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Ernst Thälmann

Erweitertes Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale:
Über Probleme der Kommunistischen Partei Deutschlands

Februar 1930

(Auszüge)

 

 

Quelle:

Erweitertes Präsidium des EKKI, Moskau, 18. bis 28. Februar 1930. In: Die Kommunistische Internationale vom 12. März 1930. S. 528‑539.

Andere Quelle:

Ernst Thälmann: Reden und Aufsätze zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung - Band 2 - November 1928‑September 1930. Berlin, Dietz, 1956[1].

 

 

 

 

 

 

Erstellt: Januar 2013

Druckversion
KPD 1918-1945 - Inhalt

 

 

 

 

 

 

Das X. Plenum des EKKI sagte zur Frage der Entwicklung in Deutschland in Verbindung mit den Reparationsfragen unter anderem folgendes[2]:

Die Reparationslasten führen innerhalb Deutschlands zur raschen Verstärkung des Klassenkampfes, der einerseits in der rücksichtslosen Offensive des Unternehmertums, anderseits in großen Massenaktionen des Proletariats zum Ausdruck kommt. Die doppelte Belastung des deutschen Proletariats durch die Reparationszahlungen und durch den Druck der eigenen Bourgeoisie beschleunigt das Heranreifen einer revolutionären Krise in Deutschland.

Die wenigen Monate vom X. Plenum bis heute bestätigen vollinhaltlich die Richtigkeit dieser These. Besonders in Deutschland wird die Reparationsfrage zum entscheidenden Problem, von dem die gesamte politische Entwicklung bestimmt und beherrscht wird. Heute, nach dem Ergebnis der Haager Konferenz, kann man sagen, daß der Youngplan nicht nur eine nationale Bedeutung für Deutschland hat, sondern daß er ein internationales Weltprogramm der Bourgeoisie gegen die Sowjetunion ist.

Das Ergebnis der Haager Konferenz ist, daß in erster Linie die deutsche Bourgeoisie mit der Sozialdemokratie nicht nur gegen das deutsche Proletariat, sondern auch gegen die Sowjetunion schärfer denn je vorstoßen wird.

Von größter Bedeutung ist der Gegensatz der verschiedenen Parteien der II. Internationale in der Frage des Youngplans einerseits und die geschlossene Einheit der Komintern zu diesem Problem in der ganzen Welt andererseits. Leider wird diese Einheitlichkeit durch die verschiedenen Parteien nicht genügend demonstrativ zum Ausdruck gebracht. Es wäre notwendig, daß im Falle der Ratifizierung des Youngplans im Reichstag die wichtigsten Sektionen der Komintern kundgeben, wie sie zum Youngplan und seiner räuberischen Auswirkung auf das deutsche Proletariat stehen.

Von großer internationaler Bedeutung ist die Welt-Reparationsbank, die nicht nur die ökonomische, besonders die stärkste Finanzblockade gegen die Sowjetunion einleitet, sondern auch die Behebung der Valutaschwierigkeiten beim Ausbruch eines imperialistischen Krieges gegen die Sowjetunion in die Hand nehmen wird.

Mit der Annahme des Youngplans stehen auch verschiedene Gesetze, Verträge und dunkle Abmachungen in Verbindung, die zum Teil einen aggressiven Charakter gegen die Sowjetunion tragen. Ich führe nur das deutsch-polnische Liquidationsabkommen an, durch das in Deutschland in der Bevölkerung eine starke Stimmung gegen das Youngabkommen hervorgerufen worden ist. Hinter diesem deutsch-polnischen Liquidationsabkommen verbergen sich die Kriegsabsichten, die sich der amerikanische Kapitalismus als Ziel gestellt hat, nämlich Deutschland als Aufmarschgebiet gegen die Sowjetunion zu benutzen.

Das wichtigste Problem für die deutsche Bourgeoisie ist zweifelsohne das Exportproblem. Deutschland soll in der ersten Zahlungsperiode, die 37 Jahre dauert, jährlich durchschnittlich 2,2 Milliarden Mark aufbringen. Dazu kommen noch die 15 Milliarden Kredite, die in den Jahren während des Dawesplans in Deutschland aufgenommen wurden. Wenn man die Schuldzinsen ganz gering mit 8 Prozent und die Amortisation mit 2 Prozent rechnet, so kommen zu den 2,2 Milliarden Mark Jahrestribut noch 1,5 Milliarden Mark Schuldzinsen, also jährlich 3,7 Milliarden Mark an Zahlungen. Außerdem treten große Erschwerungen durch Veränderung der Form der Sachleistungen auf Reparationskonto ein. Während die deutsche Bourgeoisie beim Dawesplan die Möglichkeit hatte, mit Reichsmark zu zahlen, ist sie jetzt während der ganzen Zahlungsperiode des Youngplans verpflichtet, nur in Goldvaluta zu zahlen. Dieses Problem wird für die deutsche Bourgeoisie angesichts der Exportkrise in der kapitalistischen Weltwirtschaft noch schwieriger. Das bedeutet, daß der deutsche Warenexport in Zukunft auf unüberwindliche Hindernisse stoßen wird, besonders im Zusammenhang mit der neuen Exportoffensive des amerikanischen Imperialismus, der nicht nur versucht, in die Kolonien und Halbkolonien, sondern auch mehr und mehr in Deutschland und in die anderen Länder einzudringen. Der deutsche Absatz ist im letzten Quartal gegenüber dem III. Quartal 1929 zurückgegangen. Das waren die ersten ernsten Anzeichen von Krisenerscheinungen, die zu einer regelrechten Krise in Deutschland führen müssen. Daß es sich in Deutschland bereits um das Heranwachsen einer allgemeinen Wirtschaftskrise handelt, beweist zum Beispiel die Zahl von 3,5 Millionen Erwerbslosen ‑ die sich noch mit jedem Tag erhöht ‑, wobei ich nicht die ungeheuer große Zahl von vielleicht 2 Millionen einrechne, die heute bereits Kurzarbeitet. Auch der langsam beginnende Rückgang in der Stahl- und Eisenindustrie in den letzten zwei Monaten beweist das. Ein weiterer Beweis dafür ist die ungeheuer scharfe Agrarkrise in Deutschland, die sich durch den Preissturz des Weizens und auch des Roggens noch mehr verschärfen wird. Und der letzte Beweis ist der Kapitalmangel, der zu einem Krisenfaktor ernstester Art werden kann. Durch die Weltwirtschaftskrise, in deren Verlauf größere Preisstürze bei wichtigen Produkten zu verzeichnen sind, und durch die neue Exportoffensive Amerikas wird eine gewaltige Erschwerung der Zahlungen der Reparationskosten eintreten, wird die deutsche Bourgeoisie zu einer außerordentlichen Steigerung des Exports und zur Verbilligung ihrer Produktion gezwungen sein.

Ich brauche in diesem Rahmen nicht darzustellen, welche Ausbeutungsmaßnahmen die deutsche Bourgeoisie infolgedessen gegen das deutsche Proletariat und darüber hinaus gegen alle Werktätigen einleiten muß. In der Verstärkung der Unternehmeroffensive in den letzten Monaten hat sich schon gezeigt, daß die Gesamtlasten doch nur dem deutschen Proletariat und all den Schichten, die wir zu den Werktätigen rechnen, auferlegt werden.

Für die Verschärfung der Kriegsgefahr und die reaktionäre Wendung der deutschen Bourgeoisie gegen die Sowjetunion zeugen vor allein die große systematische Pressekampagne gegen die Sowjetunion und gegen den Kommunismus in den letzten Monaten, der Freispruch im Tscherwonzenfälscherprozeß ‑ diese frechste Provokation gegen die Sowjetunion ‑ und die Tatsache, daß das Schwergewicht der Flotte nach der Ostsee, von Wilhelmshaven nach Kiel, verlegt wird. Dazu kommt schließlich der Überfall auf die Münchner sowjetische Handelsvertretung, der geplante Überfall auf die Berliner sowjetische Handelsvertretung und zuletzt die ungeheure Aktivität des Zentrums. In den Organen des Zentrums unterstützen jetzt zum Beispiel solche Leute wie Vitus Heller, der noch vor kurzem für die Sowjetunion Artikel schrieb, mit der größten Schärfe die sowjetfeindliche Agitation. Ich glaube, daß diese ganz wenigen Tatsachen schon genügen, um zu zeigen, daß die Kriegsvorbereitungen der deutschen Bourgeoisie, die von Amerika geleitet werden, in ein ganz anderes Stadium eingetreten sind, als dies zur Zeit des VI. Weltkongresses und des VIII. Plenums der Fall war. Genosse Gussew[3] sagte beim ersten Punkt der Tagesordnung, daß der Weddinger Parteitag die Kriegsgefahr zwischen den imperialistischen Mächten und die Gefahr eines Krieges gegen die Sowjetunion einander gegenübergestellt hätte. In den Beschlüssen des Weddinger Parteitages, auf welchem wir uns auch mit dem Standpunkt der Versöhnler beschäftigen mußten, die damals mehrfach versuchten, die Gefahr eines Krieges zwischen den imperialistischen Mächten in den Vordergrund zu stellen und die Gefahr eines Krieges gegen die Sowjetunion zu vertuschen, heißt es[4]:

Die unmittelbarste Kriegsgefahr, die auf der Tagesordnung steht, der Krieg, auf dessen Bekämpfung sich das internationale Proletariat in erster Linie vorzubereiten hat, ist der Interventionskrieg gegen die Sowjetunion, der Klassenkrieg der Weltbourgeoisie gegen das Weltproletariat, der bereits in das Stadium der Vorbereitung von unmittelbaren militärischen Aktionen eingetreten ist.

An einer anderen Stelle, wo wir uns mit den rechten Liquidatoren und Versöhnlern beschäftigen, heißt es[5]:

Auch die rechten Liquidatoren des Kommunismus und die Fraktion der Versöhnler in der Partei, die den sowjetfeindlichen Charakter der deutschen Außen- und Wehrpolitik vertuschen und die Aufmerksamkeit der Arbeitermassen von der Interventionsgefahr auf die Konflikte innerhalb des imperialistischen Lagers ablenken, hemmen und stören die Aktion der Kommunistischen Partei zur Verteidigung der Sowjetunion.

Ich glaube, daß diese beiden wichtigen Feststellungen widerlegen, was Genosse Gussew gesagt hat.

Zur Zeit des VI. Weltkongresses wurde unter der Führung von Ewert auch diese Frage falsch gestellt. Damals versuchte die Mehrheit der deutschen Delegation, gerade die Tatsache in den Vordergrund zu stellen, daß mit der großen heroischen Entwicklung der proletarischen Diktatur auch die Maßnahmen des Weltimperialismus gegen diese Festung des Sozialismus sich verschärfen werden. Ich glaube, daß unsere damalige Einschätzung, die Hauptgefahr sei die Kriegsgefahr gegen die Sowjetunion, nicht nur auf dem VIII. Plenum des EKKI und auf dem VI. Weltkongreß, sondern auch durch die Tatsachen, die sich in den letzten Wochen und Monaten in der ganzen Welt gezeigt haben, ihre Bestätigung gefunden hat. Auch möchte ich die Auffassung des Genossen Gussew zurückweisen, daß Schacht, als Vertreter Amerikas, Deutschland gegen England und Frankreich einstellen wollte. Jeder weiß natürlich, daß Schacht und Morgan auf den internationalen Gebieten und in Deutschland gemeinsame Geschäfte machen. Aber die Frage so zu stellen, daß der amerikanische Imperialismus Deutschland hauptsächlich gegen England und Frankreich einstellen will, ist völlig falsch. Man könnte dafür an Hand der Verhandlungen der letzten Zeit, die eine deutsch-französische Annäherung bedeuten, Beweise erbringen. Auch die Behauptung, daß der Gegensatz zwischen Deutschland und England sich ungewöhnlich verschärft hat, ist durch kein Material bewiesen.

Wir können heute mit Recht behaupten, daß der wichtigste Stoßtrupp der Kriegsfront gegen die Sowjetunion die jetzige sozialdemokratische Koalitionsregierung ist. Wir hatten über die Tätigkeit der sozialdemokratischen Regierung und besonders über die Rolle des Sozialfaschismus auf dem VI. Weltkongreß große Meinungsverschiedenheiten. Ich erinnere daran, daß zum Beispiel Genosse Ewert gar nicht begriff, daß sich mit dem Eintritt der Sozialdemokratie in die Regierung auch die soziale Basis der Sozialdemokratie verschieben muß, nicht nur in dem Sinne, daß sie sich auf die Arbeiteraristokratie umorientiert, sondern auch, daß sie sich im ganzen nach der bürgerlichen Seite hin entwickeln muß. Das muß dazu führen, daß bei einer richtigen Politik der Kommunistischen Partei die wichtigsten proletarischen Klassenelemente doch zur kommunistischen Front stoßen. Wir hatten bereits auf Grund der Wahlergebnisse im Mai 1928 im Zentralkomitee und in der ganzen Partei verschiedene Meinungen. Die Genossen um Ewert - nicht zu reden von den rechten Liquidatoren, die außerhalb der Partei stehen - schätzten damals die neun Millionen Stimmen der Sozialdemokratie völlig falsch ein. Zweifellos stimmt es, daß die Sozialdemokratie ein Bollwerk für die Bourgeoisie war, aber vom Standpunkt des revolutionären Klassenkampfes aus müssen wir nicht nur die Frage stellen, inwieweit die Sozialdemokratie ein Hindernis des revolutionären Klassenkampfes, inwieweit sie ein aktiver Faktor ist, der sich mit größter Brutalität gegen den proletarischen Klassenkampf stellt. Die Frage ist vielmehr die, ob wir bei den 3,25 Millionen Stimmen, die die Kommunistische Partei bekam, angesichts der Regierungstätigkeit der Sozialdemokratie große politische Möglichkeiten hatten, unsere eigene revolutionäre Klassenfront zu erweitern und zu vertiefen. In dieser Beziehung war bei den Versöhnlern der größte Pessimismus, während die Partei und die Mehrheit der Parteiführung jene optimistische Grundlage schufen, von der wir ausgegangen sind.

Heute können wir sagen, daß die Tatsachen der Entwicklung der Kommunistischen Internationale und der deutschen Partei recht gegeben haben. Die damals vorgelegten Thesen des Genossen Bucharin, dessen Entwurf von der Delegation der KPdSU(B) radikal geändert werden mußte, begünstigten die Strömungen und Tendenzen, die bei der Minderheit der deutschen Delegation in den verschiedenen Sitzungen zum Ausdruck kamen. Wir können heute eine gewisse Bilanz der Tätigkeit der sozialdemokratischen Koalitionsregierung ziehen. Man kann für die sozialdemokratische Koalitionsregierung im wesentlichen die folgenden drei strategischen Aufgaben im Interesse der deutschen Bourgeoisie anführen: 1. Durchführung der Unternehmeroffensive in der Linie des Youngplans; 2. die Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion; 3. die gewaltsame Unterdrückung der revolutionären Bewegung in Deutschland. Es ist auch zweckmäßig, an Hand dieser drei strategischen Hauptpunkte der Politik der sozialdemokratischen Regierung in der gesamten Internationale zu zeigen, wie die sozialfaschistische Entwicklung in Deutschland, das Wesen des Sozialfaschismus in der Rolle der Sozialdemokratie zum Ausdruck kommen. Wir können heute von dieser Stelle aus mit Recht behaupten, daß Deutschland für viele andere kapitalistische Länder geradezu das Experimentierfeld des Sozialfaschismus abgeben wird.

Natürlich versucht auch die deutsche Bourgeoisie ‑ wie die Bourgeoisie in allen anderen Ländern ‑, sich zweier Methoden zu bedienen: der Methode des Sozialfaschismus und der Methode des Faschismus. Wir stellen fest, daß in Deutschland in allerletzter Zeit neben dem Sozialfaschismus der Nationalfaschismus gewachsen ist ‑ der Nationalfaschismus, der Bataillone stellt, die mit Mordwaffen gegen die revolutionäre Klassenfront vorstoßen, der Sozialfaschismus, der mit den sozialdemokratischen Polizeipräsidenten und mit den Sozialfaschisten in der Regierung die Erwerbslosen und die Arbeiterschaft auf den Straßen durch die Polizei blutig niederschlägt. Ich glaube, wir sehen hier ein weitgehendes Verwachsen des Sozialfaschismus und des Faschismus in der allgemeinen Entwicklung, die von größter Bedeutung auch für die anderen Länder ist. Wenn zum Beispiel in der letzten Zeit ein Vertreter des Nationalfaschismus in die thüringische Regierung eingetreten ist, so beweist das, daß der Nationalfaschismus allmählich von seiner ursprünglichen zügellosen Agitation abgeht und im Rahmen der Verfassung der deutschen Republik ähnliche Aufgaben für die Durchführung des Youngplans erhält wie der Sozialfaschismus. Besonders die jüngste Entwicklung in Deutschland zeigt eine fortschreitende Verschmelzung des Sozialfaschismus mit dem Nationalfaschismus. Natürlich kann der Nationalfaschismus in Deutschland nur vordringen, weil ihm der Sozialfaschismus die Wege ebnet. Wir haben zwei charakteristische Tatsachen, die man einander gegenüberstellen könnte, um dies zu beweisen: das Verbot des Roten Frontkämpferbundes und der Antifa[6] und das Bestehenbleiben der faschistischen Organisationen in Deutschland. Das beweist nicht nur das Bestehenbleiben der faschistischen Organisationen, sondern auch der Umstand, daß die Regierung Maßnahmen einleitet, um auf der Basis der faschistischen Organisationen ihre eigene Kriegsarmee auszubauen. Man kann sagen, daß der Sozialfaschismus der Waffenträger der faschistischen Diktatur ist. Ich glaube, unsere österreichische Bruderpartei hat diese Tatsache der Entwicklung des Faschismus viel zuwenig beachtet. Jene Verschmelzung des Sozialfaschismus und des Nationalfaschismus, die in Osterreich andere Formen zeigt als in Deutschland, wird auch in einigen anderen Ländern ähnliche Formen annehmen. Je stärker die revolutionären Massenaktionen werden, die zur Verschärfung der politischen Krise führen, um so stärker und aggressiver werden die sozialfaschistischen Unterdrückungsmethoden gegen das Proletariat.

Bei jeder revolutionären Zuspitzung tritt die Sozialdemokratie in die Regierung ein. Im Jahre 1919 trat sie in die Regierung ein, um die Revolution niederzuschlagen; im Jahre 1923 trat sie in die Regierung ein, um mit dem Ermächtigungsgesetz die Niederschlagung des Proletariats in Sachsen, Hamburg und in anderen Gebieten Deutschlands durchzuführen. Jetzt, wo der Youngplan und seine Durchführung auf der Tagesordnung stehen, ist die Sozialdemokratie der aktivste Faktor der Bourgeoisie im Kampfe gegen das revolutionäre Proletariat und bei der Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion. Der "Vorwärts" schrieb vor einigen Tagen, daß man den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion einleiten müsse. In diesen Tagen wurde dem Strafrechtsausschuß des Deutschen Reichstages vom Reichsinnenminister, dem Sozialdemokraten Severing, ein Brief geschickt, in dem er auf die Verstärkung der kommunistischen Unruhen hinwies, den Fensterscheibeneinwurf beim "Vorwärts" erwähnte und die sofortige Annahme des Republikschutzgesetzes forderte. Ich glaube, diese beiden Beispiele zeigen, daß die Sozialdemokratie auf der einen Seite die neue Kriegsvorbereitung gegen die Sowjetunion am heftigsten unterstützt und auf der anderen Seite die revolutionäre Klassenfront mit allen brutalen Mitteln zu unterdrücken versucht.

Wir können bei der Behandlung des Sozialfaschismus die Frage nicht so stellen, ob der Sozialfaschismus innerhalb oder außerhalb der Regierung steht. Die Politik des Sozialfaschismus - ob innerhalb oder außerhalb der Regierung - wird sich mit den schärfsten Methoden und ohne grundlegende Änderung gegen die revolutionäre Klassenfront richten und für die Durchführung der Aufgaben der Bourgeoisie einstehen. Wenn wir so die Bilanz der Regierung ziehen, so zeigt sich natürlich der wachsende Gegensatz: 1. zu den Millionen Wählermassen, die für die Sozialdemokratie gestimmt haben; 2. zu einem Teil der sozialdemokratischen Mitglieder in der Partei, in den Gewerkschaften und auch in vielen Massenorganisationen. Andererseits bildet sich mehr und mehr ein starker Flügel aus den im Staatsapparat befindlichen arbeiteraristokratischen Elementen und auch aus solchen Elementen, die in den Betrieben, in den Staatsfunktionen und in den Gewerkschaften die Politik des Sozialfaschismus gegen die revolutionäre Klassenfront durchführen. Wir sehen eine solche Entwicklung auch am besten an der Nationalsozialistischen Partei Deutschlands. Vor kurzem konnte diese Partei in Deutschland agitatorisch mit großen Versprechungen gegenüber den Mittelstandsschichten und gegenüber dem Proletariat auftreten, ohne daß sie von der Bourgeoisie vorübergehend zur Raison gebracht worden wäre. Heute kann man sehen, daß die Nationalsozialistische Partei dem Proletariat und den Mittelschichten auch keine Versprechungen mehr machen kann, weil in dieser zugespitzten Situation die deutsche Bourgeoisie der Führung dieser Partei verbieten mußte, mit besonders radikalen Versprechungen aufzutreten.

Daraus ergibt sich auch die andersartige Stellung der Nationalsozialisten. Sie traten zum Beispiel in die thüringische Regierung ein und erklärten, auf dem Boden der Verfassung, auf dem Boden der Republik den Youngplan mit Sozialfaschisten und Bourgeoisie durchzuführen. Deswegen hören wir auch von den Nationalfaschisten kein Wort mehr von der nationalen Unterdrückung in Südtirol, deswegen hören wir auch nichts mehr vom Revanchekrieg gegen Frankreich, der noch vor einigen Jahren von den Faschisten propagiert wurde - das ist längst vergessen. Deshalb auch die absolute Einreihung - mit den Sozialfaschisten und der Bourgeoisie - in die Kriegsfront gegen die Sowjetunion und Einreihung in die Innenpolitik im Rahmen der Verfassung und der republikanischen Gesetze, weil die Faschisten selbst in der gegenwärtigen Situation gar nicht in der Lage sind, die reaktionären Angriffe der Sozialfaschisten zu überbieten.

Ich glaube also, an Hand dieser wenigen Züge der Entwicklung können wir die Bilanz der jetzigen Regierung ziehen und können hinzufügen, daß eine ähnliche Entwicklung auch in anderen Ländern, in denen sich eine starke Kommunistische Partei mit einer richtigen Politik befindet, vor sich gehen wird; nur so können wir die Frage der weiteren Existenz der jetzigen Regierung stellen. Die "Kölnische Zeitung" sagte dazu vor einigen Wochen folgendes:

[...] je mehr der Eindruck befestigt wird, daß der Reichstag so entschlußlos und willensschwach in das neue Jahr eingetreten sei, wie er das alte verlassen hat, um so stärkeren Anreiz liefert er allen Umstürzlern, die nur darauf warten, daß das Parlament des Reichs völlig versage und das System zur Abdankung gezwungen werde.

Wir sehen also, wie ein führendes Organ der Deutschen Volkspartei die Lage beurteilt. Durch diese wenigen Zeilen wird die wirkliche Lage in Deutschland treffend charakterisiert. In einer solchen Situation, wo sich Millionen an der Peripherie der Massen allmählich von der Sozialdemokratie oder vorn Sozialfaschismus abwenden, tritt natürlich in der Sozialdemokratie ein ernster Faktor in Erscheinung: der “linke” Sozialfaschismus, der die Aufgabe hat, Zehntausenden von Mitgliedern der Sozialdemokratie den Zugang zum Kommunismus, zur KPD abzusperren. Die Komintern hat in ihren letzten Beschlüssen festgestellt, daß heute innerhalb der Sozialdemokratie der “linke” Sozialfaschismus die gefährlichste Rolle spielt. Ich glaube, daß in diesem Stadium diese Tatsache nicht nur für Deutschland, sondern auch für verschiedene Länder in Europa und vielleicht auch für Länder in anderen Kontinenten eine Rolle spielt. Es ist eine Tatsache, daß die “linke” Sozialdemokratie zum Beispiel gezwungen ist, sogar ihre linke Demagogie und Phraseologie aufzugeben, daß zum Beispiel bei der Abstimmung über das Mißtrauensvotum gegen die sächsische Regierung der “linke” Sozialfaschist Böschel mit dem deutschen Volksparteiler Bänger gemeinsam im Sächsischen Landtag aussprechen mußte, sie seien beide bereit, in Sachsen eine Große Koalition herbeizuführen. Hier zeigt sich, daß der “linke” Sozialfaschismus, der noch vor kurzem eine Scheinopposition gegen die Koalitionspolitik führen durfte, heute für die Regierungspolitik im Reiche und für die Regierung in Sachsen mit der Deutschen Volkspartei eintritt. Dabei vollführt der “linke” Sozialfaschist das Manöver, das Wesen dieser Regierung vor den Arbeitermassen in einem anderen Lichte darzustellen als die Bürgerblockregierung, die früher im Reiche und noch vor einigen Wochen in Sachsen bestand. In diesem Moment spielt diese Politik der “linken” Sozialdemokratie eine große Rolle, weil sie ein großer Hemmschuh ist für die sozialdemokratischen Arbeiter, die zur Kommunistischen Partei übertreten wollen. Alle Tatsachen in Deutschland weisen darauf hin, daß der “linke” Sozialfaschismus keine nationale deutsche Angelegenheit, sondern eine ungeheuer ernste internationale Angelegenheit der gesamten Komintern ist. Nicht nur, daß der “linke” Sozialfaschismus in Sachsen vorstößt und versucht, mit dieser Demagogie die Massen aufzuhalten, sondern er versucht auch, verschiedene Positionen im Reiche zu erobern. Dadurch werden die sozialdemokratischen Arbeiter vor-übergehend wieder irregeführt, weil sie glauben, daß die “linken” Sozialdemokraten eine andere Politik durchführen als die Reichspolitik der Sozialdemokratie.

Wir haben bei dieser Lage große Möglichkeiten, den Zersetzungsprozeß in der Sozialdemokratie zu beschleunigen. Da sich aber die Situation verschärft und da die Kampfforderungen anders stehen, als sie zum Beispiel am Ausgangspunkt der zweiten Periode standen, stellen wir auf dem Gebiete der Zersetzungsarbeit unter den sozialdemokratischen Arbeitern die Frage der Loslösung von Gruppierungen und Gruppen der sozialdemokratischen Arbeiter anders als damals.

Heute versuchen wir nicht mehr, eine Zersetzungsarbeit in der Sozialdemokratie einzuleiten, sondern wir versuchen, in den wichtigsten Situationen bei revolutionären Aktionen Absplitterungen sozialdemokratischer Gruppen zur Kommunistischen Partei zu erreichen. Die Ansätze dazu sind in Deutschland wirklich vorhanden. Der Übertritt des Menschewisten Schwalbe in den letzten Tagen, der Übertritt der Reichstagsabgeordneten Reese zur Kommunistischen Partei und der Übertritt einer Ortsgruppe im Freistaat Danzig ‑ die mit Ausnahme von wenigen Gemeindevertretern zur Kommunistischen Partei übertrat ‑, sind deutliche Regungen in der Sozialdemokratie, die uns bei einer noch schärferen und beweglicheren Massenpolitik der Kommunistischen Partei unter Aufrollung der prinzipiellen Gegensätze noch weit größere Möglichkeiten geben, als das jetzt der Fall ist. Wir müssen von dieser Stelle aus mit der größten Bestimmtheit erklären, daß wir auf diesem Gebiete große ideologische Schwächen haben, die zum Teil in der außerordentlichen Starrheit und Unbeweglichkeit verschiedener Parteiorganisationen und Funktionärschichten liegen. Sie verstehen es nicht, die Politik der Einheitsfront von unten anzuwenden, zwischen den sozialfaschistischen Führern, den unteren Betriebsfunktionären und den einfachen sozialdemokratischen Arbeitern zu unterscheiden, um die Arbeiter vom Sozialfaschismus loszureißen.

Vorn X. Plenum bis heute können wir eine Reihe von Fortschritten konstatieren, wobei wir nicht verhehlen wollen, daß große Widerstände, Mängel, Unterlassungen und sogar Fehler in der Durchführung der Politik zu verzeichnen waren.

Das Grundproblem, das vom Genossen Manuilski gestellt wurde, der Kampf um die Mehrheit des Proletariats, steht in Deutschland in einem wichtigen entscheidenden Stadium. Wir können mit den bescheidenen Anfängen an den verschiedenen Fronten des Klassenkampfes nicht im entferntesten zufrieden sein. Wir haben in der letzten Zeit eine ganze Reihe neuer Kampfmethoden und Kampfformen angewandt, um die großen Massen des Proletariats für die revolutionäre Politik zu gewinnen. Im August-Plenum unseres ZK wurde bei dem Bericht über das X. EKKI-Plenum als wichtigste Aufgabe gestellt: eine starke Wendung in der revolutionären Massenarbeit unter ausdrücklicher Orientierung auf die steigende Erwerbslosigkeit in Deutschland, wobei wir besonders auf die Lehren des 1. August hinwiesen, um diese in Zukunft bei ähnlichen Aktionen anzuwenden. Viel wichtiger waren die beiden nächsten Plenarsitzungen des ZK im Oktober und Anfang November 1929. Auf dem Oktober-Plenum stellten wir die Frage des Tempoverlustes im Kampfe gegen den Youngplan in Verbindung mit der größten agitatorischen und systematischen Popularisierung der Entwicklung des Fünfjahrplans in der Sowjetunion und der proletarischen Diktatur. Diese Sitzung des ZK war ein neuer revolutionärer Auftakt für die Partei, weil wir zum ersten Male die große Bedeutung der nationalistischen Bewegung neben dem Sozialfaschismus zeigten, denn die Nationalfaschisten hatten im Kampfe gegen den Youngplan leider vorübergehend einen Vorsprung erobert. Wir können heute die Tatsache feststellen, daß wir nicht nur diesen Vorsprung der Nationalfaschisten zurückgewinnen, sondern wir haben einen solchen Vorsprung in der Partei zu verzeichnen, daß wir im Kampfe gegen den Youngplan in Deutschland die Führung übernommen haben.

Auf dem November-Plenum des Zentralkomitees standen zwei große Aufgaben: 1. die Auswertung der verschiedenartigen Ergebnisse der Gemeindewahlen vorn 17. November und 2. die Vorbereitung des Reichskongresses der revolutionären Gewerkschaftsopposition.

Bei der ersten Frage war es die Hauptaufgabe der Partei, die Ungleichmäßigkeit der Entwicklung festzustellen, die in der Stimmenabgabe für die Kommunistische Partei in den verschiedenen Gebieten zum Ausdruck kam.

Die zweite Aufgabe bestand in der Vorbereitung des Reichskongresses der revolutionären Gewerkschaftsopposition. Es war die große Kernfrage, neben der Partei eine solche organisatorische Grundlage zu schaffen, auf der wir den Bestand unserer Kader erweitern, die revolutionäre Massenarbeit vertiefen und der Partei höhere Aufgaben in Form revolutionärer Aktionen gegen die Bourgeoisie und den Sozialfaschismus stellen können. In der letzten Sitzung des Polbüros stellten wir die wichtigste, außerordentlich komplizierte Frage: Wie ist es möglich, daß es uns bei einer objektiv günstigen Situation und bei der richtigen Politik der Kommunistischen Partei nicht gelungen ist, im Jahre 1929 durch revolutionäre Aktionen höheren Grades und auch durch wirtschaftliche Streiks, wie sie im Jahre 1928 durchgeführt worden sind, die Massen zu mobilisieren? Das Polbüro stellte fest, daß die Beschlüsse des X. EKKI-Plenums und der letzten drei Zentralkomiteesitzungen erfolgreich durchgeführt wurden, was nicht ausschließt, daß wir verschiedene Fehler und Mängel in der Durchführung dieser Politik begangen haben. Wir hatten die folgenden Fortschritte und Erfolge zu verzeichnen: 1. Auf dem Gebiete der Verstärkung ihrer politischen Massenarbeit ist die Partei gewachsen; 2. in der Einholung und Wettmachung der Tempoverlustes im Kampfe gegen den Youngplan sind wir bedeutend weiter gekommen; 3. die ersten Schritte zur festeren Organisierung der revolutionären Gewerkschaftsopposition und 4. zur Erhöhung der Aktivität unter den Erwerbslosen und ihre Verbindung mit der betriebstätigen Arbeiterschaft in Deutschland sind eingeleitet.

Wenn wir die Entwicklung des revolutionären Klassenkampfes in Deutschland analysieren, so stellen wir die Frage des Kampfes gegen den Youngplan nicht nur als Frage der revolutionären Lösung ‑ indem wir der Diktatur der Bourgeoisie die Befreiung der deutschen werktätigen Massen von den Sklavenketten des nationalen und internationalen Kapitalismus entgegensetzen ‑, nicht nur als Frage des Sturzes der kapitalistischen Herrschaft, sondern wir stellen die Frage des Kampfes gegen den Youngplan im Tageskampf der werktätigen Schichten Deutschlands um jedes Stückchen Brot. In diesem Zusammenhang ist der Kampf gegen den Youngplan nicht nur die brennendste Frage der prinzipiellen Einstellung zum Sozialfaschismus, sondern auch des Tageskampfes. Bei der Erweiterung unserer Kampfmaßnahmen spielt er die größte Rolle. Das Jahr 1928 war eine gewisse Vorstufe zu einer solchen Entwicklung, wie sie Genosse Manuilski richtig geschildert hat: des Heranreifens des revolutionären Aufschwungs und des Überleitens zur revolutionären Situation, was in starkem Maße eine Frage der subjektiven Beeinflussung der Massen durch die Kommunistische Partei ist.

Wurden im Jahre 1928 die Streiks mit den alten Methoden, wie in den Jahren 1925 bis 1927, durchgeführt? Natürlich! Erst die Ruhraussperrung im Dezember 1928 wurde von dem klassenbewußten Teil der deutschen Bourgeoisie mit einer schroffen Änderung der Kampftaktik und der Kampfformen durchgeführt. Eine andere Frage, die nicht so große Bedeutung hat, ist die, daß auch die Bourgeoisie in der Zeit der Konjunktur noch gewisse Konzessionen machen konnte. Heute, bei der Verschärfung der Gesamtsituation, ändert sich die ganze Form der Unternehmeroffensive mit Hilfe der bürgerlichen Staatsgewalt und der sozialfaschistischen Politik. Es zeigt sich ein Umschwung in der Frage der Kampfmethoden seitens des Unternehmertums, der seinen Ausgangspunkt in der Aussperrung in der Metallindutrie des Ruhrgebiets im Jahre 1928 hatte. Gerade der veränderte Charakter der Offensive des Unternehmertums mit Hilfe des Staatsapparates und der sozialfaschistischen Gewerkschaften zeigte, daß schon diese Aussperrung das erste Anzeichen der neuen Arten und Methoden der Unternehmeroffensive war.

Severing war es, der als Vertreter der Regierung am Ende des Jahres 1928 eingriff, um den damaligen Hungerschiedsspruch gegen die Metallarbeiter durchzusetzen. Dieser Hungerschiedsspruch, der gerade für wichtige Kreise der Arbeiter der wichtigsten Metallbetriebe des Ruhrgebiets in der Akkordberechnung Verschlechterungen brachte und auch sonst den Tarif verschlechterte, war der erste neue Vorstoß des Unternehmertums in Deutschland gegen die Entwicklung, gegen die ansteigende und bereits beginnende Gegenoffensive des deutschen Proletariats. Unsere Wendung, die wir in der Partei durchführten, war sehr schwierig. Auf den großen Konferenzen im Januar 1929 über die Frage der Durchführung der Taktik der Betriebsrätewahlen mußten wir unsere besten Genossen vorschicken, um unsere Delegierten und Funktionäre von der Linie der Komintern zu überzeugen. Das war keine leichte Aufgabe. Obwohl damals die Konferenz gegen ganz wenige Stimmen den Beschlüssen zustimmte, war die Überzeugungstreue im Moment der Abstimmung bei unseren Delegierten nicht vorhanden. Bei der Durchführung unserer revolutionären Arbeit in den Gewerkschaften stießen wir ebenfalls auf einen gewissen Widerstand in unserer eigenen Partei. Dieser Widerstand wurde noch dadurch verstärkt, weil wir noch nicht eine solche innerparteiliche Konsolidierung hatten, wie es zum Beispiel im jetzigen Stadium der Partei der Fall ist. Es waren zwar bedeutende rechte Führer, Liquidatoren, aus der Partei hinausgestoßen worden, aber die Versöhnler hatten die Rolle der Rechten in der Partei übernommen und versuchten, uns in unserer Taktik zu hemmen, wodurch die Widerstände der eigenen Mitglieder in der Partei ungeheuer verstärkt wurden. Die Wendung der Partei zu den Massen bei der Durchführung dieser revolutionären Taktik dauerte monatelang.

Die deutsche Bourgeoisie änderte ihre Methoden. Heute wird bei der Krise in Deutschland nicht die geringste Konzession gemacht; stellenweise sehen wir schon einen direkten Lohnabbau und eine Verlängerung der Arbeitszeit. Auch half die Schlichtungsmaschine größere Lohnkämpfe im Jahre 1929 verhindern. Sie fällt jetzt andere Entscheidungen, ebenso wie heute zum Beispiel auch die Arbeitsgerichte in Deutschland andere Entscheidungen fällen als im Jahre 1928 und sogar 1929. Wir werden bei den Betriebsrätewahlen sehen, daß wir mit ganz anderen rigorosen Methoden zu rechnen haben, mit denen die deutsche Bourgeoisie auch die Wahl revolutionärer Betriebsräte zu inhibieren versucht. Es kommt hier hinzu, daß 1929 eine größere Zahl kleinerer Kämpfe stattfand, die nicht in die Statistik aufgenommen worden sind. Die offizielle Statistik geht nur nach den Tarifbewegungen und nach allgemeinen Sprüchen in der Schlichtungspraxis. Die kleineren Kämpfe, die in Berlin, Sachsen, Hamburg und im Ruhrgebiet stattfanden, waren die ersten Kämpfe in der höheren aggressiven Form, wo die Frage der selbständigen Führung der Kämpfe gegen die Unternehmergewalt, den Sozialfaschismus und die bürgerliche Staatsgewalt stand. Hierbei ist besonders der Berliner Rohrlegerstreik von großer prinzipieller Bedeutung. Das Proletariat begann 1929 im Gegenangriff gegen die neuen Methoden der Unternehmer, des Sozialfaschismus und der bürgerlichen Staatsgewalt neue Kampfformen zu wählen, die aber noch nicht die Stufe erreicht hatten, um die wirtschaftlichen Streik zur vollen Entfaltung zu bringen. Jene Strategie der Unternehmer und unsere eigene revolutionäre Strategie stehen sich gegenüber. Wo entscheidende Fragen manchmal verspätet eingeleitet werden, kann die Partei nicht schnell genug der Strategie der Bourgeoisie ihre eigene Strategie entgegensetzen. Trotzdem darf nicht verhehlt werden, daß auch die Frage der Millionen Erwerbslosen eine große Rolle gespielt hat. Das zu verhehlen wäre geradezu eine Verkleisterung der bestehenden Tatsachen, das würde auch verwischen, was früher schon Marx gesagt hat, daß sich die Bourgeoisie eine Reservearmee schafft, die sie gegen die Arbeiter im Betriebe auszuspielen versucht. Die Arbeitslosen haben im heutigen Stadium eine viel größere revolutionäre Bedeutung, als selbst unsere eigenen Parteigenossen ahnen. Wir haben erst durch unsere eigenen Erlebnisse an verschiedenen Punkten der Klassenfront in Deutschland gesehen, welch ein ungeheurer Faktor die Arbeitslosenarmee ist, wenn es uns gelingt, sie zusammen mit den Betriebsarbeitern unter unserer Kontrolle und Beeinflussung in den revolutionären Strom hineinzuziehen. Heute können wir im Zusammenhang mit dieser großen Armee in Deutschland die Perspektiven für 1930 auch schon anders stellen als für 1929.

Was hat sich zum Beispiel im Vergleich zum Jahre 1929 geändert? Keine Kleinigkeit! 1. Der Youngplan hat schon eine Verschlechterung der Lebenslage der Massen und eine sprunghafte Senkung des Realeinkommens um 13,7 Prozent im letzten Halbjahr 1929 gebracht; der Senkungsprozeß ist noch nicht abgeschlossen. 2. Der Sozialfaschismus und die Regierung sind in den Massen stärker diskreditiert, so daß die Kommunistische Partei auch eine ganz andere Möglichkeit hat, auf dieser Basis weiter vorzustoßen. 3. Wir haben andere und neue Kampfmethoden der revolutionären Massenarbeit und in der Durchführung der revolutionären Aktionen. 4. Einer der Hauptgründe für das Fehlen größerer Wirtschaftsstreiks im verflossenen Jahr war meines Erachtens der Mangel einer starken organisatorischen Kraft, die solche Kämpfe entfesseln und führen konnte, das ist vielleicht das Wichtigste von allem. Und dieser Tempoverlust, besonders beim vierten Punkt, war vielleicht der wichtigste Hemmschuh bei der Entfaltung der Wirtschaftskämpfe, weil der Sozialfaschismus gemeinsam mit der bürgerlichen Staatsgewalt und dem Unternehmertum im Jahre 1929 jeden Kampf und Streik bedingungslos unterdrückte.

 

 

 

 

 



[1]. Cf. http://www.deutsche-kommunisten.de/Ernst_Thaelmann/Band2/thaelmann-band2-019.shtml.

[2]. Protokoll, 10. Plenum des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, Moskau, 3. Juli 1929 bis 19. Juli 1929". S. 895.

[3]. Iwanowitsch Gussew (Jakow D. Drabkin).

[4]. Waffen für den Klassenkampf, Beschlüsse des XII. Parteitages der KPD”. S. 8.

[5]. Ebenda, S. 15.

[6]. Antifa ‑ Antifaschistische Junge Garde, eine Schutz- und Wehrorganisation der männlichen und weiblichen Jungarbeiter Deutschlands, die nach dem Verbot der Roten Jungfront (Mai 1929) geschaffen wurde. Am 13. Februar 1930 wurde die Berliner Organisation der Antifa von Zörgiebel verboten.