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Erweitertes Plenum des Exekutivkomitees der KI
(12.‑23. Juni 1923)

Grigori Sinowjew:
Bericht des Exekutivkomitees
(Auszüge)

12. Juni 1923

 

 

Quelle:

Konferenz der Erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale (Moskau, 12.‑23. Juni 1923) - Protokoll, Hamburg, C. Hoym Nachf. L. Cahnbley., 1923, p. 30‑43 [1].

 

 

 

 

 

 

Erstellt: November 2016

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Dokumente der Kommunistischen Internationale ‑ Übersicht

 

 

 

 

 

 

[...]

Wir hatten einen ähnlichen Nihilismus in der nationalen Frage sogar in den Reihen unserer Kommunistischen Partei. Erst unlängst mußten wir auf dem 12. Parteitag unserer Partei[2] die Richtlinien auf diesem Gebiet fixieren. Man trifft sehr häufig gute Kommunisten, die sagen: Marx hat schon gesagt, daß der Prolet kein Vaterland hat, wozu also unsererseits die nationale Frage aufwerfen, möge sich die Bourgeoisie damit beschäftigen. Der Unterschied zwischen der Bourgeoisie und uns besteht nicht darin, daß die Bourgeoisie eine nationale Frage hat und wir nicht, sondern darin, daß die Bourgeoisie im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung die nationale Frage nicht zufriedenstellend zu lösen imstande ist, wir sie aber im Rahmen unserer Gesellschaftsordnung lösen können. Solange wir innerhalb der bürgerlichen Gesellschaftsordnung leben, müssen und werden wir diese unsere Lösung der nationalen Frage propagieren. Ich glaube darum, daß wir jetzt gegen diesen unter dem Deckmantel des Internationalismus und Radikalismus auftretenden Nihilismus in der nationalen Frage, der in Wirklichkeit die Linie der 2. Internationale durchführt, entschieden vorgehen müssen. Wir müssen unsere Parteien in allen Staaten mit mehreren Nationalitäten, in allen jenen Ländern, in denen die Nationalitätenfrage augenblicklich aus irgendeinem Grunde eine grolle Rolle spielt, darauf einstellen, daß das eine der wichtigsten Fragen der Gegenwart ist. [...]

Damit ist noch nicht gesagt, daß wir anfangen sollen, in die Reihen unserer Parteien Nationalisten aufzunehmen und daß wir überhaupt eine Unterhöhlung der sozialen Zusammensetzung unserer proletarischen Organisationen zulassen. Unsere Parteien müssen unbedingt Arbeiterparteien bleiben, aber auch diese Arbeiterparteien müssen es verstehen, die nationale Frage in all jenen Ländern, wo sie einer der wundesten Punkte ist, richtig zu beantworten. Noch mehr trifft das zu auf die Frage der Bauernschaft. In dieser Beziehung haben wir besonders viel versäumt und darum vieles gutzumachen. Auf diesem Gebiete zeigt sich besonders deutlich, daß wir in der 3. Internationale noch ein Überbleibsel der 2. Internationale haben. [...]

Aus all dem, Genossen, ziehe ich den Schluß, daß das beste Mittel, diese Überreste möglichst schnell abzustreifen, darin besteht, die Parole der Arbeiterregierung jetzt auszuweiten zu der Parole "Arbeiter- und Bauernregierung". [...]

Ich mache kein Hehl daraus, daß diese Frage in unserer Mitte noch nicht genügend erörtert worden ist. Innerhalb unserer Partei ist dieses Problem fast noch nicht durchgesprochen worden; die Frage ist neu, außerordentlich wichtig und kompliziert. Ich vergesse nicht einen Augenblick die Erfahrung, die wir gesammelt haben im Zusammenhang mit der Aufstellung der Taktik der Einheitsfront, bei der wir mehrere Monate mit Mißverständnissen lediglich deshalb verplempert haben, weil unsere Partei nicht genügend vorbereitet war. Ich befürchtete einigermaßen, daß dasselbe sich wiederholen wird mit der Parole der Arbeiter- und Bauernregierung. Vielleicht wird diese Losung nicht sofort einschlagen. Ich sage von vornherein, Genossen, daß wir durchaus damit einverstanden sind, die Fassung eines endgültigen Beschlusses zurückzustellen, falls die Aussprache tatsächlich ergeben sollte, daß unsere Parteien noch zu wenig vorbereitet sind, sich diese Losung anzueignen. Es sollen dann einzelne Sektionen die Frage gründlich durchsprechen. Dann werden wir in einigen Monaten die Entscheidung treffen. Persönlich glaube ich aber dennoch, daß das Beispiel der Taktik der Einheitsfront für unsere Partei nicht umsonst gewesen ist. Unsere Sektionen haben trotzdem einigermaßen gelernt, zu manövrieren und haben verstanden, daß die Taktik des Manövrierens für kommunistische Parteien, die in einer bürgerlich-sozialverräterischen Umgebung wirken, unbedingt erforderlich ist. Wenn sich herausstellt, daß dem so ist, wenn sich weiter herausstellt, daß wir genügend gegenseitiges Verständnis in dieser Frage besitzen, so würde ich selbstverständlich vorschlagen, diese Losung am besten schon auf der jetzigen Tagung der Erweiterten Exekutive zu beschließen. Die Situation ändert sich unter unseren Augen. Den Sozialdemokraten schwimmen die Felle davon, die Sozialdemokratische Partei verliert die “Seele” ihrer eigenen sozialdemokratischen Arbeiter. Wir haben die gegenrevolutionäre Front der Amsterdamer Führer[3] durchbrochen. Die innere Krisis in den Reihen der stärksten sozialdemokratischen Parteien wird immer heftiger. Auf der anderen Seite kräftigen sich unsere kommunistischen Parteien. Bei einer solchen Lage der Dinge dürfen wir keine Zeit verlieren.

Wir müssen uns indessen klar Rechenschaft geben darüber, wie sich die Parole der Arbeiter- und Bauernregierung zu unserer alten Formel der Diktatur des Proletariats verhält. Es werden sich unter uns Genossen finden, die zweifellos die Frage stellen werden: geben wir, wenn wir die Losung der Arbeiter- und Bauernregierung aufstellen, nicht unsere Formel der Diktatur des Proletariats preis, bleiben wir, wie bisher eine Arbeiterpartei oder werden wir zu einer Arbeiter- und Bauernpartei? Derjenige, der von der Taktik der Einheitsfront überhaupt etwas verstanden hat, derjenige, der zu begreifen beginnt, was klassenpolitische Strategie des Proletariats ist, muß begreifen, daß die Parole "Arbeiter- und Bauernregierung" der Weg zur Diktatur des Proletariats und keinesfalls die Verneinung der Diktatur des Proletariats ist. Eine Regierung der Arbeiter und Bauern ist, im streng wissenschaftlichen, genauen Sinn des Wortes kaum zu verwirklichen. Die Sowjetregierung ist in der Tat eine Arbeiterregierung. Die Macht wird ausgeübt von der Arbeiterklasse und ihrer Partei. Das Steuer des Staates befindet sich in den Händen des Proletariats. Aber das Proletariat und seine Partei versteht, daß man dem Bauerntum entgegenkommen muß und es zur Teilnahme an der Leitung des Staates hinzuziehen muß. Kurz, das Proletariat will das Land klug regieren, eben deshalb hat das Proletariat in Rußland in Berücksichtigung des realen Kräfteverhältnisses seines Landes es verstanden, das Bauerntum zur entsprechenden Koordination zu bewegen und ein Verhältnis herzustellen, unter dem der Bauer die Arbeiter unterstützt. Demnach ist durch die Erfahrung einer der größten Revolutionen, der russischen Revolution, bewiesen, daß das möglich ist. Für unsere Kommunistischen Parteien handelt es sich darum, die Erfahrungen der russischen Revolution auszunützen und konkret den konkreten Verhältnissen jedes einzelnen Landes anzupassen. Wenn wir also die Parole Arbeiter- und Bauernregierung aufstellen, so heißt das keinesfalls, daß wir die Diktatur des Proletariats aufgeben. Von dieser können wir nicht einen einzigen Schritt abweichen. Es gibt keinen einzigen Weg zur Befreiung der Menschheit aus dem Joche des Kapitalismus, als die Diktatur des Proletariats und kann keinen anderen geben. Die einzige wirkliche und bis zum Letzten revolutionäre Klasse ist die Arbeiterklasse. Aber diese Klasse, d. h. ihre Partei, kann klug und kann dumm handeln. So werden wir das Ziel bedeutend rascher erreichen und werden wenige Opfer haben. Wir werden bedeutende Schichten des Bauerntums und der Kleinbourgeoisie überhaupt teilweise neutralisieren und teilweise auf unsere Seite herüberziehen. Handeln wir aber ungeschickt, fassen wir die großen Klassenaufgaben der Befreiung des Proletariats in zünftlerischem Sinne auf, so schieben wir selbst den Moment des Sieges hinaus.

Wir glauben daran, daß es an der Zeit ist, die Losung der Arbeiter- und Bauernregierung zu verallgemeinern. Schon während des 4. Weltkongresses hatten wir das Empfinden, daß die Entwicklung in dieser Richtung geht. Für einige Länder Zentraleuropas hatten wir die Aufgabe fast schon entsprechend formuliert. Jetzt stellt sich klar heraus, daß diese Frage für alle Länder Bedeutung hat, daß sie zur wirklich internationalen Frage wird. Und gerade in dem Moment, in dem der Hamburger Kongreß[4] mit solcher Offensichtlichkeit seine volle politische Ohnmacht demonstrierte, müssen wir uns beeilen, mit der Losung der Arbeiter- und Bauernregierung herauszukommen. Die Herrschaften vom Schlage Vanderveldes werden versuchen,  die Bauern zu gewinnen, was ihnen aber nur im Falle unserer völligen Kurzsichtigkeit gelingen wird. Gehen wir jedoch so vor, wie wir müssen, dann werden wir die Partei, die der Arbeiterklasse als führende Kraft, als Träger der Interessen der Nation bedeutende Schichten des Bauerntums zuführen wird.

Auch im Kampf gegen den Faszismus wird diese Losung eine nicht geringe Rolle spielen. Nehmen wir Italien, das klassische Land des Faszismus. Beachten wir einigermaßen die Zeitfolge. Der Faszismus wurde gerade in jenen bäuerlichen Gegenden geboren, wo das Bauerntum sich erhoben hatte zum Kampf um den Boden. Der Faszismus war anfänglich eine Reaktion der Gutsbesitzer gegen diese Bauernregierung. Jetzt, nachdem der Faszismus zur Macht gelangt ist, wirft er sich mit brutaler Gewalt gerade auf diese Bauerngebiete. Mussolini hat teilweise direkt mittelalterliche Gesetze eingeführt, in der Art des Gesetzes, das verbietet, nach 8 Uhr das Haus zu verlassen. Die faszistischen Banden hausen jetzt gerade in diesen bäuerlichen Bezirken. Diese Banden fangen die Bauern, die sich “vergangen” haben, ein und zwingen sie, den Urin der faszistischen Soldaten zu trinken. Das sind Tatsachen, die mir von unseren italienischen Genossen mitgeteilt worden sind. Ist es da nicht klar, daß unter solchen Umständen der Zorn und der Haß der Bauern gegen die Faszisten fast stündlich zunimmt? Und was tun wir, was unternehmen wir gegenüber dieser Sachlage? Absolut nichts! Ich mache daraus unseren italienischen Genossen speziell keinen Vorwurf. Ich weiß, daß das eine Krankheit fast aller unserer Sektionen ist. Nämlich: die ungenügende Arbeit unter der Bauernschaft. Dasselbe beobachten wir auch in Italien. Weder die Reformisten, noch die Kommunisten, noch die Maximalisten haben einen Finger gerührt, um die Bauern gegen die Faszisten aufzubringen. Leuchtet es nicht ein, daß in dem jetzigen faszistischen Italien die Losung der Arbeiter- und Bauernregierung mehr als alles andere angebracht ist? Und diese Losung muß aufgestellt werden.

Gewiß werden die Herren Sozialdemokraten sofort mit Beschimpfungen auf uns stürzen und nachzuweisen beginnen, daß diese Losung in unserem Munde nichts anderes ist als Demagogie. Aber die Arbeiter, die die Bourgeoisie schlagen wollen, werden das anders auffassen. Sie werden sehen, daß wir Bundesgenossen in diesem Kampfe gegen die Bourgeoisie suchen und finden. Anders auch werden sich dazu die werktätigen Bauern verhalten und wir werden es möglich machen, bedeutende Schichten der werktätigen Bauern, nicht mehr zu neutralisieren, sondern sie für uns zu gewinnen. In jedem Lande, in dem es Bauern gibt ‑ und wo gibt es keine? ‑, -müssen wir diese Losung, selbstverständlich entsprechend den konkreten Umständen, anwenden. Natürlich haben wir vor allem jene Bauern im Auge, die keine Lohnarbeit anwenden.

Und noch eines. Auf dem 4. Kongreß haben wir Ihnen auseinandergesetzt, warum nach unserer Meinung die Neue Ökonomische Politik der Sowjetregierung eine internationale Erscheinung und durchaus keine Episode der russischen Revolution ist. Wir haben Ihnen bewiesen, daß fast jedes Land nach der Revolution eine mehr oder weniger lange Etappe dieser Politik durchzumachen haben wird. Wir waren uns alle darüber einig, daß die Neue Ökonomische Politik Sowjetrußlands keine russische Erscheinung ist und daß das siegreiche Proletariat in jedem beliebigen Lande die Frage der entsprechenden Vereinigung der Arbeiterklasse und des Bauerntums zur gegebenen Zeit wird aufrollen müssen. Wenn dem so ist ‑ und dem ist zweifelsohne so ‑ , so scheint uns der logische Schluß daraus gleichfalls die Arbeiter- und Bauernregierung zu sein. Wenn wir die Lage in einer ganzen Reihe von Ländern überschauen, sehen wir eigentlich nicht ein einziges Land, für das diese Losung nicht angebracht wäre. Wir sagen jetzt der rückständigen Arbeiter- und Bauernschaft: Wir wollen den Staat der Reichen vernichten und wollen einen Staat der Arbeiter schaffen. Entschließen wir uns, dem noch hinzuzufügen: Deshalb schlagen wir die Bildung einer Arbeiter- und Bauernregierung vor. Wenn wir einen derartigen Beschluß fassen, wird die Tatsache, daß die sozialdemokratische Partei uns auch nur auf der parlamentarischen Arena überflügelt, unmöglich werden.

Es genügt natürlich nicht, nur leere Beschlüsse in dieser Frage zu fassen. Es gilt klar zu erkennen, daß auch diese Parole voll schwerer Gefahren ist, ebenso wie die Taktik der Einheitsfront im allgemeinen.

Die mit der Losung der Arbeiter- und Bauernregierung verbundenen Gefahren bestehen darin, daß einige unserer nicht gefestigten und im marxistischen Sinne nicht genügend geschulten Sektionen darauf verfallen können, sie im Geiste der linken Sozialrevolutionäre auszulegen. Diese Partei gab sich für eine Partei der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz aus. Wir sagen und werden sagen, daß wir eine Partei der Arbeiterklasse sind. Nachdem aber die Arbeiterklasse einmal gesiegt haben und einige Jahre sich an der Macht erhalten wird, mag es ihr natürlich auch gelingen, nicht nur einen großen Teil des Bauerntums, sondern auch einen bedeutenden Teil der Intelligenz zu gewinnen. Im Falle einer günstigen Entwicklung der Dinge in Sowjetrußland werden wir nach einer Anzahl von Jahren unbedingt eine Situation haben, wo hinter unserer Partei nicht nur die ganze Arbeiterklasse, sondern auch die Bauernschaft und die Intelligenz stehen werden. Die Herren Sozialrevolutionäre haben lediglich die Bedeutung eines einzigen griechischen Wortes vergessen: ‑ Chronos ‑ die Zeit. Ja, nachdem das führende Proletariat als erstes sich zum Kampfe erhoben, als erstes sich organisiert und den revolutionären Teil des Bauerntums für sich gewonnen und die Bourgeoisie gestürzt hatte, nach all dem konnte es im Laufe einer Reihe von Jahren auch die ungeteilte Unterstützung der Bauern und der Intelligenz erobern. Aber erst danach. Um aber die Rolle des Trägers der Revolution, die Rolle des Machthabers zu spielen, muß das Proletariat seine selbständige, durch kein kleinbürgerliches Wässerchen verdünnte, aus einem Stück gegossene Partei haben. Jetzt allerdings beginnt in Rußland, nach einigen Jahren der Sabotage, nicht nur das Bauerntum, sondern auch ein bedeutender Teil der Intelligenz die Sowjetmacht aufrichtig zu unterstützen. Die Arbeiterklasse und ihre Partei haben in einigen Jahren heroischer Arbeit in der Epoche der größten der Revolutionen bewiesen, daß sie ihr Land zu verteidigen vermögen, daß sie Rußland die volle Unabhängigkeit erkämpft haben, daß sie die Wirtschaft fördern, die Wissenschaft unterstützen, die Intelligenz schätzen usw. Bei einer solchen Lage der Dinge hat die Intelligenz begonnen, sich auf unsere Seite zu schlagen. Das ist aber nur der Beweis dafür, daß die Partei eine Arbeiterpartei bleiben muß und daß sie in keinem Falle die sozialrevolutionäre kleinbürgerliche Formel „Partei der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz" annehmen darf. Die aus der Aufstellung der Losung "Arbeiter- und Bauernregierung" sich ergebenden Gefahren bestehen darin, daß unsere wenig gefestigten Parteien sich möglicherweise dazu verleiten lassen, den Klassencharakter unserer Partei zu verwischen. Dagegen gilt es sofort Vorbeugungsmaßregeln zu treffen. Wir bleiben nach wie vor “steinharte” Marxisten, unversöhnliche “Dogmatiker”. Wir bleiben nach wie vor eine mit beiden Füßen auf dem Klassenstandpunkt stehende Arbeiterpartei; die Grenzen der Partei müssen scharf, klar und deutlich gezogen werden. Die soziale Zusammensetzung unserer Partei muß eine proletarische sein, aber unsere Arbeiterparteien müssen klug operieren, geschickt manövrieren und erfolgreich mit dem Sektentum kämpfen können Wir müssen um jeden Preis zu Massenparteien werden. Die Aufgabe ist keinesfalls leicht. In der bürgerlichen Gesellschaft liegen die Dinge ja nicht so, daß auf der einen Seite ein Häuflein Bourgeoisie, auf der anderen Seite sich das Proletariat befindet. Wenn es wirklich so einfach wäre, so wäre der Sieg nicht so schwer. In Wirklichkeit wissen wir, daß wir zwischen dem Häuflein der Bourgeoisie auf der einen und dem städtischen Proletariat auf der anderen Seite, zahlreiche Schichten. Millionen und Zehnmillionen Bauern, kleine Leute, Angestellte, Kleinbürger, Intelligenz usw. haben. Wenn wir den vollen Sieg über die Bourgeoisie wollen, müssen wir unseren Sieg ernsthaft vorbereiten. Wenn wir uns in dem Glauben wiegen, daß die internationale proletarische Revolution in verhältnismäßig kurzer Zeit siegen wird ‑ und wir sind davon vollkommen überzeugt ‑ , so müssen wir die Elemente des Mittelstandes unter teilweiser Neutralisierung und teilweiser Gewinnung für uns erobern können. Wir müssen den Weg zur Befreiung vom Joch des Kapitalismus allen jenen Bevölkerungsschichten weisen können, die nicht direkt an der Herrschaft des Kapitals interessiert sind. Wir dürfen uns also nicht eine Minute den Gefahren verschließen, die mit der Ausgabe der Parole: "Arbeiter- und Bauernregierung" verbunden sind. Wer indes die Wölfe fürchtet, soll nicht in den Wald gehen. Wir haben schon etwas gelernt, der Schwierigkeiten der Taktik des Manövrierens Herr zu werden. Das hat die Durchführung der Taktik der Einheitsfront bewiesen. Um Schwimmen zu lernen, haben sich unsere Parteien ins Wasser gestürzt und einzelne unserer Parteien haben schon Schwimmen gelernt. Im wesentlichen kann als unsere erste, im internationalen Maßstabe durchgeführte Kampagne die mit der Taktik der Einheitsfront verbundene Kampagne gelten. Die Schwierigkeiten waren nicht gering, trotzdem haben wir sie fast bewältigt; jetzt ist der Moment gekommen, unseren Aktionsradius zu erweitern, der Moment, in dem es gilt, die Psychologie unserer Partei zu verändern. Unsere Parteien müssen sich endlich nicht mehr als Zunftgebilde, die lediglich spezifische "Arbeiter"-Aufgaben zu erledigen haben, betrachten, sondern als Parteien, die allen Ernstes den Sieg über die Bourgeoisie vorbereiten. Wenn wir alle Vorbeugungsmaßregeln, sowohl vom theoretischen als auch vom organisatorisch-politischen Standpunkt treffen, so dürfen wir überzeugt sein, daß die Ausgabe der Parole Arbeiter- und Bauernregierung uns nur Vorteil bringt; in der Tschechoslovakei, in Frankreich, in England, in Skandinavien, in Amerika und in Deutschland, mit einem Wort überall.

Schon auf dem 3. Kongreß haben wir unsere Aufgaben in vier Worte zusammengefaßt: Heran an die Massen! Auf dem 2. Kongreß haben wir unsere Taktik der Einheitsfront genauer präzisiert und entwickelt. Dies hat uns, wie die verflossenen sechs Monate bewiesen haben, geholfen, in die breiten Schichten der Arbeiterklasse einzudringen.

Jetzt stehen wir vor einer noch größeren Aufgabe: in unseren Parteien den Willen zur Macht zu erwecken, aus ihnen Parteien zu machen, die bei jedem Schritt ihrer Arbeit sich als Parteien betrachten, die morgen die Bourgeoisie niederringen werden. Unsere Parteien sind die Vorhut der Arbeiterklasse. Selbst von dem Willen zur Macht erfüllt, wird die Vorhut diesen Willen auf die breiten Millionenschichten der Arbeiter übertragen und wenn der Wille zur Macht die Millionen und Abermillionen Proletarier erfaßt, wird der Sieg nicht mehr so schwer sein.

[Ende des Berichtes]

 

 

 

 

 



[1].       [321ignition] Die Fußnoten sind von uns, unter Verwendung von eventuellen in der Quelle enthaltenen Fußnoten, formuliert.

[2].       KPR(b).

[3].       Internationaler Gewerkschaftsbund (genannt “Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale”).

1901 wird in Kopenhagen eine Versammlung von Vertretern der Gewerkschaftszentralen von Norwegen, Schweden, Finnland, Dänemark, Deutschland, Frankreich und Belgien abgehalten. Ein weiteres Treffen folgt 1903, und es wird ein internationales Sekretariat mit Carl Legien als Sekretär gegründet. 1913 wird die Bezeichnung Internationaler Gewerkschaftsbund (IGB) angenommen. Der 1. Weltkrieg führt zu der den kriegerischen Bündnissen entsprechenden Spaltung. 1919 wird der IGB wiedergebildet. Eine erste Versammlung wird im Februar 1919 in Bern abgehalten, mit Juli-August wird der Sitz in Amsterdam eingerichtet. Der IGB wird von der neuen Internationalen Arbeitsorganisation anerkannt. Die Aufnahme der Gewerkschaften der Sowjetunion zum IGB wird verweigert. Die amerikanische AFL tritt schließlich 1937 in den IGB ein.

[4].       Gemeint ist der Gründungskongress der Sozialistische Arbeiterinternationale (1923).

1864 wird in London die “Internationale Arbeiter-Assoziation” gegründet, an der Karl Marx und Friedrich Engels aktiv teilnehmen; sie wird 1876 durch Entschluss ihrer in Philadelphia abgehaltenen Generalversammlung aufgelöst. 1889 wird in Paris ein internationaler Arbeiterkongress abgehalten. Die so eingerichtete Koordinierung zwischen Parteien marxistischer Orientierung wird geläufig “Zweite Internationale” genannt. In einer ersten Phase wird, abgesehen von der Einberufung von Kongressen, keine besondere organisatorische Struktur eingerichtet. 1900 wird ein Internationales sozialistisches Büro gebildet, sowie ein mit den laufenden Angelegenheiten beauftragtes Exekutivkomitee mit Sitz in Brüssel.

Am 14. und 15. Februar 1915 wird in London eine Konferenz der sozialistischen Parteien der alliierten Länder abgehalten. Die Zahl der Delegierten beläuft sich auf 46. Frankreich ist folgendermaßen vertreten: für die Sozialistische Partei SFIO (Parti socialiste Section française de l'Internationale ouvrière, SFIO) Alexandre Desrousseaux genannt Bracke, Adéodat Compère-Morel, Marcel Cachin, Jean Longuet, Marcel Sembat, Pierre Renaudel, Edouard Vaillant, Louis Dubreuilh, Ernest Poisson, Braemer; für die Allgemeine Konföderation der Arbeit (Confédération générale du travail, CGT) Léon Jouhaux, Alexandre Luquet, Moulinier, Albert Bourderon, Alphonse Merrheim. Großbritannien ist unter anderem vertreten durch Arthur Henderson, Ramsay Macdonald, Keir Hardie, William Anderson, Bruce Glasier; Belgien ist insbesondere durch Émile Vandervelde und Camille Huysmans vertreten; für Russland nehmen unter anderen Teil Ivan M. Maisky von der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands - Menschewiki, sowie Viktor M. Černov und Ilja A. Rubanovič von der Partei der Sozialrevolutionäre, etc.

Nach dem 1. Weltkrieg wird zunächst im Februar 1919 eine Konferenz in Bern abgehalten, danach wird im August 1920 in Genf die 2. Internationale wiedergebildet, unter Beteiligung einer reduzierten Zahl von Parteien. Sie richtet ihren Sitz in London ein.

Eine Anzahl anderer Parteien gründet im Februar 1921 in Wien die “Internationale Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Parteien”; Friedrich Adler und Otto Bauer spielen eine wichtige Rolle. Offiziell wird die Organisation auch “Wiener Internationale” bezeichnet, geläufig wird sie aber “2 ½. (Zweieinhalbte) Internationale” genannt.

Im Mai 1923 auf einem in Hamburg abgehaltenen Kongress gründen diese Internationale und die 2. Internationale gemeinsam die “Sozialistische Arbeiterinternationale”.