übergangsperiode zwischen zwei revolutionären Prozessen zu sein: zwischen der schweren revolutionären Erschütterung, die Europa 1918/19 erlebt hat, und neuen schweren kriegerischen, revolutionären oder konterrevolutionären Erschütterungen, zu denen die durch den Krieg aufgeworfenen, immer noch ungelösten Probleme zutreiben.
Dieser allgemeinen europäischen Entwicklung entspricht auch die Entwicklung auf dem Boden, den einst die Habsburgermonarchie beherrscht hat. Auch hier ist der revolutionäre Prozeß zunächst unterbrochen. In der Tschechoslowakei, in Jugoslawien, in Polen, wo die Revolution eine bloß nationale Revolution geblieben ist, hat sie schon 1918, schon mit der Errichtung der neuen Nationalstaaten, ihren Abschluß gefunden. Ungarn hat im Verlauf eines Jahres die Tragödie seiner Revolutionen und seiner Konterrevolution durchlaufen. Deutschösterreich hat der Genfer Vertrag den Abschluß des revolutionären Prozesses gebracht: die nationale Revolution erscheint durch den Genfer Vertrag liquidiert, die soziale Revolution mit der Aufrichtung eines starken, selbstbewußten bürgerlichen Regimes unter dem Schutz der im Völkerbund vereinigten kapitalistischen Regierungen beendet. Aber in Wirklichkeit sind auch hier alle Probleme, die die Revolution von 1918 aufgeworfen hat, immer noch ungelöst.
[8]. Austromarxismus.
Anfang des 20. Jahrhunderts bildet sich in Österreich eine besondere politische Strömung um eine Gruppe von Personen, die sich auf den Marxismus beziehen. Man kann nennen: Otto Bauer, Max Adler, Rudolf Hilferding, Friedrich Adler, Karl Renner. Friedrich Adler ist der Sohn von Victor Adler, der 1888 bei der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) zum Vorsitzenden gewählt wurde; hingegen hat Max Adler keine Verwandtschaftsbeziehungen mit Victor und Friedrich. Die Entwicklung dieser Strömung kristallisiert sich insbesondere um die Publikation ab 1904 der "Blätter zur Theorie und Politik des wissenschaftlichen Sozialismus", die von M. Adler und Rudolf Hilferding herausgegebenen "Marxstudien", sowie die ab 1907 erscheinende Monatsschrift "Der Kampf", deren Redaktion Bauer leitet. Die in diesem Rahmen ausgedrückten Ideen werden mit dem Term Austomarxismus bezeichnet. Sie meinen, dass das Ziel der Arbeiterpartei sein muss, durch die Mittel der Demokratie und der politischen und kulturellen Erziehung an die Macht zu kommen, um daran anschließend die "soziale Revolution" durchzuführen.
Nach der Oktoberrevolution 1917 in Russland versucht der Austromarxismus eine Mittelrolle zwischen der 2. Sozialistischen Internationale und der 3. Kommunistischen Internationale zu spielen. Das in Linz 1926 angenommene Programm der Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs (SDAPDÖ, Benennung der Partei ab 1919), welches auf einem von Bauer redigierten Entwurf basiert, bestätigt dauerhaft die Opposition bezüglich des Bolschewismus. Bauer erklärt hierzu in seinem Bericht zur Programmfrage:
Der entscheidende Gedanke aber, warum wir der Gewalt in diesem Programm nur eine defensive Rolle zuweisen, ist ein Gedanke, der vor allem aus den Erfahrungen der großen russischen Revolution entstanden ist. Wir haben es erlebt: Wer zur Gewalt greift, der ist der Gefangene der Gewalt.
Wir haben es erlebt: aus der gewaltsamen Entscheidung kann niemals ein anderes Regime hervorgehen als die Gewaltherrschaft, weil der Bürgerkrieg selbst, der Ströme von Blut vergießt, so viel Haß, so viel Wut, so viel Leidenschaft erzeugt, daß der Sieger die Besiegten auf lange Zeit nur mit Gewalt niederhalten kann. Aber was es heißt, die unbeschränkte Gewalt einigen wenigen Menschen in die Hand zu geben, erleben wir jetzt in Rußland. Man beginnt, die Preßfreiheit zu konfiszieren für die Bourgeoisie, und endet damit, daß, wenn Trotzky und Sinowjew zu den russischen Arbeitern sprechen wollen, sie nur in illegalen Broschüren sprechen können. Man beginnt damit, die Versammlungsfreiheit aufzuheben für die Bourgeoisie und endet damit, daß die alte Garde Lenins ihre Versammlungen nur noch zur Nachtzeit im Walde abhalten kann. Man beginnt damit, die Gewalt aufzurichten gegen die Bourgeoisie, und endet damit, daß eine Handvoll Leute eine so unbeschränkte Gewalt in der Hand hat, daß das Proletariat selbst nur seine Meinung soweit äußern kann, als diese Handvoll Leute es erlaubt, wobei sich selbstverständlich immer wieder die alte Erfahrung wiederholt, daß es keine furchtbarere Versucherin gibt als die unbeschränkte Gewalt.
[Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs: Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages 1926 - abgehalten in Linz vom 30. Oktober bis 3. November 1926; Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1926; S. 267‑268.]
[9]. Otto Bauer über das "Gleichgewicht der Klassenkräfte".
Otto Bauer ist es, der ausdrücklich die Theorie vom "Gleichgewicht der Klassenkräfte", welches angeblich dem Staat seinen Charakter eines Herrschaftsapparats im Dienste einer Klasse entzieht, formuliert:
Als der Sozialismus erst daranging, die Arbeitermassen zum Klassenbewußtsein zu erwecken, zum Klassenkampf zu schulen, in die ersten großen Klassenkämpfe zu führen, lehrte er die Arbeiter, den Staat, gegen den sie zu kämpfen hatten, als den Klassenstaat der Bourgeoisie, die Staatsregierung als einen Vollzugsausschuß der herrschenden Klassen verstehen. Und er ermutigte und begeisterte die Arbeitermassen durch die Verkündigung, daß der Tag der Revolution kommen wird, an dem der Staat aus einem Herrschaftsinstrument der Bourgeoisie zur Niederhaltung des Proletariats zu einem Herrschaftsinstrument des Proletariats zur Niederwerfung der Bourgeoisie werden wird. Es entsprach den seelischen Bedürfnissen des erst erwachenden, sich erst organisierenden, erst in den Kampf tretenden Proletariats, den Bedürfnissen der Schulung des jungen Proletariats, daß die Staatslehre des Sozialismus in ihrer landläufigen populären Darstellung keinen anderen Staat kannte als den Klassenstaat: den gegenwärtigen Klassenstaat der Bourgeoisie als die Staatsform der kapitalistischen Gesellschaftsordnung; den kommenden Klassenstaat des Proletariats als das Mittel zu ihrer Überwindung.
Aber die feinere theoretische Analyse des Marxismus kannte auch damals schon andere Staatswesen. Sie wußte, daß aus den Klassenkämpfen zeitweilig Situationen hervorgehen, in denen, wie Engels es in seinem Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates ausdrückte, "die kämpfenden Klassen einander das Gleichgewicht halten". Ist keine Klasse mehr imstande, die andere niederzuwerfen und niederzuhalten, dann hört die Staatsgewalt auf, ein Herrschaftsinstrument einer Klasse zur Beherrschung der anderen Klassen zu sein. Die Staatsgewalt verselbständigt sich dann gegenüber den Klassen, sie tritt allen Klassen als selbständige Macht gegenüber, sie unterwirft sich alle Klassen. Das war, nach Marxens und Engels' Darstellung, der Ursprung der absoluten Monarchie im 17. und 18., des Bonapartismus im 19. Jahrhundert.
Auch das Ergebnis der deutschösterreichischen Revolution war ein Zustand, in dem "die kämpfenden Klassen einander das Gleichgewicht halten". Der Gleichgewichtszustand der Klassenkräfte war hier vom Anfang an begründet in dem Machtverhältnis zwischen dem großen Industriegebiet Wiens, Niederösterreichs, der Obersteiermark einerseits, das nicht gegen die Arbeiter, und dem großen Agrargebiet der anderen Bundesländer anderseits, das nicht gegen die Bauern zu regieren war; vom Anfang an begründet in dem Widerspruch zwischen der starken Macht des Proletariats im Lande und der völligen Ohnmacht des Landes gegenüber den kapitalistischen Mächten außerhalb unserer Grenzen. Aber in dem ersten Jahre der Republik war das Kräfteverhältnis durch die mächtige revolutionäre Spannung in den Massen zugunsten des Proletariats verschoben; das Proletariat konnte daher zwar nicht seine Alleinherrschaft, aber immerhin seine Vorherrschaft aufrichten. In dem Maße aber, in dem einerseits unter dem Drucke der Ergebnisse der Klassenkämpfe im Auslande, anderseits unter der Wirkung der Wiederbelebung des kapitalistischen Wirtschaftslebens im Lande selbst die revolutionäre Spannung in den Massen überwunden wurde, stellte sich der Gleichgewichtszustand zwischen den Klassenkräften her.
Aber dieser Gleichgewichtszustand führte hier nicht, wie so oft vorher in der Geschichte, zur Verselbständigung der Staatsmacht gegenüber den Klassen, nicht zur Unterwerfung aller Klassen unter einen Absolutismus oder Bonapartismus. Vom Ausland wirtschaftlich abhängig, dem Ausland gegenüber militärisch ohnmächtig, von fremder Intervention und Okkupation bedroht, konnten die Klassen hier ihren Kampf nicht bis zur gewaltsamen Entscheidung steigern. Sie mußten von Tag zu Tag immer neue Kompromisse miteinander schließen. So führte hier das Gleichgewicht der Klassenkräfte nicht dazu, daß alle Klassen von der verselbständigten Staatsmacht unterworfen wurden, sondern dazu, daß alle Klassen hier die Staatsmacht untereinander teilen mußten.
Diese Teilung der Macht zwischen den Klassen fand ihren Ausdruck bis zum Oktober 1920 in der Koalitionsregierung, die die Klassen zu gemeinsamer Herrschaft vereinigte, später, nach den Wahlen vom Oktober 1920, in der Machtverteilung zwischen der bürgerlichen Regierung und der bürgerlichen Parlamentsmehrheit einerseits, der auf starke parlamentarische und vor allem außerparlamentarische Machtpositionen gestützten, die bürgerliche Regierung wirksam beeinflussenden, kontrollierenden, einschränkenden Sozialdemokratie anderseits. Sie fand ihren Ausdruck in der Kombination der parlamentarischen Demokratie, die die Regierungsgewalt der Bourgeoisie überantwortete, und der funktionellen Demokratie, die die Regierungsgewalt bei den wichtigsten Regierungsakten abhängig machte von dem Einverständnis und der Mitwirkung proletarischer Organisationen. Sie fand ihren Ausdruck in der Organisation des Bundesheeres, die die Kommandogewalt des bürgerlich gesinnten Offizierskorps durch die sozialistische Gesinnung und Organisation der Wehrmänner und die Befugnisse ihrer Soldatenräte begrenzte, und in den Machtverhältnissen zwischen den bürgerlichen Selbstschutzverbänden einerseits,. der proletarischen Ordnerorganisation anderseits, die einander in Schach hielten.
Die Republik wurde seit dem Oktober 1920 von einer bürgerlichen Regierung, von einer bürgerlichen Parlamentsmehrheit regiert. Trotzdem war sie kein Klassenstaat der Bourgeoisie, keine Bourgeoisrepublik. Die starken Machtpositionen des Proletariats im Heer, in der Ordnerorganisation, in den lebensnotwendigen Verkehrsbetrieben setzten der Macht der bürgerlichen Regierung enge Schranken. Sie konnte es nicht wagen, die Arbeiterklasse zum Entscheidungskampfe herauszufordern. Sie konnte nicht anders regieren als durch tägliche Kompromisse mit der Vertretung der Arbeiterklasse im Parlament und mit den proletarischen Organisationen außerhalb des Parlaments. In allen großen Krisen dieser Periode, in der Zeit des Kapp-Putsches, des Osterputsches Karl Habsburgs, der Burgenlandkrise konnte die Arbeiterklasse den Kurs der bürgerlichen Regierung mächtig beeinflussen.
Die Arbeiterklasse war eine starke Macht in der Republik. Trotzdem war die Republik kein Klassenstaat des Proletariats, keine proletarische Republik. Die Arbeiterklasse konnte die kapitalistische Wirtschaftsverfassung, auf der das Staatswesen ruhte, nicht aufheben. Die Arbeiterklasse konnte zwar die politische Macht der Bourgeoisie eng einschränken, aber nicht die Macht an sich reißen. Die ganze wirtschaftliche Entwicklung der Republik, die Aufhebung der Kriegswirtschaft, die Wiederherstellung der kapitalistischen Handelsfreiheit vor allem bedeutete die Wiederherstellung der Wirtschaftsverfassung der Bourgeoisie.
Die Republik war also weder eine Bourgeoisrepublik noch eine proletarische Republik. Sie war weder ein Instrument der Klassenherrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat noch ein Instrument der Klassenherrschaft des Proletariats über die Bourgeoisie. Die Republik war in dieser Phase kein Klassenstaat, das heißt kein Instrument der Herrschaft einer Klasse über die andere Klasse, sondern ein Ergebnis des Kompromisses zwischen den Klassen, ein Resultat des Gleichgewichts der Klassenkräfte. Wie die Republik im Oktober 1918 aus einem Contrat social, aus einem staatsbildenden Vertrag der drei großen Parteien, die die drei großen Klassen der Gesellschaft vertraten, entstanden ist, so lebte sie nur in täglichen Kompromissen zwischen den Klassen.
Die Revolution von 1918 hat die politischen und rechtlichen Klassenprivilegien der herrschenden Klassen zertrümmert. Einige der Republiken, die aus der Revolution von 1918 hervorgegangen sind, so die ungarische und die westukrainische, haben sich damals "Volksrepubliken" genannt. Sie wollten damit sagen, daß nunmehr, nach der Zertrümmerung der Klassenprivilegien, das Volk als Ganzes seine Regierung in seine Hand nehme. Aber hier war die Phrase der Volksrepublik nur der Ausdruck einer kleinbürgerlichen Illusion. Durch die Aufhebung der politischen und rechtlichen Klassenprivilegien werden die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Die Demokratie überwindet die Klassenkämpfe nicht, sondern sie bringt sie erst zur vollen Entfaltung. Die Rechtsordnung, die Regierung und Parlament aus allgemeinen Volkswahlen hervorgehen läßt, hindert nicht, daß die allgemeinen Volkswahlen selbst Regierung und Parlament einer Klasse ausliefern, sie zum Instrument ihrer Herrschaft über die anderen Klassen machen. Die parlamentarische Demokratie des allgemeinen Wahlrechts hebt die Klassenherrschaft nicht auf, sie gibt der Klassenherrschaft nur die Weihe der Bestätigung durch die Volksgesamtheit.
Nicht im Sinne dieser kleinbürgerlichen Illusion, sondern in einem ganz anderen Sinne können wir die Republik, wie sie in Österreich vom Herbst 1919 bis zum Herbst 1922 bestand, eine Volksrepublik nennen. Diese Republik war keine Bourgeoisrepublik, in der die Bourgeoisie das Proletariat zu beherrschen vermocht hätte, wie sie es in der französischen oder in der amerikanischen Bourgeoisrepublik beherrscht. Sie war aber auch keine Proletarierrepublik, in der das Proletariat die Bourgeoisie beherrscht hätte, wie es die Bourgeoisie in der russischen oder in der ungarischen Proletarierrepublik zu beherrschen versucht hat. Es war eine Republik, in der keine Klasse stark genug war, die anderen Klassen zu beherrschen, und darum alle Klassen die Staatsmacht untereinander, miteinander teilen mußten. So hatten tatsächlich alle Klassen des Volkes an der Staatsmacht ihren Anteil, war tatsächlich die Wirksamkeit des Staates die Resultierende der Kräfte aller Klassen des Volkes; deshalb können wir diese Republik eine Volksrepublik nennen.
Die kleinbürgerliche Illusion glaubt, die Volksrepublik werde dadurch verwirklicht, daß sich das Volk über die Klassengegensätze in seinem Schoß erhebt, die einzelnen Klassen des Volkes dem Kampf gegeneinander entsagen. In Wirklichkeit geht die Volksrepublik gerade aus dem Klassenkampf hervor, dann hervor, wenn das Ergebnis des Klassenkampfes ein Zustand ist, in dem "die kämpfenden Klassen einander das Gleichgewicht halten". Die kleinbürgerliche Illusion glaubt die Volksrepublik schon durch die parlamentarische Demokratie gesichert, da sie ja Parlament und Regierung aus Wahlen des ganzen Volkes hervorgehen läßt. In Wirklichkeit ist die Volksrepublik keineswegs durch die Rechtsinstitutionen der parlamentarischen Demokratie verbürgt, aus denen vielmehr ebensogut die Alleinherrschaft einer Klasse hervorgehen kann. Nicht aus der formalen Rechtsgleichheit der Demokratie, sondern nur aus realer Machtgleichheit der kämpfenden Klassen geht die Volksrepublik hervor. Sie war in Österreich 1919 bis 1922 nicht das Resultat der parlamentarischen Demokratie, sondern gerade umgekehrt das Resultat der funktionellen Demokratie, durch die die parlamentarische Demokratie begrenzt und berichtigt wurde: das Resultat der außerparlamentarischen Macht des Proletariats, die die parlamentarische Mehrheit der Bourgeoisie hinderte, ihre Klassenherrschaft aufzurichten. Die kleinbürgerliche Illusion hält die Volksrepublik für die dauernde Aufhebung der Klassengegensätze; in Wirklichkeit ist die Volksrepublik ein zeitweiliges Ergebnis der Klassenkämpfe, nur das Resultat zeitweiligen Gleichgewichtszustandes zwischen den Kräften der kämpfenden Klassen.
In der Tat kann ein solcher Gleichgewichtszustand keine Klasse dauernd befriedigen. Jede Klasse strebt über den Zustand des Gleichgewichts der Klassenkräfte hinweg zu einem Zustand, in dem sie herrschen kann, hin.
Die Bourgeoisie liebt es immer und überall, ihre Klassenherrschaft als Selbstregierung des ganzen Volkes, ihre Republik, die Bourgeoisrepublik als die wahre Volksrepublik hinzustellen. Wo aber wirklich ein Gleichgewichtszustand der Klassenkräfte die Staatsmacht auf alle Klassen verteilt, dort lehnt sich gerade die Bourgeoisie mit aller Leidenschaft gegen die Volksrepublik auf. Sie hat sich in Österreich 1919 bis 1922 mit der Volksrepublik nie abgefunden, war während der ganzen Periode der Volksrepublik von schlimmster Staatsverdrossenheit erfüllt. Sie hat in dieser ganzen Periode dem Staat alle Opfer für die Ordnung seiner zerrütteten Finanzen verweigert, hat den für die Sicherung der bedrohten Ostgrenze unerläßlichen Ausbau des Bundesheeres sabotiert, hat immer wieder die Missionen ausländischer Großmächte zur Einmengung in die inneren Angelegenheiten der Republik aufgefordert, hat bald mit Budapest, bald mit München gegen die Republik konspiriert, hat bald auf die Restauration der Habsburger, bald auf den Abfall ihrer Länder vom Bund ihre Hoffnung gesetzt. Und als die Erfahrungen der Habsburgerputsche und der Anschlußabstimmungen sie zwangen, sich mit der Republik vorerst abzufinden, forderte sie immer stürmischer unter dem Schlagwort der "Wiederherstellung der Staatsautorität", das heißt der Autorität der Bourgeoisregierung, die Verwandlung der Volksrepublik in eine Bourgeoisrepublik.
Auch das Proletariat war mit dem Gleichgewichtszustand der Klassenkräfte keineswegs zufrieden. Die Bewegung gegen die Koalitionspolitik, die 1920 durch die Massen ging, war nichts anderes als der Ausdruck der Enttäuschung der Arbeiterklasse darüber, daß sie ihre Vorherrschaft nicht hatte behaupten können, der Unzufriedenheit damit, daß an die Stelle ihrer Vorherrschaft ein Zustand des Gleichgewichts der Kräfte trat. Aber das Verhältnis des Proletariats zur Volksrepublik war doch ein ganz anderes als das der Bourgeoisie. Als die Volksrepublik von der Konterrevolution bedroht war, erhob sich das Proletariat zum Schutze der Volksrepublik.
In der Zeit der Kämpfe um das Burgenland war das Verhältnis der Klassen zur Volksrepublik am anschaulichsten zu erkennen. In den Wochen der Gefahr ging eine mächtige Welle republikanischen Patriotismus durch die Arbeitermassen. Das Proletariat forderte schnellen Ausbau des Bundesheeres zum Schutze der bedrohten Grenze; die Bourgeoisregierung sabotierte ihn. Tausende Proletarier meldeten sich freiwillig zum Heeresdienst; die Bourgeoisregierung zögerte, sie aufzunehmen. Mitten in der Burgenlandkrise veröffentlichte die Sozialdemokratie ihren Finanzplan; die Bourgeoisregierung weigerte sich, so hohe Steuern, so große Opfer aller Volksklassen zu fordern, wie das Proletariat sie vorschlug. Die Verteilung der Rollen zwischen der Regierung und der Opposition war völlig verkehrt worden: die staatlichen Notwendigkeiten, die sonst in aller Welt die Regierung gegen den Widerstand der Opposition durchsetzen muß, hier mußte sie die Opposition gegen den Widerstand der Regierung durchsetzen!
Die Bourgeoisie konnte es nicht verwinden, daß sie das Proletariat nicht mehr wie bis 1918 beherrschen konnte, daß sie die tatsächliche Macht im Staat mit dem Proletariat teilen mußte; daher ihre Staatsverdrossenheit. Das Proletariat betrachtete es schon als gewaltigen Fortschritt, daß es nicht, mehr wie bis 1918 bloßes Objekt der Gesetzgebung und Verwaltung war, sondern sich einen wesentlichen Anteil an der tatsächlichen Macht im Staat erobert hatte; daher sein republikanischer Enthusiasmus. War die Macht in der Republik zwischen allen Klassen geteilt, so sicherte doch nicht der Wille der regierenden Bourgeoisie, sondern nur die Entschlossenheit des in Opposition stehenden Proletariats die Existenz der Republik.
Eine Republik, in der keine Klasse stark genug war, die anderen Klassen zu beherrschen, und darum die tatsächliche Macht zwischen allen Klassen des Volkes geteilt sein mußte; diese Republik, geführt von einer verdrossenen Bourgeoisie, die, republikanisch wider Willen, wider ihren Willen unter der mächtigen Kontrolle des Proletariats in republikanischen Formen regieren mußte; diese Republik, getragen und gesichert von der republikanischen Gesinnung, der republikanischen Opferwilligkeit, dem republikanischen Enthusiasmus des Proletariats ‑ das war die Volksrepublik in Österreich.
Wenn alle Klassen an der Staatsmacht Anteil haben, alles Regieren tägliche Kompromisse zwischen widerstreitenden Klasseninteressen voraussetzt, dann arbeitet der Staatsmechanismus langsam, schwerfällig, mit großen Reibungen. Trotzdem war das Ergebnis der zweijährigen Periode des Gleichgewichts der Klassenkräfte, die wir bisher dargestellt haben, der Periode vom Herbst 1919 bis zum Herbst 1921, vom Abschluß der Friedensverhandlungen bis zum Abschluß der Burgenlandkrise, nicht gering. Wirtschaftlich war diese Periode charakterisiert durch die Wiederbelebung der Industrie und des Handels, die einerseits die Massennot der Zeit des Kriegsendes überwand, die Lebenshaltung der Arbeiterklasse beträchtlich verbesserte, anderseits aber die staatliche Organisation der Kriegswirtschaft sprengte und die rein kapitalistische Wirtschaftsverfassung wiederherstellte. Sozial war diese Periode charakterisiert durch die Lösung der sozialen Erregungszustände der Demobilisierungszeit, durch die Rückführung der arbeitslosen Massen in die Produktion, durch die Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin und die allmähliche Steigerung der Arbeitsintensität in den Produktionsstätten. Das politische Ergebnis dieser Periode war die Konsolidierung der Republik. Sie hat in der Zeit der zweiten Koalitionsregierung ihre Heeresverfassung, in der Zeit der Proporzregierung ihre Bundesverfassung empfangen. Sie wurde in der Zeit der beiden ersten bürgerlichen Regierungen dadurch gefestigt, daß die Erfahrungen der beiden Habsburgerputsche die Aussichtslosigkeit einer Restauration der Habsburger, die Erfahrungen der Anschlußbewegung der Länder die Aussichtslosigkeit eines Abfalles der Länder erwiesen hatten. In der burgenländischen Krise hat die Republik ihre endgültigen Grenzen erlangt, die zwei Jahre lang drohende Gefahr eines Krieges mit Ungarn überwunden und die Stärke der moralischen Energien, die zur Verteidigung der Republik entschlossen waren, kennengelernt. So war aus einem losen Bündel auseinander strebender, von revolutionären Erschütterungen durchwühlter Länder, die nach dem Abfall der slawischen Nationen vom Reiche übriggeblieben waren, allmählich ein Staat geworden.
Aber wenn sich die Republik auch wirtschaftlich und politisch gefestigt halte, so wurde ihre Existenz doch durch die Zerrüttung ihrer Finanzen untergraben. Die Burgenlandkrise hatte der Entwertung der Krone neuen Anstoß gegeben. Der immer weiter, immer schneller fortschreitende Vorfall des Geldwertes drohte die Republik in eine Währungskatastrophe zu stürzen, die ihrem Bestand gefährlicher werden konnte als die Banden Pronajs und die Bataillone Osztenburgs. Nach der Lösung der großen politischen Probleme mußten alle Kräfte auf die Abwehr der drohenden wirtschaftlichen Gefahr konzentriert werden. Mitten in der Burgenlandkrise hatte die Sozialdemokratie schon die Parole zu diesem neuen Kampfe ausgegeben. Am 1. Oktober 1921 hatten wir unseren Finanzplan veröffentlicht. Damit wurde der Kampf gegen die drohende Währungskatastrophe begonnen.
[Otto Bauer: Die Österreichische Revolution; Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1923; p. 242‑248 (§ 16 ‑ Die Volksrepublik).]
Zwar unterstreicht Bauer, dass das erwähnte Gleichgewicht nicht stabil ist. Aber was den Ausgang dieser Situation betrifft, sieht er ihn in der "Eroberung" durch die Arbeiterklasse, der Republik die genau das Terrain bildet, innerhalb dessen sich dieses Seilziehen abspielt.
Und da der ökonomische Prozeß selbst die Machtverhältnisse zwischen den Klassen immer wieder verschiebt, kommt schließlich unvermeidlich der Augenblick, in dem das Gleichgewichtsverhältnis aufgehoben wird und nur noch die Wahl bleibt zwischen dem Rückfall unter die Klassenherrschaft der Bourgeoisie und der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Wie die Bourgeoisie durch die Periode des Gleichgewichtes zwischen Grundaristokratie und Bourgeoisie hindurchgehen mußte, ehe sie die Staatsgewalt erobern und die ganze Rechtsordnung dem Kapitalismus anpassen konnte, so wird das Proletariat durch die Periode des Gleichgewichtes zwischen Bourgeoisie und Proletariat nur hindurchgehen, um schließlich die Staatsgewalt zu erobern und die sozialistische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen.
[Otto Bauer: "Das Gleichgewicht der Klassenkräfte". In: Der Kampf, Wien, Wiener Volksbuchhandlung, Band 17, février 1924, p. 56‑67. Ici p. 66‑67.]
Und in dem auf dem von der SDAPDÖ 1926 abgehaltenen Parteitag angenommenen politischen Programm, an dessen Redaktion Bauer und Max Adler teilgenommen hatten, liest man:
III. Der Kampf um die Staatsmacht
1. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei hat die Wahlrechtsprivilegien der besitzenden Klassen gesprengt, die Monarchie gestürzt, die demokratische Republik begründet.
In der Monarchie hat die Dynastie, die Generalität, die Bürokratie geherrscht; nur die obersten Schichten der Bourgeoisie ‑ der Großgrundbesitz und die Hochfinanz ‑ hatten tatsächlich Anteil an ihrer Herrschaft. In der demokratischen Republik hat sich die Gesamtheit der Bourgeoisie der Staatsgewalt bemächtigt.
Anderseits hat die demokratische Republik der Arbeiterklasse politische Gleichberechtigung und Bewegungsfreiheit gegeben, ihre geistigen Kräfte und ihr Selbstbewußtsein gewaltig entwickelt. Die Arbeiterklasse stürmt gegen die Klassenherrschaft der Bourgeoisie in der Republik an.
Die Geschichte der demokratischen Republik ist die Geschichte der Klassenkämpfe zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse um die Herrschaft in der Republik.
In der demokratischen Republik beruht die politische Herrschaft der Bourgeoisie nicht mehr auf politischen Privilegien, sondern darauf, daß sie mittels ihrer wirtschaftlichen Macht, mittels der Macht der Tradition, mittels der Presse, der Schule und der Kirche die Mehrheit des Volkes unter ihrem geistigen Einfluß zu erhalten vermag. Gelingt es der sozialdemokratischen Arbeiterpartei, diesen Einfluß zu überwinden, die manuellen und die geistigen Arbeiter in Stadt und Land zu vereinigen und der Arbeiterklasse die ihr nahestehenden Schichten der Kleinbauernschaft, des Kleinbürgertums, der Intelligenz als Bundesgenossen zu gewinnen, so gewinnt die sozialdemokratische Arbeiterpartei die Mehrheit des Volkes. Sie erobert durch die Entscheidung des allgemeinen Wahlrechtes die Staatsmacht.
So werden in der demokratischen Republik die Klassenkämpfe zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse im Ringen der beiden Klassen um die Seele der Volksmehrheit entschieden.
Im Verlauf dieser Klassenkämpfe kann der Fall eintreten, daß die Bourgeoisie nicht mehr und die Arbeiterklasse noch nicht stark genug ist, allein die Republik zu beherrschen. Aber die Kooperation einander feindlicher Klassen, zu der sie eine solche Situation zwingt, wird nach kurzer Zeit durch die innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft unaufhebbaren Klassengegensätze gesprengt. Die Arbeiterklasse wird nach jeder solchen Episode unter die Herrschaft der Bourgeoisie zurückfallen, wenn es ihr nicht gelingt, selbst die Herrschaft in der Republik zu erobern. Eine solche Kooperation der Klassen kann also nur eine vorübergehende Entwicklungsphase im Klassenkampf um die Staatsmacht, aber nicht das Ziel dieses Kampfes sein.
Hat die sozialdemokratische Arbeiterpartei in der ersten Epoche ihres Kampfes die demokratische Republik erkämpft, so hat sie nunmehr die Aufgabe, die demokratischen Kampfmittel auszunützen, um die Mehrheit des Volkes unter der Führung der Arbeiterklasse zu sammeln und dadurch die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu stürzen, der Arbeiterklasse die Herrschaft in der demokratischen Republik zu erobern.
Die sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt die Eroberung der Herrschaft in der demokratischen Republik, nicht um die Demokratie aufzuheben, sondern um sie in den Dienst der Arbeiterklasse zu stellen, den Staatsapparat den Bedürfnissen der Arbeiterklasse anzupassen und ihn als Machtmittel zu benützen, um dem Großkapital und dem Großgrundbesitz die in ihrem Eigentum konzentrierten Produktions- und Tauschmittel zu entreißen und sie in den Gemeinbesitz des ganzen Volkes zu überführen.
2. Die Bourgeoisie wird nicht freiwillig ihre Machtstellung räumen. Findet sie sich mit der ihr von der Arbeiterklasse aufgezwungenen demokratischen Republik ab, solange sie die Republik zu beherrschen vermag, so wird sie versucht sein, die demokratische Republik zu stürzen, eine monarchistische oder faschistische Diktatur aufzurichten, sobald das allgemeine Wahlrecht die Staatsmacht der Arbeiterklasse zu überantworten droht oder schon überantwortet haben wird.
Nur wenn die Arbeiterklasse wehrhaft genug sein wird, die demokratische Republik gegen die monarchistische oder faschistische Gegenrevolution zu verteidigen, nur wenn das Bundesheer und die anderen bewaffneten Korps des Staates auch dann die Republik schützen werden, wenn die Macht in der Republik durch die Entscheidung des allgemeinen Wahlrechtes in die Hand der Arbeiterklasse fällt, nur dann wird es die Bourgeoisie nicht wagen können, sich gegen die Republik aufzulehnen, nur dann wird daher die Arbeiterklasse die Staatsmacht mit den Mitteln der Demokratie erobern und ausüben können.
Die sozialdemokratische Arbeiterpartei muß daher die Arbeiterklasse in ständiger organisierter geistiger und physischer Bereitschaft zur Verteidigung der Republik erhalten, die engste Geistesgemeinschaft zwischen der Arbeiterklasse und den Soldaten des Bundesheeres pflegen, sie ebenso wie die anderen bewaffneten Korps des Staates zur Treue zur Republik erziehen und dadurch der Arbeiterklasse die Möglichkeit erhalten, mit den Mitteln der Demokratie die Klassenherrschaft der Bourgeoisie zu brechen.
Wenn es aber trotz allen diesen Anstrengungen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei einer Gegenrevolution der Bourgeoisie gelänge, die Demokratie zu sprengen, dann könnte die Arbeiterklasse die Staatsmacht nur noch im Bürgerkrieg erobern.
[Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs: Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages 1926 - abgehalten in Linz vom 30. Oktober bis 3. November 1926; Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1926; S. 168.]
Man kann insbesondere die Anmaßung bemerken, mit der sich das Programm stillschweigend auf Lenin bezieht, indem es die "nicht mehr genügend starke" Bourgeoise und die "noch nicht genügend starke" Arbeiterklasse einander gegenüberstellt. Wenn aber Lenin mit diesen Begriffen von der Lage spricht, die der Oktoberrevolution 1917 voranging*, hat er nicht zwei Anwärter im Auge die sich um ein und dieselbe einzige Macht streiten, sondern zwei grundlegend getrennte Mächte, die existierende, der Diktatur der Bourgeoisie und die zukünftige, der Diktatur des Proletariats.
* "Das Grundgesetz der Revolution, das durch alle Revolutionen und insbesondere durch alle drei russischen Revolutionen des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist, besteht in folgendem: Zur Revolution genügt es nicht, daß sich die ausgebeuteten und unterdrückten Massen der Unmöglichkeit, in der alten Weise weiterzuleben, bewußt werden und eine Änderung fordern; zur Revolution ist es notwendig, daß die Ausbeuter nicht mehr in der alten Weise leben und regieren können. Erst dann, wenn die “Unterschichten” das Alte nicht mehr wollen und die “Oberschichten” in der alten Weise nicht mehr können, erst dann kann die Revolution siegen."
[Wladimir I. Lenin: Der "linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus; Werke, Band 31; Berlin, Dietz, 1966; S. 71.]
[10]. Deutschland, Weimarer Verfassung, Artikel 48.
Am 6. Februar 1919 kommt in der Stadt Weimar eine verfassungsgebende Versammlung zusammen. Die neue Verfassung legt für Deutschland einen als Bundesrepublik definierten institutionellen Rahmen fest. Die gesetzgebende Versammlung (Reichstag) wird für eine Periode von vier Jahren gewählt. Der Präsident wird durch allgemeines Wahlrecht für eine Periode von sieben Jahren gewählt und verfügt über weite Vorrechte. Er kann den Reichstag auflösen, und der Artikel 48 der Verfassung gibt ihm das Recht, im Falle einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit den Ausnahmezustand zu verhängen und Notverordnungen zu erlassen, die Gesetzescharakter haben.
[11]. Österreich, Kriegswirtschaftliches Ermächtigungsgesetz, Gesetz vom 24. Juli 1917 (RGBl. Nummer 307).
Mit diesem Gesetz wird die Regierung ermächtigt, während der Dauer des 1. Weltkriegs notwendige Verfügungen für die Funktionsfähigkeit der Wirtschaft und für die Versorgung der Bevölkerung zu treffen. Es wird in die Republik übernommen und ist nach der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 bis zur Verfassung 1934 die Grundlage aller Notverordnungen des autoritären Ständestaats. Es wird erst durch das Bundesverfassungsgesetz vom 25. Juli 1946 (BGBl. Nummer 143) aufgehoben.
[12]. “Heimwehr”, in Österreich.
In Österreich bezeichnet der Sammelbegriff “Heimwehr” (oder die Varianten Heimwehren, Heimatwehr, Heimatschutz, Heimatdienst, Selbstschutzverband) Einheiten von Freiwilligenmilizen, die ursprünglich nach dem 1. Weltkrieg gebildet, und dann auf verschiedenen regionalen Ebenen zusammengefasst wurden.
[13]. Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutsch-Österreichs, Julius Deutsch.
Ab 1909 ist Julius Deutsch im Zentralsekretariat der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) tätig. 1918 wird er Unterstaatssekretär, 1919 Staatssekretär für Heerwesen; in dieser Funktion organisiert er die “Deutschösterreichische Volkswehr”, ein "Übergangsheer", das vor allem aus Freiwilligen besteht, die dem sozialdemokratischen Lager angehören. In Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Vertrags von Saint-Germain-en-Laye, der am 10. September 1919 zwischen Österreich und den Alliierten Siegermächten unterzeichnet wird, und der nur die Schaffung einer kleinen Berufsarmee erlaubt, wird die Volkswehr aufgelöst. Ihre Mitglieder werden teilweise eingereiht in den “Republikanischen Schutzbund”, der im April 1923 unter Führung von Deutsch gegründet wird. (Republikanischer Schutzbund: cf. Fußnoten 23 ► und 29 ►.) Im Zuge der Kämpfe von Februar 1934 flieht Deutsch, wie auch Otto Bauer, in die Tschechoslowakei, wo sie in Brünn das Auslandsbüro der österreichischen Sozialdemokraten (ALÖS) einrichten. Von 1936 bis 1939 befindet sich Deutsch in Spanien, wo er am Bürgerkrieg auf Seiten der republikanischen Truppen teilnimmt; danach begibt er sich in die USA.
[14]. Österreich, Vaterländische Front.
Am 20. Mai 1933 gründet in Österreich der Bundeskanzler Engelbert Dollfuß die “Vaterländische Front” als "überparteiliche" politische Organisation zur Zusammenfassung aller "regierungstreuen" Kräfte. In einer Rede am 11. September desselben Jahres auf dem Trabrennplatz in Wien verkündet er als Ziel die Errichtung eines "sozialen, christlichen, deutschen Staates Österreich auf ständischer Grundlage und starker autoritärer Führung". Die Vaterländische Front wird nach der Auflösung der Parteien alleiniger Träger der politischen Willensbildung und des Ständestaats. Bundesführer ist Dollfuß (bis 25. Juli 1934), dann Ernst Rüdiger Starhemberg (29. Juli 1934 - 14. März 1936) und schließlich Kurt Schuschnigg (14. März 1936 - 11. März 1938).
[15]. Österreichisch-Alpine Montangesellschaft.
Die Österreichisch-Alpine Montangesellschaft wird 1881 durch Zusammenschluss steirischer und Kärntner Hüttenbetriebe gegründet, und hat Leoben-Donawitz zum Zentrum. Der Standort ergibt sich aus der Nähe der Eisenerzförderung am Erzberg (Steiermark) und am Hüttenberg (Kärnten), Kohle kommt aus den Braunkohlegruben in der Nähe, Steinkohle aus Böhmen und Mähren. Wichtigster Abnehmer des Stahls sind die Werften an der österreichischen Adria. 1893 führt Donawitz als erstes Hüttenwerk in Europa das Roheisenerzverfahren im Siemens-Martin-Ofen ein; 1902 wird der zu diesem Zeitpunkt größte Hochofen Europas (300 t täglich) errichtet. 1907 besitzt Donawitz die größte einheitliche Stahlwerksanlage Europas. Nach 1918 folgt ein mehrmaliger Besitzerwechsel; die Aktienmajorität geht aus italienischem Besitz 1926 in deutsches Eigentum über (Stinnes und Siemens-Schuckert). 1938 wird die Österreichisch-Alpine Montangesellschaft mit der in Linz neugegründeten Hütte zur "Reichswerke AG Alpine Montanbetriebe “Hermann Göring”" vereinigt. 1946 wieder selbständig, wird die Österreichisch-Alpine Montangesellschaft verstaatlicht. Der Konzern wird 1973 mit der VÖEST AG (Vereinigte Österreichische Eisen- und Stahlwerke AG) zur VÖEST-Alpine AG fusioniert.
[16]. Deutschland, NSDAP, SPD und das "kleinere Übel".
In Deutschland wird am 28. Juni 1928 eine von Heinrich Müller (SPD) geführte Koalitionsregierung gebildet, die Mitglieder der SPD, des Zentrums, der DVP und der DDP umfasst. Am 27. März 1930 tritt Müller zurück, am 30. März wird eine von Heinrich Brüning (Zentrum) geführte Minderheitsregierung gebildet, die Mitglieder des Zentrums, der DVP, der DDP, der BVP, der WP, der DNVP umfasst, insbesondere den Innenminister Joseph Wirth (Zentrum), den Verteidigungsminister Wilhelm Groener, den Arbeitsminister Adam Stegerwald (Zentrum). Am 14. September finden Reichstagswahlen statt. Von insgesamt 577 Mandaten erzielt die SPD 143, die NSDAP 107, die KPD 77, das Zentrum 68. Die Regierung Brüning bleibt im Amt. Im Oktober 1931 wird diese Regierung von einer anderen, wieder von Brüning geführten Regierung mit geänderter Zusammensetzung abgelöst, welche bis zum 30. Mai 1932 im Amt bleibt.
Die Analyse der neuen Aufteilung im Parlament, nach den Wahlen von September 1930, führt Brüning sowie Wirth zur Ansicht, dass in der Praxis die Regierung nicht Gefahr läuft, gestürzt zu werden. Die NSDAP lässt klar wissen, dass sie es nicht eilig hat, in die Regierung einzutreten und dass, falls das Zentrum sie in diesem Sinne anspräche, sie die Ministerien des Inneren und der Verteidigung verlangen würde. Diese abwartende Haltung bringt eine passive Billigung mit sich, zumindest solange es nicht zu einer Ausweitung der Regierung zur SPD kommt. Letzterer gegenüber ist das Zentrum in günstiger Stärkeposition, da in Preußen eine am 5. April 1925 gebildete Koalitionsregierung im Amt ist, die von Otto Braun (SPD) geführt wird und Mitglieder der SPD, des Zentrums, der DDP, der DStP umfasst; jederzeit kann das Zentrum diese Regierung stürzen und Einberufung von Wahlen erzwingen.
Am 3. Oktober 1930 versammelt sich die Reichstagsfraktion der SPD. Aus der Diskussion geht die Annahme einer Tolerierungspolitik der Brüning-Regierung gegenüber hervor. Diese Haltung konkretisiert sich bei den Abstimmungen über verschiedene von den anderen Parteien dem Reichstag vorgelegte Misstrauensanträge.
[17]. SDAPDÖ, Fälle, in denen die Arbeiterschaft den Kampf auf jeden Fall wagen muss.
Am 17. September 1933 verkündet Dollfuß, daß alle Staatsangestellten in die patriotischen Gewerkschaften der Vaterländischen Front eingegliedert werden Zur Behandlung der eingetretenen Lage trifft sich der Parteivorstand der SDAPDÖ am selben Tag in gemeinsamer Sitzung mit dem Bundesvorstand der Gewerkschaften. Diese Sitzung resultiert in einem Beschluss:
Angesichts der gegenwärtigen politischen Lage sind Sonntag (17. September 1933) nachmittag der Parteivorstand der österreichischen Sozialdemokratie und der Bundesvorstand der freien Gewerkschaften zu einer gemeinsamen Sitzung zusammengetreten, der eine Beratung der Bezirksobmänner der Wiener sozialdemokratischen Organisationen gefolgt ist. Die Körperschaften haben folgenden Beschluß gefaßt: Die österreichische Arbeiterklasse ist willens, die Selbständigkeit Österreichs gegen jeden Angriff des braunen Faschismus zu verteidigen. Sie hat seit Monaten trotz den empfindlichsten Beeinträchtigungen ihrer politischen Freiheiten und ihrer sozialen Rechte die größte Zurückhaltung geübt, um alles zu vermeiden, was dem braunen Faschismus den Angriff gegen Osterreich erleichtern könnte. Aber der Parteivorstand und der Bundesvorstand stellen fest, daß die österreichischen Arbeiter und Angestellten diese Selbstüberwindung im Interesse der Abwehr des braunen Faschismus nicht zu dem Zweck geübt haben, um sich von einem österreichischen Heimwehrfaschismus niederwerfen zu lassen. Der Parteivorstand und der Bundesvorstand haben daher für den Fall eines gewalttätigen Angriffes des Heimwehrfaschismus gegen die verfassungsmäßige und gesetzliche Ordnung der Republik die erforderlichen Beschlüsse gefaßt.
[Otto Bauer: Werkausgabe, Band 5, München, Europaverlag, 1978; S. 695.]
Die Sitzung charakterisiert jene Fälle, die zu einem offenen Kampf gegen die Regierung führen müssen: 1. Die Auflösung der Sozialdemokratischen Partei durch die Regierung. 2. Die Auflösung der Freien Gewerkschaften und die Einsetzung eines Regierungskommissärs. 3. Die Auflösung der Wiener Gemeindeverwaltung und die Einsetzung eines Regierungskommissärs für Wien. 4. Das Oktroi, die Erlassung einer faschistischen Verfassung.
Vom 14. bis 16. Oktober 1933 wird in Wien ein außerordentlicher Parteitag der SDAPDÖ abgehalten. Es wird einstimmig eine Resolution beschlossen. Sie lautet sinngemäß wiedergegeben folgendermaßen:
Die Partei hat sechs Monate lang eine Taktik der Zurückhaltung, des Zuwartens und der größten Selbstbeherrschung geübt, um alles zu vermeiden, was dem deutschen Nationalfaschismus die willkommene Gelegenheit zu einem Angriff auf Österreich gegeben hätte. Die Partei war immer und bleibt auch jetzt zu friedlicher, verfassungsmäßiger Lösung der Krise bereit. Alle Erklärungen dieser Bereitschaft sind aber immer nur mit der Verschärfung des Kampfes gegen die Arbeiterklasse und die Sozialdemokratie beantwortet worden. Die gegenwärtige Lage erfordert daher eine Verstärkung der Aktivität der Partei. Die Partei kämpft für folgende Forderungen: 1. Wiedereinberufung der Volksvertretung. 2. Arbeitsbeschaffungsprogramm: Arbeit für 200.000 Arbeitslose. Hebung der Kaufkraft des Volkes. Schutz für die Löhne und Gehälter. 3. Wiederherstellung der vollen Koalitionsfreiheit. Aufhebung aller Maßnahmen, durch die das Arbeits- und Dienstrecht und die sozialen Schutzgesetze verschlechtert werden. 4. Aufhebung der seit dem 5. März verfügten Maßnahmen, durch die die Arbeitslosenfürsorge verschlechtert worden ist. 5. Wiederherstellung der Versammlungs- und Pressefreiheit für alle demokratischen Parteien. 6. Auflösung und Entwaffnung der faschistischen Wehrformationen. In ständiger Aktivität im Eintreten für diese Forderungen muß sich die Arbeiterschaft auf die Entscheidungen über die staatliche Zukunft Österreichs vorbereiten. Der Parteitag erinnert an den Beschluß, den der Parteivorstand und der Bundesvorstand der freien Gewerkschaften angesichts der Forderungen des Heimwehrfaschismus am 17. September gefaßt haben, und bekräftigt diesen Beschluß.
[Otto Bauer: Werkausgabe, Band 5, München, Europaverlag, 1978; S. 694.]
Otto Bauer hält eine Rede als Berichterstatter zum Thema "Die politische Lage". Er geht insbesondere auf die erwähnten für den "Fall eines gewalttätigen Angriffes des Heimwehrfaschismus gegen die verfassungsmäßige und gesetzliche Ordnung der Republik" gefassten Beschlüsse ein. Hierzu Auszüge aus seiner Rede [Hervorhebungen durch uns, 321ignition]:
Aber wenn wir als Vertrauensmänner beisammensitzen, wollen wir, wenn wir vom Kampf reden, in erster Linie die Voraussetzung dafür feststellen.
Was können diese Voraussetzungen sein? Ein solcher Kampf um Tod und Leben, bei dem es nicht nur um das Leben von tausenden Menschen, sondern um die Existenz der österreichischen Arbeiterbewegung überhaupt für viele Jahre geht, kann nur dann gewagt werden, wenn große Ereignisse die Leidenschaften des Volkes, den Zorn des Volkes, die Wut des Volkes weit über die Reihen der politisch interessierten Minderheit hinaus derart aufwühlen, daß der Zorn der Millionen eben stärker ist als die Bajonette von 20.000 oder 30.000 Mann, die man uns entgegenstellen kann.
Diese Tatsache sich zu vergegenwärtigen und vor allem festzuhalten, daß dieser Kampf nicht ein Putsch sein kann, der herbeigeführt wird durch ein Signal des Parteivorstandes, sondern daß er nur aus einer großen gewaltigen Aufwühlung der tiefsten Leidenschaften des Volkes hervorgehen kann, ist die erste Erkenntnis, die wir brauchen.
Aber nicht weniger wichtig, und das unterstreiche ich dreimal, ist meiner Meinung nach die andere Erkenntnis, die wir heute den Genossen entgegenhalten müssen, die aus dieser konkreten Anschauung des Kampfes falsche, gefährliche Schlüsse ziehen: Es gibt Genossen, die sich der ungeheuren Gefahr bewußt sind und wissen, was auf dem Spiel steht. Und sie ziehen daraus den Schluß, es sei überhaupt nicht zulässig ‑ unter keinen Umständen zulässig ‑, diesen Kampf zu wagen. Vor dieser Vorstellung möchte ich eindringlich warnen! Denn es gibt nach meiner Überzeugung keine größere Gefahr für die österreichische Arbeiterschaft im gegenwärtigen Augenblick, als diese Vorstellung. Es ist ja eine groteske Lage, in der wir sind. Da ist eine Regierung, hinter der ‑ wenn ich ein Drittel des Volkes annehme, so ist das sicher viel zu hoch ‑ vielleicht nicht einmal ein Viertel des Volkes steht, in Wirklichkeit demnach eine Regierung, die sich auf nichts stützt als auf die nackte Gewalt. Ja, sie verfügt über das Militär. Das Militär ist gegen uns, das ist zunächst sicher; ob es auch gegen die Nazi ist, weiß ich nicht. Die Regierung verfügt über die Polizei, die Gendarmerie, nicht zu hundert Prozent, aber zum großen Teil.
[...] So grotesk ist also das, was hier vorgeht. Eine Regierung, hinter der nichts steht als dies, und die in den Städten, vor allem in den Großstädten, nur winzig kleine Teile des Volkes hinter sich hat: eine solche Regierung regiert gegen 70 Prozent des Volkes. Sie greift einmal die Nazi an, einmal uns, löst die Nazi auf und droht am nächsten Tag auch uns mit der Auflösung. An Mut und Kühnheit ‑ wir wollen es auch dem Gegner anerkennen ‑ fehlt es Herrn Dr. Dollfuß nicht.
Jetzt aber sehen wir, wie das immer weiter fortschreitet, wie es zu immer unmöglicheren Forderungen führt, wie alle Mittel dem gegenüber versagen: die Mittel des Protestes, die Mittel der Berufung an das Rechtswissen, die Mittel selbst einer so gewaltigen großen Demonstration, wie es die Volksadresse war. Das alles gilt ja nicht mehr gegenüber Maschinengewehren. In so einer Situation, in der der Gegner alles tun zu können glaubt, in der er glaubt, diese ganze österreichische Partei, diese alte kampfgewohnte Arbeiterschaft einfach um alles bringen zu können, ihr morgen auch das gleiche Wahlrecht mit einem Federstrich nehmen zu können, bloß weil er über ein paar hundert Maschinengewehre verfügt, in so einer Zeit hat der Weg zum Faschismus gar keine Grenze mehr, wenn sie nicht in der Erkenntnis liegt: an einem bestimmten Punkt ist die Grenze gegeben, und wer sie überschreitet, muß dann damit rechnen, daß die österreichische Arbeiterschaft ohne alle anderen Rücksichten und Erwägungen kämpfen wird. Warum sind die Herren so dreist, warum werden sie immer kühner? Weil sie sich einbilden, daß wir den Kampf auf keinen Fall aufnehmen werden. Ja, Genossen, wir haben die stärksten Hemmungen. Ich habe hier schon davon gesprochen, Generalstreik in der Zeit der größten Arbeitslosigkeit, eine gewaltsame Auseinandersetzung, die nicht einem verlorenen Krieg folgt, sondern die mit einer vollkommen intakten militärischen Macht erfolgt, das sind gewisse Hemmungen! Das bedeutet aber auch, wenn es zum Kampf kommt, einen Kampf auf Leben und Tod. Und noch mehr: Wir sind die ganze Zeit hindurch durch den Gedanken gehemmt worden, daß wir nicht einem, sondern zwei Gegnern gegenüberstehen. All das hat uns gehemmt und um all dessentwillen haben wir das halbe Jahr lang jetzt eine Zurückhaltung und eine Selbstbeherrschung geübt, die wir uns vor zwei Jahren noch nicht hätten vorstellen können. Das hat den Gegner irregeführt, die Herren glauben, daß wir den Kampf nicht führen werden. Wenn auch wir das glaubten, wäre Österreich verloren, dann ginge Österreich den Weg zum Faschismus unaufhaltsam weiter. Wenn es zum Kampf kommt, dann könnte der Kampf auch, wie immer er ausgeht, den herrschenden Klassen verdammt kostspielig werden. Wenn ich früher gesagt habe, daß es gewiß auch eine Möglichkeit der friedlichen Entwirrung durch eine Verständigung mit der Bauernschaft gibt, so bin ich überzeugt, daß diese friedlichen Elemente in der Bauernschaft und im Bürgertum durch nichts so gestärkt werden könnten, als durch die Erkenntnis, daß man gewisse Grenzen nicht überschreiten darf, wenn man nicht eine Katastrophe herbeiführen will.
Welches sind aber die Grenzen?
Wir haben durch lange Zeit nicht darüber gesprochen. Als im Monat September die Ankündigungen des Faschismus immer massiver wurden, als Herr Starhemberg bei der Türkenbefreiungsfeier vor dem Rathaus seine Drohrede gehalten hat, als man jeden Tag die Verwirklichung des Totalitätstaates und die Auflösung aller Parteien und der Gewerkschaften ankündigte, als man von der Aufhebung des gleichen Wahlrechtes sprach, da mußten wir endlich einmal diese Grenzen festsetzen. Der Parteivorstand und der Bundesvorstand der Gewerkschaften sind an einem Sonntag im September [17. September 1933] auf Nachrichten hin, die wir bekommen hatten, zusammengetreten und haben diese Grenzen festgelegt. Wir haben vier Fälle festgestellt, die uns zu bezeichnen damals sehr aktuell erschienen sind. Vier Fälle, in denen die Arbeiterschaft den Kampf auf jeden Fall wagen müßte.
Der erste Fall wäre die Erfüllung der alten Heimwehrforderung nach Aufhebung der Rechte Wiens und Einsetzung eines Regierungskommissärs im Rathaus. Ich glaube, ich brauche kein Wort darüber zu reden, wenn die Arbeiterschaft einen solchen Staatsstreich ohne verzweifelte Gegenwehr dulden würde, wäre sie verloren. Alles andere käme dann selbstverständlich, so selbstverständlich wie in Deutschland nach dem 20. Juli, nachdem die Regierung Severing von einem Leutnant und drei Mann davongejagt worden ist und es keine Möglichkeit des Widerstandes in einem späteren Zeitpunkt gegeben hat. Ich möchte, daß man in den- Bundesländern nicht nur selbst diesen Zusammenhang verstehe, sondern daß auch den Massen klargemacht wird, daß Starhemberg recht hat, wenn er gesagt hat: die Einsetzung des Regierungskommissärs in Wien werde die Geburtsstunde des faschistischen Österreichs ‑ nicht Wiens ‑ sein. Das muß die Arbeiterschaft ganz Österreichs verstehen, das ist ein Kriegsfall für uns alle. Da bedarf es keiner weiteren Weisungen und Beschlüsse, keiner formellen Kriegserklärung, keines Ultimatums, da müssen wir alle an Ort und Stelle sofort wissen, was wir zu tun haben.
Wir haben einen zweiten Fall aufgestellt, der nicht weniger aktuell ist: Dieser Fall ist der Angriff auf die Gewerkschaften. Ich glaube nicht, daß Herr Dollfuß die Absicht hat, an einem Tag sämtliche österreichische Gewerkschaften aufzulösen oder gleichzuschalten. Die Herren haben sich ein anderes Vorgehen ersonnen, ganz nach dieser Methode, die Blum heute vormittag geschildert hat. Sie haben einen Teilangriff gemacht, und ich will auch da wieder nicht ungerecht sein und sagen, daß sie sich die richtige Stelle dazu ausgesucht haben. Die Genossen kennen die Vorgänge bei den Bundesbahnen. Herr Vaugoin* ist aus der Regierung hinausgeworfen worden. Der stolze Herr hat dafür gleich wieder eine andere Stelle angenommen. Aber er meint: wenn auch eine andere Stelle, so ist es doch dasselbe Metier. Und er meint, was er in einem siebenjährigen zähen Kampf gegen die Zähigkeit und Charakterstärke unserer roten Wehrmänner schließlich durchgesetzt hat, nicht weil er sie gebrochen hat, sondern weil ihre Dienstzeit zu Ende war und er andere Soldaten einstellen konnte ‑ nun, er meint also, dasselbe in ein paar Wochen mit dem alten Elitekorps der österreichischen Arbeiterschaft, den Eisenbahnern, tun zu können.
Man hat die Eisenbahner zunächst aufgefordert, der "Vaterländischen Front" (cf. Fußnote 14 ►) beizutreten. Der Parteivorstand hat sich schon viele Wochen früher aus einem anderen Anlaß mit der Frage des Beitritts zur Vaterländischen Front beschäftigt. Damals hat es sich um Bundesangestellte gehandelt. Der Parteivorstand hat schon damals, als auf Bundesangestellte auf verschiedenen Dienststellen ein erpresserischer Druck zum Beitritt zur Vaterländischen Front ausgeübt wurde, folgenden Beschluß gefaßt: Grundsätzlich ist selbstverständlich die Zugehörigkeit zur Vaterländischen Front mit der Zugehörigkeit zur Sozialdemokratischen Partei unvereinbar. Die Vaterländische Front hat selbst erklärt, daß in ihren Reihen für alle, die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen, kein Platz ist. Aber wir haben erklärt, daß, wenn Bundesangestellte in öffentlichen Dienststellen nicht anders können, als beizutreten, ohne ihre Existenz zu gefährden, so wird man das pardonieren und sie deswegen nicht aus der Partei ausschließen. Als man aber nun bei den Eisenbahnern damit begonnen hat, hat die Gewerkschaft der Eisenbahner im Einvernehmen mit der Partei einen anderen Weg, wie ich glaube mit Recht, gewählt. Denn da handelt es sich anders als bei den Bundesangestellten, um einen ersten Schritt gegen das Recht auf freigewerkschaftlichen Zusammenschluß. Die Gewerkschaft hat die Parole ausgegeben, nicht beizutreten. Wir wollen aussprechen, was ist, und wollen feststellen, daß diese Parole nicht überall durchgegriffen hat. Es gibt Orte und Dienststellen, wo sie in einer Tasche hängengeblieben ist und nicht zur Kenntnis aller organisierten Eisenbahner gekommen ist. Es hat auch Eisenbahner gegeben ‑ nicht etwa schlechte Genossen ‑, die schon seit 10, 15 oder mehr Jahren gewerkschaftlich organisiert sind, die schließlich dem Druck gewichen und beigetreten sind. Daß das geschehen ist, hat seine Ursache, die wir feststellen wollen. Es sind bei den Eisenbahnern infolge des Rückganges des Verkehrs einige tausend Bedienstete mehr, als man bei der jetzt üblichen Ausbeutung ihrer Arbeitskraft braucht, und viele tausende Eisenbahner fürchten daher den Abbau. Die Drohung, wer der Vaterländischen Front nicht beitritt, wird abgebaut, hat natürlich auf viele gewirkt. Niemand wird sich des Ausganges dieser Aktion freuen, aber man muß das natürlich menschlich begreiflich finden. Es wäre für jeden, der nicht in derselben Lage ist, allzu wohlfeil, allzu billig, wollte er jetzt den ersten Stein auf diese Eisenbahner werfen.
Aber das ist nicht das Entscheidende. Vorläufig stehen die Eisenbahner auf dem Standpunkt, wir bleiben, was wir sind: Parteigenossen, gewerkschaftlich organisiert; die zwanzig Groschen für die Vaterländische Front sind eine Versicherungsprämie, wie sie meinen, gegen den Abbau. Ich glaube allerdings, daß sich diese Art Versicherung als nicht sehr wirksam erweisen wird. Das ist nun geschehen. Aber täuschen wir uns nicht, es ist zu befürchten, daß der Gegner von diesem ersten Schritt zu einem zweiten kommen kann, der unvergleichlich ernster wäre und nicht so behandelt werden könnte wie der erste, bei dem wir menschlich begreifen, was bisher geschehen ist. Es kann der Moment kommen, wo man den Eisenbahnern sagt: Jetzt bist du Mitglied der Vaterländischen Front, Front, folglich darfst du weder sozialdemokratisch noch freigewerkschaftlich sein. Wenn das geschieht, so ist das der erste Schritt zum Angriff nicht nur auf die Gewerkschaft der Eisenbahner ‑ was allein schon lebenswichtig für die ganze Bewegung wäre ‑, sondern der erste Schritt zum Angriff auf die Freien Gewerkschaften überhaupt. Gelänge es der Reaktion, dort bei den Eisenbahnen die Gewerkschaft zu zerschlagen, dann wäre die Kampffähigkeit der ganzen österreichischen Arbeiterklasse gefährdet. Das würde die Entscheidungskämpfe sehr schwer beeinträchtigen, dann würde eine unentbehrliche Waffe fehlen, um die anderen Gewerkschaften gegen denselben Angriff zu schützen. Und deswegen ist es unsere Meinung, daß ein solcher Angriff auf die Eisenbahner ‑ nicht das, was bisher geschehen ist, aber das, was kommen kann ‑ die Existenzfrage der gewerkschaftlichen Organisation und damit die Frage der Wehrfähigkeit, der Entscheidungsfähigkeit, der Abwehrfähigkeit der Arbeiterklasse überhaupt aufrollt. Wir sind ferner der Meinung, daß, wenn ein solcher Terror die Eisenbahner zu einem Entscheidungskampf zwänge, es unmöglich wäre, die Eisenbahner in diesem Kampf allein zu lassen, sondern, daß dies der Fall wäre für einen Kampf der ganzen Arbeiterklasse.
Ich brauche über die anderen zwei Punkte, die wir in jener Sonntagssitzung formuliert haben, nicht ausführlich sprechen. Die Auflösung der Partei — wir werden uns doch nicht eine so gewaltige, so große, so ruhmreiche Partei einfach auflösen lassen: Das würde der Moment sein, da mit dem Kampfe auf der ganzen Front eingesetzt werden müßte. Oder wenn die Herren eine faschistische Verfassung, die das gleiche Wahlrecht aufheben will, die Souveränität des Volkswillens aufhebt und von oben her oktroyieren sollte, so wäre dies der Fall, in dem die Arbeiterschaft sich zur Wehr setzen muß. Das unterliegt keinem Zweifel.
Das sind die vier Punkte, die der Parteivorstand einvernehmlich festgestellt hat.
Glauben Sie nicht, daß wir jedem Kampfe ausweichen. Gewiß, wir kennen die Schwere eines solchen Entscheidungskampfes, wir erkennen die Gefahr, die aus der Existenz dieser drei Gegner hervorgeht. Aber es gibt Fälle, wo an nichts mehr gedacht werden darf, wo gekämpft werden muß. Und beschlossen haben wir es überdies, um unseren Gegnern zu sagen, sie sollen sich nicht einbilden, daß sie gehen können, so weit sie wollen. Die österreichische Arbeiterschaft kann Selbstbeherrschung üben, weil sie nicht wünscht, daß diese Kämpfe in diesem Land damit enden, daß die braunen Hemden ihr zum Trutz die Diktatur aufrichten. Aber es gibt Fälle, in denen man kämpfen muß und kämpfen wird, ohne jede Rücksicht, was daraus wird. Das mögen sich die Herren gesagt sein lassen. Wer immer einen solchen Kampf anfinge und provozierte, der wird, wie immer der Kampf ausgeht, erfahren, daß die österreichischen Arbeiter nicht billig, nicht wohlfeil, nicht ohne Risiko niederzuwerfen sind.
Das war der Sinn dieses Beschlusses. Er bedeutet natürlich nicht, daß diese Fälle die einzig denkbaren sind. Es können natürlich auch andere Fälle eintreten. Wir können uns sehr wohl vorstellen, daß sich die Situation völlig verändert, wenn etwa jene braunen Banden eines Tages in Österreich eindringen. Ich glaube, wir sind uns alle darüber einig, daß in diesem Fall, wir nicht die Regierung, aber die Freiheit des deutschösterreichischen Volkes verteidigen werden gegen die Unterjochung, gegen die Braunen. Es können andere Fälle vorkommen. Es können Provokationen verschiedenster Art den Kampf auslösen. Das kann natürlich niemand voraussagen, und niemand wollte das mit diesem Beschluß voraussagen. Wir wollten nach beiden Seiten, der Arbeiterschaft und der Regierung gegenüber, sagen: Grenzen gibt es; hütet euch, sie zu überschreiten. Ich glaube nicht, daß wir taktisch heute einen anderen Beschluß fassen können als in jener Sitzung.
Ich glaube, wir können auch heute nicht etwas anderes tun, als diese Beschlüsse zu bestätigen und zu bekräftigen. Ich weiß, sie sind nicht ein Rezept für alle möglichen Fälle. Alle möglichen Fälle kann niemand voraussehen. Ich weiß, es gibt Genossen, die andere Vorstellungen haben. Die meinen: ja, da überläßt man doch dem Dollfuß die Regierung, die Initiative; wenn sie diesen vier Dingen nur ausweichen, dann wird kein Kampf entbrennen und man gibt ihnen dadurch gewissermaßen einen Freibrief für anderes. Ich weiß, es gibt Genossen, die meinen, man müsse anders verfahren.
Es liegen auch Anträge in diesem Sinn vor, man müßte Forderungen stellen; wenn das oder jenes nicht geschieht, dann werden wir. an dem oder dem Tag um 12 Uhr mittag in den Streik treten. Das würde ich für töricht halten. Diese Politik sieht furchtbar revolutionär aus. Aber ich wünsche gar nicht, den Herren die Mitteilung zu machen, die für sie von außerordentlichem Wert wäre, für Maßregeln, die sie dann treffen würden. Ich würde das für falsch halten. Gewiß, es können auch Fälle eines Ultimatums, auch Fälle von Forderungen von unserer Seite auftreten. Ich glaube aber nicht, daß die Situation heute so ist. Ich glaube, wir können heute nichts anderes tun, als das bekräftigen, was wir gesagt haben.
Es hat nicht viel Sinn, über die Vergangenheit zu streiten, und es liegt mir daher sehr wenig daran, darzulegen, ob unsere Taktik vom 15. März das Ausweichen damals, richtig gewesen ist. Ich kann für den Parteivorstand wenigstens eines in Anspruch nehmen, daß er die Entscheidung damals, die dem Fühlen vieler Genossen so widersprochen hat und die viele Genossen uns heute noch zum Vorwurf machen, nur gefaßt hat nach dem schwersten Ringen jedes einzelnen mit sich selbst. Es hat keiner damals eine Nacht ruhig geschlafen, es hat jeder damals eine Woche lang mit sich gerungen, es ist keinem leicht geworden. Wir haben damals die Möglichkeit abgeschätzt und damals die Meinung gehabt, daß es richtig war, auszuweichen. Ob das andere richtiger gewesen wäre, läßt sich nicht beweisen, läßt sich auch nicht experimentell festsetzen. Aber wie immer das in der Vergangenheit war, wir wollen heute nicht darüber streiten, wir wollen der Arbeiterschaft klarmachen, daß Fragen, die einen Kampf betreffen, der auf Tod und Leben gehen müßte, nicht mit der schon erwähnten “Leutnants-Psychologie” gelöst werden können, sondern höchste Verantwortlichkeit erfordern. Und wir müssen der Arbeiterschaft deshalb das Verständnis dafür beibringen, warum wir jenen Beschluß damals nicht gefaßt haben.
Aber auf der anderen Seite müssen wir uns mit der größten Entschiedenheit gegen jeden Kleinmut wenden, der diesen Entscheidungskampf für überhaupt nicht mehr möglich oder wagbar hält, denn das wäre eine entscheidende Hilfe für den Faschismus, wenn wir uns auf diesen Standpunkt stellten. Heute vormittag hat einer unserer Freunde von der Internationale gesagt: Die Internationale erwartet, daß die Arbeiterschaft in jedem Fall die Ehre des internationalen Proletariats wahren werde. Er hat damit sicher gemeint, daß dem Faschismus kampflos unterliegen eine Gefahr für die Ehre des internationalen Proletariats sei. Für mich ist das nicht der entscheidende Grund. Ich will aus Fragen, bei denen es um Leben und Tod von Tausenden und Zehntausenden Menschen, um Witwen und Waisen und um das Schicksal der ganzen Bewegung geht, keine Prestige- und keine Ehrenfrage machen, sondern mir handelt es sich um etwas ganz anderes. Es geht hier darum, daß wenn die Grenzen überschritten würden, die wirklich Faschismus bedeuten, daß in diesem Fall nur unsere Entschlossenheit dem Gegner Einhalt gebieten kann. Es geht heute darum, das Interesse der österreichischen Arbeiterbewegung und das Interesse der internationalen Arbeiterbewegung zu wahren, indem wir dem Gegner das Gefühl beibringen, daß es ihm keinesfalls wohlfeil und billig gelingen mag, eine große Arbeiterpartei zu besiegen. Denn wenn wir heute in dieser Lage sind, so nicht nur darum, weil die deutsche Sozialdemokratie geschlagen worden ist, sondern weil sie kampflos geschlagen worden ist. Seither hören wir den Gegner alltäglich das zynische Wort Mussolinis des Jüngeren** gebrauchen: Der Marxismus sei doch nur ein Schwamm; wenn man den zusammendrückt, fließt das Wasser heraus und man sehe dann, daß er nur so aufgedunsen gewesen und gar nicht so groß gewesen sei, wie er es schien. Diese Meinung der österreichischen und auch der internationalen Bourgeoisie zu widerlegen, das ist unsere große Aufgabe, sonst ist die Sozialdemokratie in der Welt verloren.
Und deswegen: Nicht leichtfertig über den Kampf reden! Wir müssen wissen, was das bedeutet, wie schwer die Schicksalsfrage ist und worum da gespielt wird. Wir müssen volle Klarheit darüber haben und dann verstehen, daß man so etwas nicht machen kann, wegen irgendeiner Notverordnung, die diese oder jene Gruppe von Arbeitern betrifft, sondern daß so etwas nur geschehen kann, wenn Ereignisse von ganz großem Ausmaß die Leidenschaften der breiten Massen der Arbeitenden und Arbeitslosen so aufgewühlt haben, daß der Kampf auch dann gelingen kann. Aber bei vollem Verständnis für die Bedingtheit dieses Kampfes müssen wir zugleich entschlossen, unbeugsam, hart und kühn für den Kampf sein, sobald es sein muß. Wenn der Gegner wirklich aus diesem Österreich einen faschistischen Staat machen will, wenn er diese österreichische Sozialdemokratie, die soviel für dieses Land seit Jahrzehnten und, ich darf wohl sagen, so viel auch in der Welt bedeutet, wirklich zerstören und vernichten wollte: Dann keine Sentimentalitäten, keine Weichheit mehr. Dann in den Kampf gehen, aber mit der Erkenntnis, was dieser Kampf bedeutet. Dann muß man wissen, daß das ein anderer Kampf ist als alle Kämpfe vorher, daß es kein Pardon mehr gibt und keine Rücksicht, daß* es keine andere Entscheidung gibt, als zu siegen oder unterzugehen und für lange Zelt zu verschwinden!
[Otto Bauer: Werkausgabe, Band 5, München, Europaverlag, 1978; S. 714 ff.]
* Carl Vaugoin (Christlichsoziale Partei). 1921 und 1922‑1933 Bundesminister für Heereswesen, 1929‑1930 Vizekanzler, September-Dezember 1930 Bundeskanzler.
** Gemeint ist Bundeskanzler Dollfuß.
[18]. SDAPDÖ, Parteitag 1933.
Vom 14. bis 16. Oktober 1933 findet der letzte, außerordentliche Parteitag der SDAPDÖ statt, an dem 31 Delegierte teilnehmen. Die Partei hatte sich der Forderung des Kanzlers Dollfuß gebeugt, die Abhaltung des Parteitags von seiner Erlaubnis abhängig zu machen, welche er bis zum 14. Oktober um 4.00 Uhr früh nicht erteilte. Dann bestand die Regierung darauf, daß der Parteitag überwacht werde; und erst im letzten Augenblick begnügte sie sich damit, daß dem Staatssekretär Karwinsky jeden Abend eine Abschrift des Verhandlungsprotokolls zugestellt werde.
[19]. Illegale Wochenschrift der österreichischen Sozialdemokratie, Artikel Januar-Februar 1934.
Die Nummer vom 19. Jänner 1934 (Ruf der Wahrheit) beschäftigt sich unter dem Titel "Irrsinnig" mit Details über die Pläne einer von Dollfuß angestrebten Verfassungsänderung; und auf Seite 4 ("Warnung! Bürgerkrieg droht") werden die "vier Kriegsfälle", die einen Generalstreik im Gefolge haben würden, in Erinnerung gebracht. Der Ruf der Wahrheit vom 30. Jänner 1934 bringt auf Seite 1 "Enthüllungen über die Verhandlungen zwischen Dollfuß und Hitler". Auf Seite 5 wird auf eine andere Gefahr hingewiesen: "Habsburg vor den Toren! Kriegsgefahr für Österreich! Kriegsbündnis zwischen Italien - Österreich - Ungarn. Der Zweck des Besuches von Herrn Suvich (cf. Fußnote 22 ►)." Die letzte Nummer (Ruf der Freiheit) erscheint am 11. Februar 1934. Ein Artikel trägt den Titel "Staatsstreichpläne in Wien und Innsbruck" (Innsbruck ist die Landeshauptstadt des Landes Tirol) mit dem Untertitel "Der Bürgerkrieg unmittelbar vor dem Ausbruch". Im Leitartikel dieser Ausgabe heißt es: "Österreich ist in den letzten Tagen hart an der Katastrophe des Bürgerkrieges vorbeigegangen". Es werden die vorangegangen Tage geschildert und dann heißt es weiter: "Was tun, wenn die Nazis losschlagen? Dann gilt es, sie mit allen Kräften niederzuschlagen! Sehr ernste Überlegungen, die jeden Tag aktuell werden können."
[20]. Österreich, Emil Fey.
Emil Fey ist ab 1908 Berufsoffizier. Nach Ende des Ersten Weltkriegs wird er politisch tätig, vorerst in der Frontkämpfervereinigung, später in der Wiener Heimatschutzbewegung. Er gibt die "Österreichische Wehrzeitung" heraus, gründet 1923 die Deutschmeister-Heimwehr, dann den Wiener Kriegerbund, wird 1926 Präsident des Wiener Kameradschafts- und Kriegerbunds und gründet 1927 die Wiener Heimwehr. 1930 schließt er die von ihm geführte Heimwehr mit den Christlichsozialen unter dem Namen "Christlichsoziale Partei und Heimwehr" zusammen und wird Heimwehrlandesführer von Wien. Vom 17. Oktober 1932 bis 10. Mai 1933 ist er Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, anschließend bis 21. September Bundesminister für öffentliche Sicherheit. Am 21. September 1933 wird er Vizekanzler ohne Portefeuille (bis 1. Mai 1934). Vom 11. bis 25. Juli 1934 ist er Bundesminister ohne Geschäftsbereich, vom 30. Juli 1934 bis 17. Oktober 1935 Bundesminister für Inneres (zugleich Generalstaatskommissär für außerordentliche Maßnahmen zur Bekämpfung staats- und regierungsfeindlichen Bestrebungen in der Privatwirtschaft); ab diesem Zeitpunkt schließt er sich politisch eng an Ernst Rüdiger Starhemberg (cf. Fußnote 5 ►) an, mit dem er bis dahin rivalisiert hatte. Feys Rolle während des Juliputsches und bei der Ermordung Dollfuß' (cf. Fußnote 4 ►) ist ungeklärt und umstritten. Im Kabinett Schuschnigg ist Fey Generalstaatskommissär. Am 17. Oktober 1935 scheidet er aus der Regierung aus, im Oktober 1936 erfolgt sein Ausschluss aus der Heimwehr. Ab 7. November 1935 ist er Präsident der Donau-Dampfschifffahrts-Gesellschaft.
[22]. Österreich, Emil Fey, 11. Februar 1934.
Am 11. Februar 1934 versammeln sich Mannschaften einer Wiener Heimatschutzabteilung nach einer Geländeübung in Lang-Enzersdorf bei Wien vor dem Kriegerdenkmal des Ortes zu einer Ehrung der Gefallenen aus dem ersten Weltkrieg. Der Vizekanzler Fey und der Staatssekretär Fürst Schönburg-Hartenstein wohnen der Kundgebung bei. Fey hält eine Rede:
Ich will am Grabe altösterreichischer Soldaten keine politische Rede halten. Ich möchte Ihnen nur sagen, daß wir dieselben Aufgaben und Pflichten haben wie die Helden des großen Krieges: Zu kämpfen für unser Vaterland und, wenn es gilt, für das Vaterland auch zu sterben. Ihr Heimatschützer habt brav gekämpft und darum habt ihr Anspruch auf Lob und Anerkennung, die euch das Vaterland nicht versagen wird. Ich kann euch beruhigen, die Aussprachen von vorgestern und gestern haben uns die Gewißheit gegeben, daß Kanzler Dr. Dollfuß der Unsrige ist. Ich kann euch noch mehr, wenn auch nur mit kurzen Worten, sagen: Wir werden morgen an die Arbeit gehen und wir werden ganze Arbeit leisten für unser Vaterland, das nur uns Österreichern allein gehört, das wir uns von niemandem nehmen lassen und für das wir kämpfen wie jene Helden, die wir grüßen mit dem Gruße: Heil Österreich!
(Bericht der Reichspost in dem Montag, 12. Februar, erschienenen Blatte. Wiedergabe nach dem von der Pressestelle des Heimatschutzes ausgegebenen Wortlaut.)
[Friedrich Funder: Als Österreich den Sturm bestand - aus der Ersten in die Zweite Republik; Herold, 1957; S. 140‑141.]
Der Autor des Buches, dem das Zitat entnommen ist, Friedrich Funder, war von 1905 bis 1938 Herausgeber und Chefredakteur der christlichsozialen Zeitung Die Reichspost. Er interpretiert die Rede Feys in dem Sinne, dass sie gegen die von Seiten der deutschen Nationalsozialisten ausgehende Gefahr gerichtet gewesen sei, und nicht eine auf den Schutzbund abgezielte, am darauffolgenden Tage ins Werk umgesetzte, Drohung. Dies mag stimmen, insoweit Frey von Vaterlandsverteidigung nach dem Beispiel des 1. Weltkrieges spricht. Jedoch liefert Funder selbst Erklärungen [S. 142], welche, entgegen seiner Absicht, die von ihm bestrittene Behauptung bekräftigt. Er bezieht sich auf den Satz "die Aussprachen von vorgestern und gestern haben uns die Gewißheit gegeben, daß Kanzler Dr. Dollfuß der Unsrige ist." Er erläutert, worum es bei diesen Aussprachen ging, nämlich das Streben der Heimwehr nach Beteiligung an der Regierungsmacht in den Bundesländern. Dieser Anspruch stellte einen tiefgreifenden Eingriff in die Länderautonomie dar und rief in fast allen Bundesländern Widerspruch hervor. Zur Zeit der Rede Feys war der Bundeskanzler Dollfuß im Ausland, die Verhandlungen sollten nach seiner Rückkehr fortgeführt werden. Gemäß der beruhigenden Interpretation durch Funder, bedeutete der Ausdruck "an die Arbeit gehen" nur, dass der Heimatschutz damit rechnete, dass das Ergebnis seinen Wünschen entsprechen werde. Dies war aber genau der Grund der Befürchtungen seitens der Sozialdemokraten.
Am 6. Februar bringt die Arbeiterzeitung in einer nach Konfiskation mit weißen Flecken gekennzeichneten Ausgabe unter dem Titel "Die Lage in Tirol" den Untertitel "Die Tiroler Christlichsozialen gegen Fascisierung" mit einem Bericht über Machtansprüche der Tiroler Heimwehr, gegen welche sich die Christlichsozialen zur Wehr setzen. Die illegale sozialdemokratische Zeitung warnt ebenfalls während der dem 12. Februar vorangehenden Wochen vor der Gefahr eines Bürgerkrieges in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Plänen der faschistischen Kräfte: cf. Fußnote 19 ►.
Vom 18. bis 20. Januar 1934 befindet sich der italienische Unterstaatssekretär Suvich auf Besuch in Wien. Nach seiner Rückkehr richtet er am 26. Januar ein Schreiben an Dollfuß. Es geht daraus klar hervor, wie die Sorge Freys in Bezug auf die Unabhängigkeit Österreichs den deutschen Nationalsozialisten gegenüber zu verstehen ist, nämlich als enge Bindung an den italienischen Faschismus. Suvich formuliert auch offen die politische Orientierung, welche dieser Beziehung zwischen Österreich und Italien zu Grunde liegen soll, und aus der sich die Ereignisse der Februartage folgerichtig ergeben.
Streng vertraulich, persönlich. Rom, 26. Jänner 1934. Nach meinem kurzen Aufenthalt in Österreich, der in mir so angenehme Erinnerung zurückließ, nach Italien zurückgekehrt, habe ich mich beeilt, meine Eindrücke dem Regierungschef vorzutragen. In erster Linie habe ich ihm gesagt, ich hätte den Eindruck gewonnen, daß die Regierung in der Lage ist, die Situation zu beherrschen, obwohl diese, insbesondere in der Provinz, an einem kritischen Punkte angelangt sei; ferner, daß die Kraft der Regierung in einem Augenblick so starker politischer Spannungen vor allem auf der bewaffneten Macht und den Heimwehren beruhe, daß die Unterstützung der Heimwehren unentbehrlich sei, um den Eindruck einer Reaktion auch von Seite der Bevölkerung gegen die Nazi zu geben; daß die Aktivität der Heimwehren sowie auch die anderer Organisationen derselben Art, die der Regierung günstig gesinnt sind, die notwendige Bedingung dafür sei, daß die bewaffneten Kräfte und auch die der öffentlichen Sicherheit der Regierung die Treue halten, da diese sonst sich in der öffentlichen Meinung isoliert fühlen würden. Ich habe beigefügt, daß ich hingegen den Eindruck eines ziemlich weitverbreiteten Unbehagens wegen einer gewissen Untätigkeit der Regierung und wegen der in dem Erneuerungswerk eingetretenen Verzögerung gehabt hätte; ferner, daß die aktiven Kräfte und insbesondere die jugendlichen Anhänger der Regierung bereit wären, der Regierung ihr Vertrauen zu erhalten, jedoch nur, wenn eine größere Entschiedenheit und Präzision im Erneuerungswerk sichtbar werden würde, welches sich auf einige genau umrissene Grundlinien stützt: den Kampf gegen den Marxismus, die Reform der Verfassung in einem antiparlamentarischen und korporativen Sinne, die Beseitigung der Parteien und die Stärkung der Vaterländischen Front; schließlich, daß der Augenblick, um dieses entschiedenere Werk in Angriff zu nehmen, nicht weiter hinausgeschoben werden könne. Es war auch mein Eindruck, daß die große Popularität, die der Bundeskanzler anläßlich seines ersten Auftretens im politischen Leben Österreichs gefunden hat, vor allem der Überzeugung entsprungen ist, daß er der neue Mann ist, der mit all dem Schutt des ehemaligen demokratischen Österreich reinen Tisch zu machen vermag; weiters, daß es nötig ist, in dieser Beziehung der österreichischen öffentlichen Meinung absolut keine Enttäuschungen zu bereiten, damit sie sich nicht den Nazi zuwende, bei welchen sie einen strammen Erneuerungswillen erblickt. Eine Haltung in diesem Sinne, d. h. entschiedenen Erneuerungswillens, habe die Abwehr gegen den Terrorismus der Nazi gerechtfertigt, welche Abwehr nun mit der allergrößten Energie durchgeführt werden muß. In dieser Hinsicht ist der Umstand, daß die oberste Leitung über alle polizeilichen Kräfte dem Vizekanzler Fey übertragen worden ist, ein Motiv der Beruhigung. Unter dieser Bedingung, habe ich dem Regierungschef erklärt, halte ich die Sache der österreichischen Unabhängigkeit und des durch Euer Exzellenz verkörperten Regimes für rettbar. [...]
[Karl Hans Sailer: Geheimer Briefwechsel Mussolini-Dollfuß; Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1949; S. 44.]
[23]. Waffenbestände des Republikanischen Schutzbundes.
Die nach 1918 durch den Ausgang des Weltkrieges geschaffene Lage in Südosteuropa ist durch den Vertrag von Saint-Germain-en-Laye bestimmt. Insbesondere werden das Ausmaß und die Zusammensetzung der bewaffneten Streit- und Polizeikräfte beschränkt. Es besteht allerdings eine Reihe von paramilitärischen, über Waffen verfügenden Verbänden.
1919 organisiert Julius Deutsch (SDAPDÖ) als Staatssekretär für Heerwesen die “Deutschösterreichische Volkswehr”, die Freiwillige einbezieht, welche vor allem dem sozialdemokratischen Lager angehören. Infolge des Vertrags von Saint-Germain-en-Laye wird diese Volkswehr aufgelöst. Nach den Nationalratswahlen von Oktober 1920 ist die SDAPDÖ zwar nicht mehr an der Regierung beteiligt, sie hält aber starke Stellungen auf den unteren Verwaltungsebenen inne, insbesondere für Wien. 1923‑1924 organisiert Deutsch den “Republikanischen Schutzbund” als Dachverband bewaffneter Arbeiterwehren. Dem Schutzbund schließen sich viele ehemalige Mitglieder der Volkswehr an; er kann auf inoffizielle Waffenbestände zurückgreifen, über die im Einvernehmen mit der SDAPDÖ verfügt wird. Die Regierung ihrerseits bemüht sich, diese Waffen unter ihre Kontrolle zu bringen. Als sie Information über ein Waffenlager im Wiener Arsenal (siehe weiter unten Notiz über das Arsenal) erlangt, unternimmt Heeresminister Carl Vaugoin (Christlichsoziale Partei) am 2. März 1927 eine Beschlagnahmungsaktion. Alarmierte Schutzbundgruppen aus der Nachbarschaft greifen ein, einige Kompagnien des Bundesheeres werden eingesetzt. Der Obmann des Metallarbeiterverbandes, Franz Domes, droht dem Polizeipräsidenten Johann Schober gegenüber mit einem Streik der Elektrizitätsversorgung. Das Militär rückt aus dem Arsenal ab. Drei Tage später bereitet Vaugoin die ganze Wiener Garnison für eine erneute Aktion vor, jedoch kommen Bürgermeister Karl Seitz (SDAPDÖ) und Bundeskanzler Ignaz Seipel (Christlichsoziale Partei) dahingehend überein, daß Verhandlungen über die Unterbringung der Waffen eingeleitet werden. Am 16. Mai einigen sich die Sozialdemokraten und die Regierung; demgemäß wird im Juni das Waffenlager in einem anderen Gebäude untergebracht, wo es nun gemeinsam von einem Offizier und einem sozialdemokratischen Vertrauensmann kontrolliert wird. Jedoch wird diese Regelung letztlich im November 1930 nichtig. Zu diesem Zeitpunkt, infolge einer im September ausgebrochenen Regierungskrise, steht Vaugoin an der Spitze einer provisorischen Regierung, während Neuwahlen für den 9. November angesetzt sind. Vaugoin läßt am 8. November die aus dem Arsenal stammenden Waffen einseitig beschlagnahmen.
Notiz: Wiener Arsenal.
Nach der Niederschlagung der Revolution 1848 wurde beschlossen, rund um die Innenstadt "Defensivkasernen" (gegen künftige Aufstände der Arbeiterschaft; Kaiser-Franz-Joseph-Kaserne, Kronprinz-Rudolf-Kaserne [Roßauer Kaserne]) sowie am Laaer Berg ein k. k. Artillerie-Arsenal zu errichten, um über eine zentrale verteidigungsfähige militärische Anlage in geeigneter Position zu verfügen. Das Arsenal wurde 1849‑1856 außerhalb des Linienwalls (in dem seit 1938 dem 3. Bezirk eingegliederten Bereich Arsenalstraße, Ghegastraße, Lilienthalgasse) auf einer Fläche von 330.000 Quadratmetern erbaut. Im Ersten Weltkrieg entwickelte sich das Arsenal zu einem gewaltigen Rüstungsbetrieb mit eigener Energieversorgung, Stahlwerk und Gießerei, in dem bis zu 20.000 Personen in 18 Fabriken beschäftigt waren, weit überwiegend angelernte Arbeitskräfte, vor allem Frauen aus Wien und Männer aus allen Teilen der Monarchie sowie Kriegsgefangene. Als erste organisatorische Maßnahme erfolgte nach Ende des Ersten Weltkrieges die Loslösung aus der militärischen Verwaltung. Eine Kommission im Staatsamt für Kriegs- und Übergangswirtschaft riet zur Umstellung auf Friedensproduktion, doch ergaben sich dabei größte Schwierigkeiten, weil Betriebskapital, Verkaufsorganisation und kaufmännische Verwaltung fehlten. Bis Mai 1919 sank der Arbeiterstand bereits auf etwa 3000 Personen, vor allem infolge der Entlassung der Frauen und der Ausländer. Die verbliebenen Arbeiter waren überwiegend hochqualifizierte Facharbeiter mit starkem, politischem Bewusstsein. Im Arsenal wurde eine Arbeiterwehr aufgestellt. Die genannte Kommission hatte die Aufgabe des Standorts Arsenal und die Errichtung neuer Ersatzbetriebe empfohlen, die Arbeiter vor Ort und die Metallarbeitergewerkschaft hatten dies aber wegen der Gefahr des Verlustes weiterer Arbeitsplätze strikt abgelehnt. Wegen befürchteter Arbeiterunruhen beschloss die Regierung am 1. Oktober 1919, das Arsenal in die "Österreichischen Industriewerke" einzugliedern. Die Generaldirektion der staatlichen Industriewerke trat im Sommer 1920 in Verkaufsverhandlungen mit privaten Interessenten, so mit der Creditanstalt, deren Konzern auch Rüstungsbetriebe angehörten. Die Bank wollte aber keine Arbeitsplatzgarantie abgeben, woraufhin die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie (SDAPDÖ) diesen Vorschlag ablehnten. Auf Drängen der Arbeiter, das von den Sozialdemokraten in der Regierung und im Parlament unterstützt wurde, auf Vorschlag von Otto Bauer Anfang 1921 wurden die metallverarbeitenden Anlagen des Arsenals als eigene Gesellschaft ins Handelsregister unter dem Namen "Österreichische Werke, Gemeinwirtschaftliche Anstalt in Wien" (ÖWA) eingetragen. Der österreichische Staat errichtete unter der Firma Österreichische Werke Gemeinwirtschaftliche Anstalt eine gemeinwirtschaftliche Anstalt im Sinne des Gesetzes vom 29. Juli 1919, welche die Aufgabe hatte, die Industriewerke Arsenal zu erwerben und weiter zu betreiben, sowie bei der Verwertung der Wöllersdorfer Werke, der Industriewerke Fischamend, der Wörther Werke und der Industriewerke Klosterneuburg mitzuwirken. Die Betriebsverfassung der österreichischen Werke enthielt weitgehende Mitbestimmungsrechte der Betriebsräte. Ein einheitlicher Plan zur Entwicklung des Unternehmens bestand nicht, die einzelnen Teilbetriebe wirtschafteten isoliert, die Produktion war zersplittert. 1922 wurden etwa Drehbänke, Bohrmaschinen, Holzbearbeitungsmaschinen, Sägen, Pflüge, Pistolen, Jagdgewehre, Möbel, Kleinautos produziert. Bereits wenige Monate nach der Gründung der Österreichischen Werke kam es zu größeren finanziellen Schwierigkeiten. Auch ein von Hugo Breitner vermittelter Kredit der Zentralsparkasse konnte an der katastrophalen Situation nicht ändern. Im Oktober 1924 zog sich Generaldirektor Max Ried aus sämtlichen Funktionen des Unternehmens zurück. 1925 wurde die Verwertungsgesellschaft gegründet, welche zugleich Treuhänderin der Republik Österreich war und mit dem Verkauf der Restbestände betraut wurde. 2000 Mitarbeiter wurden entlassen. Bis Ende des Jahres 1925 wurden die Österreichischen Werke auf die Maschinenfabrik und die Gießerei reduziert. Der Abverkauf dauerte drei Jahre, danach wurde die Verwertungsstelle am 28. Februar 1929 aufgelöst. Die Österreichischen Werke Gemeinwirtschaftliche Anstalt traten dann Mitte der 1930er Jahre endgültig in Liquidation.
[24]. Österreich, Wien, Juli 1927 - Sozialdemokratische Darstellung.
Mitteilungs-Blatt, herausgegeben von der SDAPDÖ, 17. Juli 1927. Unter der Überschrift "Kommunisten und Plattenbrüder* überfallen den Schutzbund" liest man:
Eine Bande jugendlicher Kommunisten und anderes Gesindel terrorisierten in den Nachmittagsstunden [Samstag 16. Juli] die äußeren Gegenden von Hernals. In kleinen Gruppen zogen die verantwortungslosen Burschen durch die Straßen und entfesselten, wo sie hinkamen, einen Wirbel. Oftmals von der Polizei zerstreut, rotteten sie sich immer wieder zusammen und versetzten den Bezirk in heftige Erregung. In der Kinderfreundebaracke in der Hernalser Hauptstraße war der Hernalser Schutzbund untergebracht. Die Strolche stürmten gegen die Einfriedung los, zertrümmerten das Gitter, schlugen Fenster und Türen ein und gingen gegen den Schutzbund los. Um neues Blutvergießen zu vermeiden, zogen sich die Ordner in das Bezirkssekretariat in der Rötzergasse zurück. Die wilde Horde versuchte nun die schon gestern ausgebrannte Wachstube Rasensteingasse neuerlich in Brand zu stecken. Von Polizisten im Auto verjagt, zogen sie sich zurück, errichteten zwischen dem Viadukt der Vorortelinie und der Rosensteingasse Barrikaden aus Eisenschienen und Gartenbänken von denen sie immer wieder hervorbrachen. Dabei kam es fortwährend zu Schießereien zwischen der Wache und den Plattenbrüdern, deren Opfer friedfertige Menschen wurden. Die Wache fuhr in Gesellschaftswagen durch die Straßen, hatte an den Wänden rechts und links die Gewehre in Anschlag und schoß. Dabei wurde ein braver Hernalser Schutzbündler Franz Müller, der, eben vor den exzedierenden Kommunisten flüchtend, nach Hause gehen wollte, tödlich getroffen. Außerdem wurde ein Straßenbahner und eine Frau, die zum Fenster ihrer Wohnung herausschaute, erschossen. Ein Wachinspektor wurde von den Radaubrüdern erstochen, ein anderer erschossen. Insgesamt gab es sechs Tote. Viele Verletzte wurden in die Spitäler geschafft.
[Daniel Karl Rosenbaum, Walter Schneider, Elisabeth Thury: Die Schreckenstage von Wien - Geschichte und Darstellung der Wiener Julirevolte 1927; Wien, Wiener Allgemeine Zeitungs- und Verlags-Aktiengesellschaft, 1927; S. 36]
* "Die Platte" (Femininum) ist in Österreich ein mundartlicher Ausdruck für "Verbrecherbande, Gang". Das Mitglied einer "Platte" nennt man "Plattenbruder" oder "Plattner".
Am 26. Juli 1927 stehen im Nationalrat die Ereignisse vom 15., 16. und 17. Juli an der Tagesordnung. Otto Bauer unterbreitet einen Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, sowie einen Antrag, der Regierung das Vertrauen zu entziehen. In seiner Rede drückt er sich gegenüber den Kämpfern dieser Tage mit relativer Zurückhaltung aus, hält jedoch an der grundlegenden Gegenüberstellung von Unruhestiftern und unbeteiligten Opfern fest. Er versucht eindringlich, die Regierung für die sozialdemokratischen Bemühungen zu gewinnen, die darauf abzielen, den trügerischen Schein einer Klassenversöhnung aufrecht zu erhalten:
[...] Aber, meine Herren, begreifen Sie einmal, warum wir diese Forderung stellen. Ich weiß nicht, ob Sie sich das vergegenwärtigt haben, was heute in der Seele von hunderttausend Menschen lebt. Denken Sie einmal nach, Sie haben es am 15. Juli doch erlebt, welche entsetzliche Gefahr es ist, wenn sich in der Seele breiter Menschenmassen der Haß, die Erbitterung über erlittenes Unrecht, über Verweigerung des Rechtes einnistet. Nun denken Sie einmal nach, in welcher Stimmung diese Menschen, die damals schon so aufgeregt waren, heute erst sind. An diesem Tage sind doch zwischen das Feuer der Polizei Tausende und aber Tausende Menschen gekommen, nicht nur Demonstranten, sondern neugierige Zuschauer, zufällige Passanten, alles mögliche. Sie haben ja gar keine Vorstellung, was das hervorgerufen hat. Jeder, der dieses Davonlaufen vor den Gewehren, der diese Flucht vor dem Tod, diese Flucht in der schrecklichsten Angst einmal mitgemacht hat, in dem lebt noch jetzt ein Gefühl der Erniedrigung, ein Gefühl der Demütigung, ein Gefühl der Verbitterung, ein Gefühl des Hasses, und ich fürchte, meine Herren, in vielen Fällen das Schlimmste: nämlich ein Gefühl der Rachsucht. Diese Menschen gehen jetzt stumm dahin, sie gehen früh in die Fabrik, wenn sie Arbeit haben, und abends nach Hause und leben ihr kärgliches Leben weiter, sie stehen in den Arbeitsvermittlungsämtern herum, wenn sie arbeitslos sind, und tragen diese Not weiter, stumm, und fressen diesen Haß, diese Erbitterung und dieses Gefühl der Demütigung in sich hinein. Und nun denken Sie einmal, meine Herren, was kommen wird. Dann werden, wenn Sie nicht mit einer Amnestie vorgehen, die Prozesse kommen, nicht etwa nur die Prozesse gegen Plünderer, Brandstifter oder Totschläger, nein, die ganzen anderen Prozesse. Da werden jetzt jeden Tag Menschen verhaftet und werden Menschen angeklagt deswegen, weil sie Wachleuten, die auf die flüchtende Menge geschossen haben, "Pfui!" zugerufen haben. Da werden jetzt jeden Tag Menschen angeklagt und verurteilt werden deswegen, weil sie einem Wachmann in dem Gedränge, dort, wo es um Menschenleben ging, einen Stoß versetzt haben. Da werden Menschen jetzt wegen dieser Delikte, wie Auflauf u. dgl., verurteilt werden. Jetzt stellen Sie sich die Situation vor, denken Sie doch ein bißchen daran, daß es sich um Menschenleben, um Menschenschicksale handelt, und denken Sie, wenn Sie nicht menschlich denken wollen, rein vom Standpunkt der Staatsräson: Ist es wirklich nützlich, Menschen, die ohnehin in diesem Zustand der Erbitterung und des Hasses sind, nun auch monatelang durch solche Prozesse zu reizen, durch Prozesse zu reizen, wo jeden Tag jeder dieser unglücklichen erbitterten Menschen das Gefühl haben wird: Den Bruder haben sie ihm erschossen und dafür sperren sie ihn noch ein; die Mörder von Schattendorf haben sie freigelassen, aber den, der "Pfui!" gerufen hat, sperren sie ein. Glauben Sie, meine Herren, daß das im Interesse des Staates ist? Glauben Sie, daß das Gefahren mildern heißt, wenn man so verfährt? [...]Aber daß der Herr Bundeskanzler irgendwie die Verpflichtung fühlen wird, dieses unermeßliche menschliche Leid auch irgendwie zu lindern, um eine gewisse Beruhigung zu schaffen, das habe ich gehofft. Nicht aus Mitleid. Ich weiß, Mitleid ist nicht die Tugend eines Staatsmannes. Nicht aus Humanität. Ich weiß: Autorität, nicht Humanität ist Ihre Parole. Nicht aus irgendwelcher religiöser Überzeugung. Ich weiß: Davon darf man sich nicht irremachen lassen, denn die Pflicht ist, fest zu sein. Nein, nur aus bloßer Staatsräson, meine Herren, nur aus der bloßen Staatsräson, daß man nicht zuviel Erbitterung in den Tiefen der Gesellschaft lassen soll. Gewiß, die Gemeinde Wien hat schon und wird auch weiter ihre Pflicht erfüllen. Aber begreifen Sie: Es handelt sich hier nicht um die Frage des Geldes, es handelt sich um eine moralische Frage, um die Frage, Beruhigung zu schaffen durch eine Gebärde wenigstens des Fühlens für dieses menschliche Leid. [...]Der Herr Bundeskanzler hat uns eingeladen, wir sollen den Trennungsstrich ziehen zwischen uns und den Plünderern, Brandstiftern usw. Das haben wir nicht notwendig. Es hat eine Zeit gegeben in der österreichischen Arbeiterbewegung, wo eine Gruppe, eine zeitweilig einflußreiche Gruppe, vorhanden war, die mit solchen Mitteln, mit Plünderung und Brandstiftung und Raub und Mord glaubte, die Befreiung der Arbeiterklasse erkämpfen zu können. Diese Gruppe, die Gruppe der Anarchisten, der Radikalen, wurde niedergerungen, nicht durch die Polizei, sondern durch die Sozialdemokratie unter Viktor Adlers Führung. Wenn heute Unglückliche in die Irrtümer dieser Gruppe von einst verfallen, in Stunden großer Erregung, so werden wir nicht den Trennungsstrich ziehen zwischen ihnen und uns, sondern diese Unglücklichen zu belehren und zu erziehen suchen zu sozialdemokratischem Denken. Daß wir aber, wie der Herr Kanzler sich vorstellt, etwa in der Stunde, wo seine Polizei in diese Menschen hineingeschossen hat, in der Stunde, wo diese Menschen verwundet in den Spitälern liegen und ihre Witwen an Gräbern klagen, in der Stunde, wo man Massenverhaftungen unter diesen Menschen vornimmt, daß in dieser Stunde, wo diese Menschen sich bedrückt und erniedrigt fühlen und sich haßerfüllt auflehnen gegen die Ordnung, die ihnen auferlegt ist, daß wir in dieser Stunde den Trennungsstrich ziehen zwischen diesen Menschen und uns, nein, Herr Kanzler, das werden wir nicht tun, wir ziehen keinen Trennungsstrich zwischen leidenden Menschen und uns, und je schwerer sie leiden, in je schwereres Leid Unrecht sie gebracht hat, desto mehr ist unser Gedanke, nicht uns zu trennen von diesen Menschen, sondern im Gegenteil, für sie zu arbeiten und sie in eine wirtschaftliche Lage zu heben, daß sie leichter so weise werden können, wie der Satte ist, und ihnen Belehrung und Erziehung zu bringen und ihnen, selbst wenn sie irren und selbst wenn sie fehlen gegen die Gesellschaft, deren Opfer diese Menschen sind, nichts zu sein als die treuen und unermüdlichen Anwälte dieser arbeitenden und leidenden Menschen. [...] Täuschen Sie sich nicht über die Tiefe des Grolles da unten und glauben Sie nicht, meine Herren, daß der Staat, daß die Republik Gefahren, die ihr drohen können, entrinnt, wenn Sie diesen Groll nicht beachten, nicht sehen wollen, wenn Sie diesen Menschen gegenüber nichts haben als den Wunsch der festen Gebärde, wie der Herr Bundeskanzler gesagt hat. [...] Wie ich heute diese Versammlung, die Mehrheit dieses hohen Hauses, hier gesehen habe, wie ich insbesondere den Herrn Bundeskanzler reden gehört habe, da habe ich immer das Gefühl gehabt, ja, die sind blind, die wissen nicht, was in den Tiefen der Volksseele heute lebt, die lachen unerhörten Grolls und unerhörten Hasses, der sich da ansammelt, die ahnen gar nicht, wie gefährlich das ist, die ahnen nicht, die verstehen nicht, daß heute nicht Humanität, nicht Sentimentalität, sondern die primitivste Staatskunst nichts anderes suchen müßte, als die wildesten von den Leidenschaften, die leicht das Werkzeug von Dämonen werden können, wenigstens zu beruhigen, zu zähmen. Dazu weisen wir Ihnen den Weg. Suchen Sie nicht die falsche Gebärde der Festigkeit, geben Sie diesen Menschen, die so tief verwundet sind, geben Sie ihnen das Stück Genugtuung, das in einer strengen Untersuchung, das in der Amnestie, das in der Sorge für die Hinterbliebenen der Opfer und in der Sorge für die Krüppel liegt; geben Sie ihnen das ‑ es ist wenig genug, nach dem was geschehen ist. Wenn Sie auch das nicht geben, wenn Sie den Groll da anwachsen lassen, ohne den geringsten Versuch zu machen, ihn durch eine Gebärde zu beruhigen, dann kann ich nur sagen, daß Sie wirklich handeln, ohne zu wissen, was die Wirkungen Ihrer Handlungen sind. Meine Herren! Stellen Sie sich doch einmal vor, wie sich das den Menschen darstellt. So sieben Jahre ‑ wenn auch unter wechselnder Firma ‑ regiert jetzt der Herr Bundeskanzler, und das Ergebnis dieser sieben Jahre, das sind diese 100 Toten. [...]
[Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates, III. Gesetzgebungsperiode; S. 147‑149. http://alex.onb.ac.at/cgi-content/alex?aid=spe&datum=0005&page=523]
Julius Deutsch schreibt rückblickend:
Die Ereignisse des 15. Juli 1927 [...] An diesem unglückseligen Tag hatte es sich gezeigt, daß Polizei und Gendarmerie wie in der dunkelsten Zeit der Habsburger gegen das Volk eingesetzt werden konnten. Ein unbedeutender Straßenkrawall war zum Anlaß genommen worden, um "einzuschreiten".
[Julius Deutsch: Alexander Eifler, ein Soldat der Freiheit; Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1947; S. 15.]
[25]. Österreich, Österreichisch-Alpine Montangesellschaft, Hüttenberg.
In Hüttenberg, Bundesland Kärnten, liegt ein Betrieb der Österreichisch-Alpine Montangesellschaft (cf. Fußnote 15 ►).
Ab Mitte 1927 werden in den Betrieben der Montangesellschaft “Heimwehrzellen” errichtet. Den Ausgangspunkt für die Heimatschutzbewegung unter der Arbeiterschaft bilden die Hochofenmannschaften in Leoben-Donawitz, die unter Führung ihres Betriebsleiters die erste Zelle für eine Heimatschutzgruppe der Arbeiter bilden. Vielfach übernehmen leitende Angestellte die Führung dieser Gruppen. Am 19. Mai 1928 erfolgt im Betrieb Leoben-Donawitz die Gründung der “Unabhängigen Gewerkschaft”.
Die Bergarbeiter der Montangesellschaft setzen sich gegen das Eindringen faschistischer gelber Gewerkschaften in ihre Betriebe zur Wehr. Im Kärntner Betrieb Hüttenberg treten am 10. Mai 1928 400 bis 450 der 550 Arbeiter gegen den Willen der Gewerkschaftsführung in den Streik. Zur selben Zeit streiken Arbeiter der Montangesellschaft zwischen dem steirischen Erzberg und Bleiberg in Kärnten, meist in Form von Teilstreiks, da die Direktion, die mit Aussperrung aller Arbeiter droht, den Betrieb mit Streikbrechern aufrechterhält. Die KPÖ fordert auf Flugblättern, den Streik lückenlos durchzuführen. Die Vorständekonferenz aller Freien Gewerkschaften ermächtigt deren Führung, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. Am 19. Mai tritt eine Konferenz von Betriebsräten der Montangesellschaft und Metallarbeitergewerkschaftsfunktionären zusammen, die zum Streik aufruft:
"1. für sofortige Einstellung der unter Anwendung wirtschaftlichen Drucks durch Beamte und sonstige Vorgesetzte geführten Agitation für die Heimwehr; 2. für eine sofortige Lohnerhöhung; 3. für die Anstellung von Arbeitern und Angestellten nur im Wege des öffentlichen Arbeitsnachweises".
[Rudolf Streiter: Österreichs kommunistische Gewerkschafter in der 2. Republik; Wien, Verlag des Österreichischen Gewerkschaftsbundes, 1989; S. 15.]
Die dritte Forderung zielt auf die Tatsache ab, dass die Montangesellschaft unter gesetzwidriger Umgehung der Arbeitsämter ausschließlich Mitglieder der Heimwehr einstellt. Obwohl sich die Streikfront verbreitert (so wird zum Beispiel auf dem gesamten Erzberg gestreikt), schließen der Metallarbeiterverband und die Union der Bergarbeiter am 25. Mai mit der Generaldirektion der Gesellschaft eine Vereinbarung, auf Grund deren keine der Forderungen der Streikenden erfüllt wird; im Gegenteil: die Gewerkschaftsführungen erkennen die juristische Legitimität und völlige Gleichberechtigung der “Unabhängigen Gewerkschaften” der Heimwehr an:
In der Erkenntnis, daß das kameradschaftliche Zusammenarbeiten der Arbeiter im Betriebe eine wichtige Voraussetzung des Betriebserfolges ist, stimmen der Stahlwerksverband einerseits und der Österreichische Metallarbeiterverband und der Verband der Bergarbeiter andererseits darin überein, daß die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei oder einer Gewerkschaft weder einen Grund für die Verweigerung der Aufnahme eines Arbeiters in einem Betriebe oder für seine Entlassung aus einem Betriebe, noch für eine Benachteiligung eines Arbeiters durch den Unternehmer, seine Beamten oder die Arbeitskollegen anderer Richtung bilden darf. Das gleiche gilt von der Zugehörigkeit zu sonstigen Vereinigungen, welcher Einstellung oder Art immer. Nach den bestehenden Gesetzen steht den Unternehmern das Recht freien Arbeiteraufnahme zu; die Unternehmer sind jedoch bereit, sich auch der Arbeitsvermittlung des staatlichen Arbeitsnachweises zu bedienen.
[Historische Kommission beim ZK der KPÖ: Die Kommunistische Partei Österreichs: Beiträge zu ihrer Geschichte und Politik; Wien, Globus-Verlag, 1987; S. 133.]
In dem Organ der SDAPDÖ, der Arbeiter Zeitung, vom 25. Mai wird die Vereinbarung wie folgt kommentiert:
Ein Vertrag über die Gewerkschaftsfreiheit [...] Gestern haben vor- und nachmittags Verhandlungen zwischen dem Metallarbeiterverband und dem Bergarbeiterverband einerseits, dem Stahlwerksverband und der Alpinen Montangesellschaft anderseits stattgefunden. In diesen Verhandlungen wurde ausschließlich die grundsätzliche Frage, das Grundrecht der Arbeiter auf Organisation, erörtert [...] Sie endeten mit einer Vereinbarung, die feststellt: Die Zugehörigkeit eines Arbeiters zu einer Gewerkschaft oder zu einer politischen Partei darf kein Grund mehr sein, den Arbeiter nicht in den Betrieb einzustellen; kein Grund mehr, den Arbeiter im Betrieb zu benachteiligen; kein Grund mehr, den Arbeiter zu entlassen [...] Die Unternehmer haben sich nunmehr ausdrücklich und feierlich verpflichtet, den Terror gegen die frei gewerkschaftlich organisierten Arbeiter einzustellen [...] Die Vereinbarung hat freilich auch eine andere Seite. Sie sichert allen Organisationen, also nicht nur den freien Gewerkschaften, sondern auch den Gelben zu, daß ihre Mitglieder wegen ihrer Organisationszugehörigkeit nicht von der Arbeit ausgeschlossen, nicht benachteiligt, nicht entlassen werden dürfen. Das mußte, da die Gelben nun einmal da sind, hingenommen werden [...].
[Christine Klusacek, Kurt Stimmer (Hrsg.): Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte, 1928‑1938; Wien, Jugend und Volk, 1982; S. 100.]
Die durch die sozialdemokratischen Führer eigenmächtig eingenommene Haltung stößt bei der Gewerkschaftsbasis auf Widerstand. In der Folge bemühen sich die sozialdemokratischen Unterzeichner weiterhin, ihre Entscheidung zu rechtfertigen, zum Beispiel (Arbeiter-Zeitung, 10. Juni 1928):
Nach dem Kampf in der Steiermark. Der Streik der Bergarbeiter in Hüttenberg ist beendet [...] Kein gewerkschaftlicher Kampf der letzten Jahre hat so lebhafte, so leidenschaftliche Diskussionen innerhalb der österreichischen Arbeiterschaft hervorgerufen wie der Kampf der obersteirischen Hütten-, Walzwerks- und Bergarbeiter um ihr Recht auf Organisation [...] Es ist vornehmlich eine Bestimmung des Abkommens, die ebenso viel Erregung im Lager der Arbeiter als Hoffnungen im Lager der Bourgeoisie hervorgerufen hat: Die Bestimmung, daß beide Teile die volle Freiheit der Organisation für alle Organisationen, also nicht nur für die freien Gewerkschaften, sondern auch für die Gelben anerkennen. Die Arbeiter fragen: Nun, sollen und können wir wirklich darauf verzichten, uns dagegen zu wehren, daß die Unternehmer uns Gelbe in die Betriebe setzen, dadurch unsere Solidarität und unsere Kampfkraft brechen? Darauf ist zu antworten: Wo eine Arbeiterschaft zu hundert oder zu neunzig Prozent organisiert ist, dort braucht sie es sich nicht gefallen zu lassen, daß der Unternehmer ihr Gelbe in die Betriebe setzt. Aber wo die Organisation so unzulänglich ist, wo es nicht nur soviel Unorganisierte, sondern überdies so verhältnismäßig viel Gelbe gibt wie in Donawitz, in Seegraben, im Erzberger Hüttenwerk, dort konnte es sich gar nicht darum handeln, die Gelben hinauszudrängen, sondern nur darum, die freigewerkschaftlich Organisierten gegen den Unternehmerterror zu schützen, den freien Gewerkschaften die Organisationsarbeit, die Entwicklungsmöglichkeit zu erobern. Und das ist der Sinn des Abkommens! Die Bürgerlichen jubeln: In den Alpinebetrieben haben die freien Gewerkschaften auch das Daseinsrecht der Gelben anerkennen müssen; muß das jetzt nicht auch in den anderen Betrieben gelten? Die Herren irren sich: Was man hinnehmen muß, wo man schwach ist, nimmt man nicht hin, wo man es nicht muß [...].
[Christine Klusacek, Kurt Stimmer (Hrsg.): Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte, 1928‑1938; Wien, Jugend und Volk, 1982; S. 101.]
[27]. SDAPDÖ, Parteitag vom 30. Oktober bis 3. November 1926 in Linz, Bericht Otto Bauers über das neue Parteiprogramm (Auszug):
Demgegenüber möchte ich ‑ denn diese Frage erscheint mir als eine der entscheidendsten ‑ sagen, warum nach meiner Überzeugung unser Programm gar nicht anders sprechen kann und darf, und mit der größten Deutlichkeit und Entschiedenheit zwar das Recht auf Gewalt uns vorbehalten und die Arbeiterklasse mit der Möglichkeit, daß die Gewalt die Entscheidung herbeiführen muß, vertraut machen muß, aber mit aller Klarheit und Entschiedenheit erklären muß, daß wir zur Gewalt nur greifen werden, wenn man uns die Demokratie sprengt und uns keine andre Möglichkeit als den Kampf mit gewaltsamen Mitteln läßt.
Und ich will sagen, warum ich es für eine prinzipiell entscheidende Frage halte, daß diese Erkenntnis einer nur defensiven Rolle der Gewalt in unserem Programm deutlich und unzweideutig gesagt sei. Was heißt Gewalt? Gewalt heißt nicht eine Straßenrauferei!
Gewalt heißt der Bürgerkrieg.
Und mehr als das! Nach allen Erfahrungen der Revolution schlägt der Bürgerkrieg in den Krieg nach außen um: Gewalt heißt auch der Krieg nach außen! Und was Krieg ist, das sollte man dieser Generation nicht mehr erzählen müssen! Wir alle haben ihn erlebt.
Und wer jahrelang das Furchtbare erlebt hat, wer neben sich Menschen im Schützengraben hat sterben gesehen, wer einmal die zerfetzten und blutenden Leiber auf dem Hilfsplatz gesehen hat, der sollte davor bewahrt sein, leichtfertig von Gewalt zu reden!
Damit sage ich nicht, daß wir das Proletariat und insbesondere die Jugend des Proletariats erziehen dürfen in einem Geiste, der die Gewalt unter allen Umständen, für alle Fälle ablehnt. Nein, wir wissen, daß wir in diesem Europa, in dem Europa der ständigen fascistischen Bedrohung, damit rechnen müssen, daß die Aktion des Gegners uns in eine Situation bringen kann, in der das Proletariat nur die Wahl hat, sich mit den Waffen zu verteidigen oder in völlige Knechtschaft zu fallen.
Ich selbst habe in unzähligen Versammlungen unzähligemal das Wort des Dichters gebraucht: "Das Leben ist der Güter Höchstes nicht." Aber ich wünsche nicht, daß wir dieses Wort phrasenhaft gebrauchen, daß es zu einer eitlen, verantwortungslos hingeworfenen Redensart wird, sondern ich wünsche, daß wir uns der ganzen Verantwortung bewußt sind, wenn wir zu den Arbeitermassen und der Arbeiterjugend von den Möglichkeiten sprechen, die vielleicht unserem Kampf nicht erspart bleiben, und von der Notwendigkeit, ernsthaft gerüstet zu sein. Und deswegen meine ich, daß unser Programmentwurf sagen soll: Wir wollen diesen Weg des Blutvergießens, des Krieges nicht!
Wir haben das Vertrauen zu unseren geistigen Kräften, daß wir in geistigem Ringen siegen können, und brauchen nicht den Weg der Gewalt.
Zu einem Weg der Gewalt kann uns nur der Gegner zwingen. Ja freilich, wenn er uns die Möglichkeit nimmt, mit den geistigen Waffen zu siegen, dann ist kein andrer Weg möglich. Weil wir dem Gegner mißtrauen, weil wir wissen, daß er mit solchen Gedanken spielt, deswegen sagen wir: Rüstet euch! Wir wollen den Krieg nicht, aber wenn der andre uns angreift, dann soll er uns gerüstet finden.
Wenn wir verantwortungsbewußt sind und die Arbeiter warnen wollen, etwas leichtfertig zu unternehmen, was die Gewalt heraufbeschwören tonnte, auf der andern Seite aber sie bereitmachen wollen für den Fall, daß die Gewalt uns vom Gegner aufgezwungen wird, dann können wir nicht anders sprechen als in dem Programmentwurf: Die Demokratie als den Weg, den wir wollen, die bewaffnete Selbstverteidigung als das, was wir müssen, wenn die Gegner uns zwingen.
[Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs: Protokoll des sozialdemokratischen Parteitages 1926 - abgehalten in Linz vom 30. Oktober bis 3. November 1926; Wien, Wiener Volksbuchhandlung, 1926; S. 265‑267.]
[28]. Deutschland, Preußen 20. Juli 1932.
Preußen ist im Rahmen der Weimarer Republik ein Freistaat, der zwölf Provinzen umfasst. Er wird durch ein Staatsministerium mit Sitz in Berlin geleitet.
Betreffend die Vorgeschichte der Ereignisse vom 20. Juli 1932, cf. Fußnote 16 ►.
Am 20. Juli 1932, empfangen der Reichskanzler Franz von Papen und der Innenminister Wilhelm von Gayl die Minister Preußens Heinrich Hirtsiefer (Volkswohlfahrt), Carl Severing (Inneres) und Otto Klepper (Finanzen). Papen kündigt an, dass auf sein Verlangen der Reichspräsident eine "Verordnung betreffend die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Gebiete des Landes Preußens" unterzeichnet hat. Die Verordnung ernennt den Reichskanzler zum Reichskommissar für das Land Preußen. Papen teilt mit, dass er den preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun (SPD)und den preußischen Innenminister Carl Severing (SPD) absetzt und Franz Bracht mit der Leitung des Innenministeriums beauftragt. Die anderen Minister werden ebenfalls entlassen.
Severing erklärt, dass er energisch gegen diese Maßnahmen protestiert und nur der Gewalt weichen wird, oder aber dass er seinen Posten verlassen würde im Falle einer ausdrückliche Anweisung des Reichspräsidenten oder eines Beschlusses des Landtages.
Durch diese Verordnung wird im betroffenen Bereich der Ausnahmezustand angeordnet und die Polizei wird dem Kommandanten des Wehrkreises 3, Generalleutnant Gerd von Rundstedt, unterstellt, welcher den Direktiven des Verteidigungsministeriums gehorcht. Der Polizeipräsident Albert Grzesinski (SPD), der Polizeivizepräsident Bernhard Weiß und der Kommandant der Schutzpolizei von Berlin, Magnus Heimannsberg, erhalten ihren Entlassungsbescheid. Sie erklären, dass diese Bescheide juristisch nicht fundiert sind, sie werden verhaftet, dann freigelassen, nachdem sie eine Erklärung unterzeichnet haben, dass sie darauf verzichten, ihre Funktionen auszuüben. An die Stelle Grzesinskis als Polizeipräsident tritt Kurt Melcher.
Nach dem Treffen im Kanzleramt begeben sich Hirtsiefer, Severing und Klepper ins Innenministerium Preußens zu einem Treffen mit den anderen Ministern. Auf Vorschlag Severings wird beschlossen, beim Staatsgerichtshof Einspruch zu erheben.
Im Verlaufe des Abends ist Severing unter Androhung von Verhaftung gezwungen, das Büro des Innenministeriums zu verlassen.
[29]. SDAPDÖ, “Demokratische Republik”, Gewalt.
Zur Zeit des österreichischen Kaiserreichs verfügte die SDAPÖ über sogenannte Ordnereinheiten, die bei Demonstrationen und Versammlungen Ordnerdienste verrichteten. Im Laufe der Ereignisse von November 1918 werden “Arbeiter-Wehren” und “Ordnergruppen des Arbeiterrates” geschaffen, in denen die bestehenden Ordnereinheiten einbezogen werden. Nach den Nationalratswahlen von Oktober 1920 ist die SDAPDÖ nicht mehr an der Regierung beteiligt. Die “Volkswehr” wird in eine “Regierungstruppe” umgeformt. Die SDAPDÖ beschließt, die Ordnerschaften des Arbeiterrats und die Arbeiter- und Fabrikswehren der Jahre 1918 und 1919 auszubauen. 1920 fordert der neugewählte Reichsarbeiterrat, “Heimwehren” aufzustellen. Am 24. Oktober 1921 findet eine Vertrauensmännerversammlung der Wiener Arbeiterschaft statt. Ein Beschluss wird angenommen, in dem es heißt:
Die Vertrauensmännerversammlung der Wiener Arbeiterschaft wendet sich mit Entrüstung gegen den neuerlichen Versuch Karl Habsburgs, sich der ungarischen Königskrone zu bemächtigen. Ein Habsburger auf dem ungarischen Thron bedeutet die stärkste Bedrohung der österreichischen Republik, bedeutet den Ausbruch eines blutigen Krieges in Mitteleuropa. Die Vertrauensmännerversammlung bekundet ihre Entschlossenheit, jeden Versuch einer habsburgischen Restauration in Österreich mit allen der Arbeiterschaft zu Gebote stehenden Mitteln abzuwehren. Niemals mehr wird die österreichische Arbeiterschaft die Herrschaft eines Mitgliedes des blutbefleckten, völkermordenden Habsburgergeschlechts dulden. Zur Abwehr des Abenteurerstreiches Karl Habsburgs ist es notwendig, die Kampfkraft der deutschösterreichischen Wehrmacht zu erhöhen. Die ledigen Arbeiter, die militärisch ausgebildet sind, werden aufgefordert, sich sofort zum Eintritt in die Wehrmacht zu melden. Keiner darf sich jetzt der Pflicht entziehen, unsere Republik, unsere Freiheit mit der Waffe in der Hand zu verteidigen! Einen wirksamen Schutz gegen monarchistische Putschversuche erblickt ferner die Vertrauensmännerversammlung in dem raschesten Ausbau und der Verstärkung der proletarischen Ordnerorganisation. Allen Arbeiterorganisationen wird die tatkräftigste Unterstützung der Ordnerorganisation zur Pflicht gemacht.
[Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschösterreichs: Protokoll des Parteitages 1922 - Die Verhandlungen der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschösterreichs - Abgehalten am 14. und 15. Oktober in Wien; Wien, 1922; S. 22.]
Die Ordnerschaften sind zunächst eine lose Vereinigung, in der sich jedoch eine Gruppe von Offizieren bildet, die 1922 auf einem militärischen Ausbau drängt. Dieser Gruppe gehören insbesondere Major Alexander Eifler, Hauptmann Rudolf Löw, General Friedrich Mayer an. Sie gründen den “Republikanischen Schutzbund”, der als Verein zunächst mit dem Tätigkeitsgebiet in Wien bei der Landesregierung in Wien angemeldet wird (die behördliche Genehmigung wird am 16. Februar 1923 erteilt) und sich am 19. Februar 1923 konstituiert. Der § 3 der Satzung dieser Organisation zählt als Aufgaben auf:
Sicherung der republikanischen Staatsverfassung; Schutz von Personen und Eigentum jener Vereinigungen, welche auf dem Boden der republikanischen Staatsordnung stehen; Unterstützung der bestehenden Sicherheitsorganisationen bei der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und Abwehr einer gewaltsamen Störung oder eines Putsches; Eingreifung bei Elementarereignissen; Mitwirkung und Unterstützung zur Sicherung von Veranstaltungen und Kundgebungen republikanischer Organisationen. Die Vereinigung ist eine nichtmilitärische private Einrichtung zum Wohle und Aufrechterhaltung der Republik.
[Paul Meihsl (Hrsg.): Von der Selbsthilfe zur Einsatzorganisation: die Geschichte des Arbeiter-Samariter-Wesens; Wien, Pichler, 1992.]
Zunächst untersteht der Republikanische Schutzbund dem Arbeiterrat. Um seinen Wirkungskreis über Wien hinaus auszudehnen, erfolgt seine Anmeldung beim Bundesministerium des Innern. Am 7. März 1923 tritt der Vorstand zu seiner ersten Sitzung zusammen. Zum Obmann wird Abgeordneter Julius Deutsch und zu dessen Stellvertretern die Abgeordneten Friedrich Adler und Johann Pölzer gewählt. Karl Heinz ist der politische, Hauptmann a. D. Rudolf Löw der militärische Sekretär. Die Befehlsgewalt über den gesamten Schutzbund hat die Bundeszentralleitung, die von einer Reichskonferenz gewählt wird, welche alle zwei Jahre zusammentritt. Diese Zentralleitung setzt sich aus einem Obmann, seinen zwei Stellvertretern, einem Kassier, einem Schriftführer und höchstens fünfundzwanzig Vorstandsmitgliedern zusammen. Der Zentralleitung war die sogenannte "Technische Leitung" (der militärische Stab) untergeordnet. Otto Bauer ist Mitglied der Zentralleitung. 1924 kommt dazu Theodor Körner als Berater (nach dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie wurde Körner von Unterstaatssekretär Deutsch in das Staatsamt für Heerwesen berufen, er wird 1923 zum Heeresinspektor ernannt; 1924 wird er mit Generalsrang in den Ruhestand versetzt, er tritt der SDAPDÖ bei und wird für das Land Wien in den Bundesrat entsandt). Die Mitgliederzahl des Schutzbundes beträgt in den Jahren 1927‑1928 ungefähr 80.000, davon über 20.000 in Wien. Am Salzburger Parteitag der SDAPDÖ (31. Oktober - 3. November 1924) wird der Beschluss gefasst, die Arbeiterräte aufzulösen, deren Wehrformationen dann in den Schutzbund integriert werden sollen, wodurch dieser Teil der sozialdemokratischen Parteiorganisation wird.
Auf dem von der SDAPDÖ vom 30. Oktober bis 3. November 1926 abgehaltenen Parteitag wird ein neues Parteiprogramm beschlossen, dass insbesondere die Frage der Gewaltanwendung ausführlich erörtert. (Cf. Fußnote 9 ►).
Nach den Ereignissen vom 15. Juli 1927 in Wien (cf. Fußnote 3 ►) leitet die Führung des Schutzbundes Maßnahmen ein, um die Organisationsstruktur in Verbindung mit einem militärischen Aktionsplan genauer festzulegen. Am 15 und 16. Oktober 1927 wird die 5. Reichskonferenz des Republikanischen Schutzbundes abgehalten. In ihrer Resolution zur politischen Lage sagt die Reichskonferenz:
Den Schutz der demokratischen Republik gegen jeden monarchistischen oder faschistischen Anschlag, den Schutz der Rechte, die die demokratische Republik der Arbeiterklasse gesichert hat, gegen jede Vergewaltigung, hat die sozialdemokratische Arbeiterschaft dem Republikanischen Schutzbund übertragen". Es darf "in Zukunft nicht mehr kleinen Gruppen erlaubt sein, die ganze Arbeiterklasse in Kämpfe zu ungünstigen Bedingungen zu verwickeln. Strengste proletarische Disziplin ist notwendiger denn je. Sobald der Schutzbund in Aktion tritt, muß er die Befehle der verantwortlichen Leitung mit strengster Disziplin durchführen, und zwar auch dann, wenn er sich dabei gegen Proletarier wenden muß, die sich gegen die Notwendigkeiten der Gesamtheit der Arbeiterklasse, gegen proletarische Disziplin und Ordnung auflehnen und dadurch die Gesamtheit der Arbeiterklasse in Gefahr bringen.
["Der Schutzbund", November 1927, Verhandlungsbericht der Fünften Reichskonferenz, S. 164-172. Zitiert nach Ilona Duczynska: Der demokratische Bolschewik; München, List, 1975; S. 114‑115.]
In den internen Richtlinien zur 5. Reichskonferenz heißt es:
Die Partei braucht den ganzen Schutzbund als ruhig und verläßlich funktionierendes Organ im Sinne des sozialdemokratischen Parteiprogramms (Kampf um die Staatsmacht) beim “Ordnen” des ganzen politischen und gewerkschaftlichen Kampfes, wie auch als Weltorganisation gegenüber illegalen Gewalten der Bourgeoisie, bei Putschen oder äußerstenfalls als Zwangsorganisation bei der Übernahme der durch die Stimmzettel eroberten Staatsgewalt.
[Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung, Parteiarchiv, Mappe 29. Zitiert nach Ilona Duczynska: Der demokratische Bolschewik; München, List, 1975; S. 117.]
Auszüge aus einem internen Bericht der 5. Reichskonferenz des Republikanischen Schutzbundes:
Vertrauliche Sitzung. Referent Heinz. [...] Am 14. Juli [1927] hielt die Z.L. [Zentralleitung] 11 Uhr abends eine Sitzung ab und ersuchte die Partei um Genehmigung zu einer Bereitschaftsanordnung, wurde verweigert. Um 9 Uhr vormittag den 15. erhielt die Z.L. vom Parteivorstand Alarmierungsbefehl, erklärte sich sofort in Permanenz, verlegte den Sitz ins Parlament. Die alarmierten Bezirksgruppen erhielten Weisung, sofort zum Rathaus marschieren und Stand bei Gen. Heinz zu melden. Die abmarschierenden Abteilungen auf Waffen untersuchen. [...] Auf diese Weise standen bis 1 Uhr 2400 Mann im Dienst. [...] Auch soll festgestellt werden, daß viele Schutzbündler dem Alarmierungsbefehl nicht Folge leisteten, sondern weiter unter den Demonstranten blieben und gegen die im Dienst Stehenden Stellung nehmen. [...] Nachdem mit der Polizeidirektion Vereinbarung getroffen worden war, daß Wache zurückgezogen wird und Schutzbund die Ordnung wieder herstellen wird, erteilte die Z.L. an die in und um das Rathaus verteilten Formationen den Befehl zur Säuberung. Während es der unter dem Kommando des Gen. Hendl [Heinrich Heindl, Bezirkskommandant des Alsergrunder Schutzbundes] stehenden Gruppe gelang, die Lichtenfelsgasse zu säubern und der Feuerwehr den Weg freizumachen, konnte die Hauptgruppe unter Führung des Gen. Pokorny das Gelände vor dem Justizpalast nicht räumen und die Brandlegung nicht verhindern. Es gelang jedoch einer Alsergrunder Kompagnie, ich halte es für meine Pflicht ihrer hier lobend zu gedenken, unter Führung des Gen. Kersch in den Justizpalast einzudringen und nach den Anweisungen des Gen. Kömer das Gebäude zu räumen und Plünderungen zu verhüten. Da die Situation sich immer mehr verschärfte, entschloß sich die Z.L. zu einem Generalangriff gegen die Demonstranten vor dem Justizpalast und zog die inzwischen frei gewordene Gruppe des Gen. Hendl und die inzwischen eingetroffene Abteil, der Hauptwerkstätte der Straßenbahn heran und unter persönlicher Führung Deutsch wurde der Angriff unternommen, der auch zum Ziel geführt hätte, wenn nicht in diesem Augenblick der Gewehrangriff der Polizei erfolgt wäre.
[Wolfgang Maderthaner (Hrsg.): Archiv - Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung, Jg. 3, 1987, S. 170.]
Eifler scheidet im Herbst 1927 aus dem Bundesheer und wird Leiter des technischen (militärischen) Stabes des Schutzbundes. Die Diskussionen über Vorbereitungen auf Gewaltanwendung führen zu gegensätzlichen Gedankengängen, die insbesondere von Eifler einerseits, und Körner andrerseits, vorgelegt werden. Körner legt im Frühjahr 1928 "Grundsätze für Gewaltanwendung und Bürgerkrieg" vor. Eifler antwortet mit "Bemerkungen zu dem Elaborat: “Grundsätze für Gewaltanwendung und Bürgerkrieg”". In Zusammenhang mit diesen Meinungsverschiedenheiten scheidet Körner im April 1930 aus dem Republikanischen Schutzbund aus.
Auszüge aus Theodor Körner, "Grundsätze für Gewaltanwendung und Bürgerkrieg":
III. Ungesetzlichkeiten der Regierung
Solange die bürgerliche Mehrheit besteht und diese die Regierungsgewalt ausübt, kann sie über den ganzen staatlichen Gewaltapparat verfügen. Die Arbeiterklasse kann und darf den Kampf gegen die reaktionären Bestrebungen nur mit demokratischen Mitteln führen. Alles andere ist ungesetzlich und trifft formal-gesetzlichen Widerstand. Je mehr Erfolge die S.d.P. auf demokratischem Wege erringt, je mehr die S.D. Arbeiterpartei an die Machtergreifung im Staate herankommt, um so brutaler wird die Reaktion werden. Um so öfter wird die Regierung selbst die Gesetzlichkeit verletzen. Solange die Verletzung der Demokratie und der Gesetze durch die Regierung und deren Organe partiell sind, einzelne Körperschaften oder einzelne Länder betrifft, ohne die Masse des Volkes in seinen Lebensinteressen zu treffen, solange wird sich das Volk Ungesetzlichkeiten gefallen lassen. Selbst partiellen Ungesetzlichkeiten der Regierung kann die S.d.P. nur mit demokratischen Mitteln entgegentreten und darf sich nicht zu Ungesetzlichkeiten hinreißen oder zur Gewaltanwendung auf die Straße locken lassen, die den der bürgerlichen Mehrheit und der bürgerlichen Regierung unterstehenden Gewaltapparat ganz gesetzmäßig zur Gegenwirkung auslöst. Die S.D. muß unbedingt auf dem Boden der Gesetzlichkeit bleiben.
IV. Bürgerkriegsfall
Der Bürgerkrieg kommt nur in Betracht, wenn die S.d.P. durch Wahlen die Mehrheit erreicht, die dann bestehende bürgerliche Minderheit aber den Gewaltapparat dazu gebrauchen würde, um ungesetzlich weiter zu regieren, um der S.D. die Ausübung der Macht in der Gesetzgebung und Verwaltung zu verhindern. Dann muß die bürgerliche Minderheit versuchen, die Verfassungsgesetze zu ändern, um anders regieren und an der Macht bleiben zu können. Dann erst ist der Fall des Bürgerkrieges gegeben. Und auch dann nur, wenn in der Mehrheit des Volkes in Wahrheit der Wille steckt, sich einen Verfassungsbruch nicht gefallen zu lassen.
V. Die Gewalt im Bürgerkrieg
Welche Gewalten stehen einander im Bürgerkrieg gegenüber? Angenommen der schlechteste Fall: Bürgerliche, entschlossene Minderheit, die über den staatlichen Gewaltapparat gegen die S.d. Mehrheit verfügen wollte, gegenüber der s.d. Mehrheit. Wann kann es zur Gewaltanwendung kommen? Doch nur dann, wenn alle demokratischen, gesetzlichen Versuche, die Regierungsmacht zu ergreifen, scheitern würden und wenn die allgemeine Volksmeinung, die Volksmehrheit darüber so erregt ist, daß sie sich eine Vergewaltigung auf keinen Fall bieten lassen und das Volk auch gewillt ist, bei der Gewaltaustragung mitzugehen. D. h. nur dann wird es zum Bürgerkrieg kommen dürfen, kommen können und kommen müssen, wenn in der Masse des Volkes die Entschlossenheit zur gewaltsamen Austragung des staatlichen Konfliktes steckt.
[Wolfgang Huber, Johannes Schwerdtfeger (Hrsg): Frieden, Gewalt, Sozialismus; Stuttgart, Klett, 1976; S. 484 ff.]
Auszüge aus Eifler, "Bemerkungen zu dem Elaborat: “Grundsätze für Gewaltanwendung und Bürgerkrieg”":
2. Bürgerkriegsfall
Daß die Arbeiterschaft erst dann zur Gewalt greifen darf, wenn sie nach erfolgten Wahlsiegen die Mehrheit im Parlament errungen hat, ist ganz neu. Nach den Ausführungen des Elaborates müßte auch die jetzt schon bestehende starke Minderheit der sozialdemokratischen Partei ruhig zusehen, wenn die dermalige bürgerliche Mehrheit es für gut fände, ihre Macht im Wege einer Diktatur zu sichern. Bisher hieß es immer, der Bürgerkrieg könne durch irgendein Ereignis beliebiger Natur zum Ausbruch gelangen. Ein Verkehrsstreik, ein Streik in lebenswichtigen Betrieben, ein Attentat oder sonst ein unvorhergesehenes Ereignis kann auch heute, wo wir doch eine Minderheit im Staat sind, Anlaß zum Ausbruch eines Bürgerkrieges geben. Der Fall des Bürgerkrieges kann also heute oder morgen gegeben sein, er kann eintreten, wenn gerade niemand ihn erwartet u. z. wegen irgendeines beliebigen Anlasses, er kann aber auch eintreten, wenn die Gegner einsehen, daß für sie alle Aussichten auf einen Sieg im Wege von Wahlen geschwunden sind und wenn sie mit Hilfe der Gewalt ihre schwindende Macht befestigen wollen. [...]
5. Technik des Bürgerkriegs:
[...] Wir müssen alles tun, um uns verteidigen zu können, verteidigen können wir uns aber gegen einen militärisch geführten Angriff nur wieder mit militärischen Gegenmaßnahmen, und auch das Elaborat weiß nichts darüber zu sagen, was denn für Mittel in Anwendung zu bringen wären, wenn Seipel die Diktatur ausruft und Polizei und Wehrbund zur Bekräftigung seines Willens in den Straßen aufmarschieren.
[Wolfgang Huber, Johannes Schwerdtfeger (Hrsg): Frieden, Gewalt, Sozialismus; Stuttgart, Klett, 1976; S. 490.]
Am 7. Dezember 1931 richtet Körner ein Schreiben an Seitz, Bauer, Danneberg und Deutsch. Davon ein Auszug:
Eifler hat einen Aktionsplan für den Schutzbund von Obersteiermark Obersteiermark verfaßt und dem technischen Leiter für Steiermark, Rosenwirt, als Muster gegeben, wie Operationspläne für den übrigen Bereich von Steiermark auszuarbeiten seien. [...] Die übrigen Länder sollen später ähnliche Operationspläne erhalten. [...] Die Genossen gestatten, daß ich in aller Schärfe den Aktionsplan für einen Unsinn und ein Verbrechen an der Arbeiterschaft bezeichne, der die größte Gefahr für Heraufbeschwörung eines neuen 15. Juli birgt und der Partei unermeßlichen Schaden zufügen kann. Der Schutzbund wird zu Ungesetzlichkeiten aufgeheizt, statt daß man die Gesetzlichkeit als Grundlage für die ganze Tätigkeit des Schutzbundes nimmt.
[Kurt Peball: Die Kämpfe in Wien im Februar 1934; Wien, Österreichischer Bundesverlag, 1974; S. 55.]
Im April 1935 stellt das Schuschnigg-Regime Alexander Eifler und 20 Kreis- und Bezirksführer des Schutzbundes wegen Hochverrats vor Gericht. 16 der Angeklagten sind bereits vor dem 12. Februar 1934 verhaftet worden, und keinem von den anderen ist eine Teilnahme an den Kämpfen nachzuweisen. Die Anklage gibt vor, dass eine "großzügigen Aufrüstungsaktion" durchgeführt worden sei, und dass auf einer Sitzung in der Parteizentrale im Jänner 1934 der Aufstand gegen die Regierung beschlossen worden sei. Am 2. April 1935 beginnt die Hauptverhandlung. Nach zwei Wochen halten Staatsanwalt und Verteidiger ihre Plädoyers. Im Anschluss erklärt Eifler im Namen aller Angeklagten: "dass wir nie die Absicht hatten, Hochverrat zu üben. Wir waren stets bedacht, die republikanische Staatsform und die Verfassung zu schützen."
[http://www.freiheitskaempfer.at/wp-content/uploads/2015/03/kaempfer_1_2015.pdf]
[30]. Brief des Reichsvollzugsausschusses der Arbeiterräte Deutsch-Österreichs vom 23. März 1919 "An das Proletariat Ungarns!":
An das Proletariat Ungarns!
Genossen und Genossinnen!
Zur Sitzung des Reichsvollzugsausschusses der Arbeiterräte Deutschösterreichs versammelt, erreicht uns euer Aufruf: An alle!
Ihr habt die Staatsgewalt in eure Hand genommen, dem Imperialismus der Entente die Unerschrockenheit und Kampfbegeisterung des geeinigten ungarischen Proletariates entgegengestellt. Mit euch sind wir der Meinung, daß heute, nach dem Zusammenbruche des deutschen und österreichisch-ungarischen Imperialismus der Hauptfeind der imperialistische Sieger ist. Die Konferenz der Sieger in Paris soll, wenn sie ganze Völker vergewaltigen und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen beugen will, auf den entschlossenen Widerstand der Arbeiter stoßen.
Ihr habt an uns den Ruf gerichtet, eurem Beispiel zu folgen. Wir täten es vom Herzen gerne, aber zur Stunde können wir das nicht. In unserem Lande sind keine Lebensmittel mehr. Selbst unsere karge Brotversorgung beruht nur auf den Lebensmittelzügen, die die Entente uns schickt. Dadurch sind wir völlig Sklaven der Entente. Wenn wir heute eurem Rate folgen würden, dann würde uns der Entente-Kapitalismus mit grausamer Unerbittlichkeit die letzte Zufuhr abschneiden, uns der Hungerkatastrophe preisgeben. Wir sind überzeugt davon, daß die russische Räterepublik nichts unversucht lassen würde, uns zu helfen. Aber ehe sie uns helfen könnte, wären wir verhungert. Wir sind daher in einer noch wesentlich schwierigeren Lage als ihr. Unsere Abhängigkeit von der Entente ist eine vollständige.
Wohl aber ist es unsere heiligste Pflicht, für alle Fälle gerüstet zu sein. Darum hat die Reichskonferenz unserer Arbeiterräte vor drei Wochen den Ausbau der Räteorganisation beschlossen. Wir haben an das arbeitende Volk den Appell gerichtet, überall Arbeiterräte einzusetzen, die Gründung von Bauernräten zu fördern sowie Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte mit den bestehenden bewährten Organisationen zusammenzufassen, um alles vorzubereiten, was die Stunde gebietet.
Neuerdings ergeht der Ruf an die Arbeiter aller Orte, die Räteorganisation schleunigst auszubauen. Wir haben auch bereits gefordert, daß der in den Beschlüssen der Reichskonferenz vorgesehene Zentralrat in den nächsten Tagen zusammentrete.
Alle unsere Wünsche sind bei Euch. Mit heißem Herzen verfolgen wir die Ereignisse und hoffen, daß die Sache des Sozialismus siegen wird. Kampfbereit stehen auch wir, gewillt zu erfüllen, was die geschichtliche Notwendigkeit fordern wird.
Es lebe die internationale Arbeitersolidarität!
Es lebe der Sozialismus!
Für den Reichsvollzugsausschuß der Arbeiterräte Deutsch-Österreichs: Josef Benisch, Schriftführer. Friedrich Adler, Vorsitzender.
Die im Oktober 1927 abgehaltene 5. Reichskonferenz des Republikanischen Schutzbundes nimmt eine Resolution zur politischen Lage an, in der festgestellt wird, daß in den Tagen des Umsturzes "allein und ausschließlich die Sozialdemokratische Partei das zusammengebrochene Land vor blutigem Bürgerkrieg und blutiger Schreckensherrschaft bewahrt" hat. "Im Frühjahr 1919, als in München und in Budapest die Rätediktatur bestanden hat, haben die Arbeiterräte die demokratische Ordnung in Österreich aufrecht erhalten. Das wichtigste Werkzeug der Arbeiterräte bei der Rettung der Demokratie waren die Ordnerformationen, die später zum Republikanischen Schutzbund zusammengefaßt worden sind."
[Der Schutzbund, November 1927, Verhandlungsbericht der Fünften Reichskonferenz, S. 164‑172. Zitiert nach Ilona Duczynska: Der demokratische Bolschewik; München, List, 1975; S. 115.]