Description : F:\Werner\orig\00_02_inet_aa\Ignition\site\img\pag\entete.jpg

Startseite

 

 

English

 

Français

 

Español

 

Site-Übersicht

 

 

 

 

 

Deutsch   >   Grunddokumente   >

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

4. Kongress der Kommunistischen Internationale
(5. November - 5. Dezember 1922)

Nikolai Bucharin :
Das Programm der Internationale und die kommunistischen Parteien
(18. November 1922)

 

 

Quelle:

4. Kongreß der Kommunistischen Internationale (5. November - 5. Dezember 1922) - Protokoll, Verlag der Kommunistischen Internationale, Hamburg, Verlagsbuchhandlung Carl Hoym Nachf. L. Cahnbley, 1923, S. 404-440.

Das Dokument in Französisch 

 

 

 

 

 

 

Erstellt: März 2021

Druckversion
Dokumente der Kommunistischen Internationale ‑ Übersicht

 

 

 

 

 

 

Genossen, wir werden, wie Sie alle wissen, auf diesem Kongreß kein endgültiges Programm annehmen, und zwar deshalb nicht, weil viele Parteien zu dieser Frage noch nicht Stellung genommen haben. Selbst die russische Partei hat den Entwurf, den ich Ihnen vorzutragen habe, noch nicht diskutiert. Deshalb meinen die meisten Delegationen, daß es zweckmäßiger sei, auf diesem Kongreß noch kein endgültiges Programm anzunehmen, sondern nur über das Programm zu diskutieren und es dann erst auf dem folgenden Kongreß endgültig anzunehmen. Die Tatsache aber, daß wir es überhaupt wagen, eine so bedeutsame Frage, wie die des Programms, auf die Tagesordnung eines Weltkongresses zu setzen, ein so schwieriges Problem, wie das des internationalen Programms hier zu diskutieren, ist ein Zeichen unseres starken Wachstums. Und wenn wir uns heute mit diesem Problem beschäftigen, so können wir getrost und mit ruhigem Gewissen jetzt schon sagen, daß die Kommunistische Internationale dieses Problem auch lösen wird, während im Lager unserer Gegner, der 2. und 2 1/2 Internationale, momentan eine vollständige theoretische Impotenz herrscht. (Clara Zetkin: Sehr richtig!)

Als erste Abteilung der verschiedenen Fragen, die ich zu behandeln habe, werde ich die programmatischen Grundfragen der Theorie innerhalb der 2. Internationale vor dem Krieg betrachten. Ich stelle da die These auf, daß in dieser Theorie der 2. Internationale vor dem Kriege der Zusammenbruch der 2. Internationale während des Krieges seine sehr tiefe theoretische Wurzel hat. Überhaupt können wir im Marxismus, in seiner Ideologie, in seiner ideologischen Konstruktion drei Hauptphasen unterscheiden: die erste Phase war der Marxismus von Marx und Engels selbst. Dann kam die zweite Phase: das war der Marxismus der 2. Internationale, der Marxismus der Epigonen. Und jetzt haben wir die dritte Phase des Marxismus, den bolschewistischen oder kommunistischen Marxismus, der sich in einem gewissen, und zwar ziemlich hohen Grade wieder rückwärts zu dem ursprünglichen Marxismus von Marx und Engels selbst bewegt. Dieser ursprüngliche Marxismus von Marx und Engels selbst war das Kind der europäischen Revolution von 1848 und deshalb hatte dieser wirklich orthodoxe Marxismus von Marx und Engels eine höchst revolutionäre Seele; dieser revolutionäre Sinn der marxistischen Theorie erklärt sich eben daraus, daß die Lehre von Marx und Engels geboren wurde als ganz Europa im Schwanken begriffen war und das Proletariat als revolutionäre Klasse in die Arena der Weltgeschichte trat. Dann kam eine andere Periode und auch eine ideologische Wendung. Diese ganze geschichtliche Entwicklung zeigt uns wieder einmal das Phänomen, das wir in der Geschichte fast aller Ideologien antreffen, daß nämlich eine Ideologie, die unter gewissen Bedingungen geboren ist, unter anderen Bedingungen ein anderes Antlitz, eine andere Form annimmt. Ebenso war es mit dem Marxismus. Nach der revolutionären Epoche um die Mitte vorigen Jahrhunderts in Europa, kam eine ganz andere geschichtliche Epoche in der Entwicklung des kapitalistischen Systems. Das war Epoche des riesigen Wachstums der kapitalistischen Gebiete. Dieses Wachstum gründete sich im wesentlichen auf die Kolonialpolitik der Bourgeoisie, die Blüte der kontinentalen Industrie basierte im wesentlichen auf der Ausbeutung der kolonialen Völker. Diese Blüte, diese Prosperität der kontinentalen Industrie rief verschiedene soziale Verschiebungen innerhalb der europäischen Völker hervor. Die Position der Arbeiterklasse wurde befestigt im ökonomischen Sinne des Wortes, aber innerhalb derselben Zeit hat die kapitalistische Entwicklung eine große Interessengemeinschaft zwischen der Bourgeoisie und der kontinentalen Arbeiterklasse geschaffen und diese Tatsache, diese Interessengemeinschaft der kontinentalen Bourgeoisie und des kontinentalen Proletariats ergeben die Basis für eine sehr große psychologische und ideologische Wendung innerhalb der Arbeiterklasse und eo ipso innerhalb der sozialistischen Parteien.

Und nun kam die zweite Phase in der Entwicklung des Marxismus, nämlich die des sozialdemokratischen Marxismus, des sogenannten Marxismus der marxistischen Epigonen. Der Kampf zwischen der sogenannten orthodoxen Tendenz und der reformistischen Tendenz, der berühmte Streit der sogenannten orthodoxen Sozialdemokratie mit der revisionistischen, der in Kautsky auf der einen Seite und in Eduard Bernstein auf der anderen Seite personifiziert wurde, dieser Streit, von dem gesagt wurde, er sei ein Sieg des orthodoxen Marxismus, erscheint - wenn wir die ganze Geschichte retrospektiv betrachten - vor unseren Augen als eine völlige Kapitulation des "orthodoxen" Marxismus vor dem revisionistischen Marxismus. Ich kann hier die These aufstellen, daß in diesem Streite, der längst vor dem Weltkriege bestand, der sogenannte orthodoxe Marxismus, d. h. der Marxismus von Karl Kautsky, in den wichtigsten theoretischen Fragen vor dem Revisionismus kapitulierte. Das haben wir früher nicht bemerkt. Jetzt sehen wir es aber ganz klar und deutlich und können auch sehr gut begreifen, warum das so war. Nehmen wir z. B. die Frage der Verelendungstheorie; wie Sie alle wissen, hat der Kautskysche Marxismus dieser Frage eine mildere Form gegeben, als es jene war, die von Marx selbst herrührte. Es wurde behauptet, daß wir in der Epoche der kapitalistischen Entwicklung eine relative Verschlechterung der Position der Arbeiterklasse haben und daß das immanente Gesetz der kapitalistischen Entwicklung gerade darin bestehe, daß die Lage der Arbeiterklasse sich zwar bessert, daß sie sich aber relativ zur Lage der Bourgeoisie verschlechtert. So begründete Kautsky vor der Attacke Bernsteins diese angeblich marxistische These. Ich halte diese Behauptung von Kautsky für unrichtig und behaupte, daß sich diese theoretische Position auf die wirkliche, empirische Lage der europäischen und amerikanischen Arbeiterschaft gründete.

In der marxistischen Theorie aber analysiert Marx eine abstrakte kapitalistische Gesellschaft und behauptet, daß das immanente Gesetz der kapitalistischen Entwicklung zur Verschlechterung der Lage der Arbeiterschaft führt. Was tut aber der Kautskysche Marxismus? Er verstand unter der Arbeiterklasse ausschließlich die kontinentale Arbeiterklasse. Die Lage dieser Schichten des Proletariats wurde immer besser und besser; aber der Kautskysche Marxismus übersah den Umstand, daß diese Besserung der Lage der kontinentalen Arbeiterklasse um den Preis, der Vernichtung, der Ausraubung der kolonialen Völker gekauft wurde. Marx nahm die ganze kapitalistische Gesellschaft. Wenn wir etwas konkreter sein wollten als Marx, dann sollten wir nicht nur den amerikanisch-europäischen Kreis in unsere Betrachtungen ziehen, sondern die gesamte Weltwirtschaft. Dann bekämen wir ein ganz anderes theoretisches Bild, als das von Kautsky und Konsorten. Also - theoretisch betrachtet war die These Kautskys unrichtig. Es war eine Kapitulation vor der Attacke des Revisionismus.

Nehmen wir eine andere Frage, die Zusammenbruchstheorie - und die Erhebung des Proletariats. Die Theorie der Katastrophe, des Zusammenbruchs wurde auch von Kautsky im Streite mit den Revisionisten stark gemildert. Was aber die Revolution betrifft, das Resultat des Zusammenbruchs, so finden wir, wenn wir sogar die am meisten revolutionären Schriften Kautskys, z. B. seinen "Weg zur Macht" lesen, selbst in diesen Schriften viele rein komische Stellen, einen bis zur Komik übertriebenen Opportunismus. Nehmen wir z. B. verschiedene Urteile in der "Sozialen Revolution" über den Generalstreik, wo Kautsky behauptet, wenn wir fähig sind, die Revolution zu machen, brauchen wir keinen Generalstreik, wenn nicht - brauchen wir auch keinen. Was bedeutet das? Das bedeutet einen reinen Opportunismus, den wir früher nicht ganz genügend bemerkt haben, den wir jetzt aber ganz klar sehen.

Nehmen wir die dritte theoretische Frage, nämlich die Frage der Theorie des Staates. Hier muß ich etwas länger sprechen. Auch wir behaupteten am Anfange des Krieges, daß der Kautskyanismus seine eigene Theorie plötzlich preisgegeben habe. Das haben auch wir gemeint und haben das geschrieben. Aber das ist nicht wahr. Jetzt können wir ganz ruhig sagen daß unsere Behauptungen irrig waren. Ganz umgekehrt: der sogenannte Verrat der Sozialdemokraten und Kautskyaner war begründet in der Theorie, die diese Theoretiker auch schon vor dem Kriege vertraten. Was behauptete man über den Staat und über die Eroberung der politischen Macht seitens des Proletariats? Man stellte sich die Sache so vor, als ob es sich um irgendwelches Objekt handelte, das aus den Händen einer Klasse in die Hände einer anderen Klasse überzugehen hat. Das war auch die Vorstellung von Kautsky.

Nehmen wir dann den Fall des imperialistischen Krieges. Wenn wir den Staat als ein einheitliches Instrument betrachten, das früher in einer Hand und in einer anderen Epoche in anderen Händen ist, als ein fast neutrales Ding, dann ist es vollkommen begreiflich, daß, wenn der Krieg ausbricht und das Proletariat die Perspektive hat, diesen Staat auf diese Weise zu erobern, man dieses Instrument schützen muß. Während des Weltkrieges wurde die Verteidigung des Staates auf die Avantszene getragen. Es war völlig logisch durchdacht und es war nur eine logische Konsequenz dieser Theorie, wenn Kautsky die Frage der Landesverteidigung aufgestellt und bejaht hat.

Ebenso verhält es sich mit der Frage der Diktatur des Proletariats. Sogar im Streite mit den Revisionisten hat Kautsky diese Frage niemals entwickelt. Er hat über diese wichtigste Frage und dieses wichtigste Problem in diesem Streite fast kein Wort verloren. Er hat ungefähr gesagt: diese Frage werden andere Generationen entscheiden. Das war die "Problemstellung".

Genossen! Wenn wir alle diese logischen Gedankengänge betrachten und wenn wir versuchen wollen, das soziologische Äquivalent zu entdecken, dann müssen wir sagen, wir haben hier eine angeblich marxistische Ideologie, die begründet ist in der aristokratischen Position dieser kontinentalen Arbeiterschichten, deren Besserung der Lage mit der kolonialen Ausplünderung der Arbeiter erkauft wurde. Diese These über die soziologische Grundlage des Kautskyanismus ist in der Wirklichkeit von den Theoretikern der 2. Internationale anerkannt. Die Leute sind so frech geworden, daß sie jetzt glauben, keine Maske mehr zu brauchen. In seiner Programmschrift spricht Kautsky gerade über diese Diagnose und sieht gar nichts Schlechtes darin:

Das Proletariat ist ja in seinem Wesen nicht ganz einheitlich. Wir haben bereits gesehen, daß es in zwei Schichten zerfällt: die einen sind durch besondere ökonomische Verhältnisse oder durch die Gesetzgebung so begünstigt, daß sie starke Organisationen bilden und durch sie ihre Interessen ausgiebig wahren können; sie bilden den ansteigenden Teil des Proletariats, seine "Aristokratie", die den herabdrückenden Tendenzen des Kapitalismus erfolgreich Widerstand zu leisten weiß, mitunter so sehr, daß der Kampf gegen den Kapitalismus für sie nicht mehr ein Kampf gegen das Elend, sondern ein Kampf um die Macht ist.

Diese Gegenüberstellung von Kampf gegen das Elend und Kampf um die Macht ist auch eine "sehr marxistische" Redewendung! Und dann weiter:

Neben diesen wohldisziplinierten, geschulten, kampffähigen (d. h. die Stiefel der Generale leckenden) Truppen steht aber das große Heer derjenigen (sehen Sie, das kann er nicht negieren!), die unter so ungünstige Verhältnisse versetzt sind, daß sie noch nicht vermochten, sich zu organisieren und die niederdrückenden Tendenzen des Kapitalismus zu überwinden. Sie bleiben im Elend und versinken vielfach immer tiefer in seinem Sumpf.

Und dann, wenn Kautsky versucht, die taktischen Unterschiede zwischen ihm und uns, der Kommunistische Internationale, die sich nicht auf die Arbeiteraristokratie stützt, sondern auf die am meisten unterdrückten Schichten, zu finden, dann findet er für die Beurteilung der taktischen Richtungen folgendes:

Dank seiner Unwissenheit und Unerfahrenheit wird er in seinem heißen Drängen nach Wohlfahrt und Freiheit eine leichte Beute aller Demagogen (d. h. Kommunisten!), die aus Berechnung oder Leichtfertigkeit (d. i. die "soziologische Analyse") ihm die glänzendsten Versprechungen vorgaukeln und zum Kampfe gegen die geschulten, altorganisierten Elemente führen, die gewohnt sind, sicher zu gehen und sich in jedem Moment nur solche Aufgaben zu stellen, zu deren Lösung ihre Fähigkeiten und Kräfte ausreichen usw. usw.

Es gibt einen Roman von Jack London "Die eiserne Ferse" Jack London, der kein besonders guter Marxist war, begriff das Problem der modernen Arbeiterbewegung sehr gut. Er verstand sehr gut, daß die Bourgeoisie nicht nur versucht, sondern es in Wirklichkeit zustandegebracht hat, die Arbeiterklasse in zwei Teile zu spalten, indem sie den einen Teil korrumpiert, nämlich den geschulten, qualifizierten Teil des Proletariats, und mittels dieser Arbeiteraristokratie jeden Aufstand der Arbeiterklasse unterdrückt. Aber das, was Jack London sehr gut vom Standpunkt der Arbeiter schildert, versteht der Theoretiker der 2. Internationale nicht. Die Tragödie der Arbeiterklasse, die innere Spaltung, nutzt er aus, um die bürgerliche Gesellschaft zu unterstützen. Darin besteht die Funktion der Sozialdemokratie. Jetzt, nach vielen Jahren des Krieges und der Revolution, sehen wir, daß die Leute so schamlos sind, daß sie diesen Dreck selbst schildern und theoretisch begründen. Die soziologische Grundlage dieses Kautskyschen Marxismus ist so klar, wie sie nicht klarer sein kann. Und wenn ich dieselben Probleme, von denen ich schon geredet habe, noch einmal betrachte, in der Form, in der sie jetzt in den Theorien der 2. Internationale vor unseren Augen stehen, bekommen wir noch ein klareres Bild.

Wenn wir die neuesten Schriften, speziell das neueste Buch Kauts- kys betrachten und als erstes Problem das der Verelendungstheorie untersuchen, - finden wir darin kein Wort über diese Theorie. Es ist absolut unbegreiflich: in der Zeit, wo die Tendenz des Kapitalismus in ihrer ganzen Nacktheit vor unseren Augen steht wo alles zugespitzt ist, wo alle Schleier von unseren Augen fallen, verliert Kautsky kein Wort über das wichtigste Problem! Aber wenn wir noch einige andere Schriften betrachten, nicht allein das Buch Kautskys, finden wir die Schlüssel dazu, was dieses Schweigen eigentlich bedeutet.

Es gibt in Deutschland ein Buch, speziell für Jugendliche verfaßt, von einem gewissen Abraham. Dieses Buch hat eine sehr große Verbreitung innerhalb der Jugend und ist, soviel ich weiß, in verschiedene andere Sprachen übersetzt. Dieser Herr Abraham stellt frech und zynisch die These auf: "Den Marxismus hat der Revisionismus gerettet!" Wir brauchen keine marxistische Theorie, der Revisionismus, Bernstein, hat der Arbeiterschaft "die wahren Elemente des Marxismus gerettet". Das ist die Hauptthese. Wenn dieser Herr die Lage der Arbeiterklasse analysiert und versucht, etwas über unsere kommunistischen Behauptungen zu sagen, so stellt er folgende zwei Thesen auf: 1. Früher war die Sache nicht so, die Lage hat sich immer gebessert (er läßt die Kolonialvölker und die Kulis außer acht). Das zweite ist das Frappanteste: Die jetzige Situation, mit dem Valutachaos, der wirklichen Verelendung einiger Schichten, ist so, daß sie sich nicht vom Standpunkt irgendwelcher Gesetzmäßigkeit analysieren läßt. Also: wir sind nicht imstande, das alles zu analysieren. Wenn wir das alles als ernsthafte Behauptung betrachten, können wir sagen: Sie geben uns eine mystische Erklärung, von Mystik und Mist zugleich (Heiterkeit). Der taktische Sinn besteht darin, daß die Leute vor der Arbeiterschaft ausweichen wollen mit einer so dummen Behauptung, daß wir jetzt nichts erklären können, da die Sache so kompliziert sei, daß wir gar nichts verstehen. Sie können es deswegen nicht verstehen, da wir uns in einer Periode befinden, wo die Zusammenbruchstheorie sich in der Wirklichkeit realisiert.

Sie sind nicht imstande, die Revolution zu analysieren, eine Analyse zu machen, aus der praktische Schlüsse revolutionärer Natur gezogen werden können. Sie weichen aus und sagen: es gibt in unserer Zeit keine Gesetzmäßigkeit.

Nehmen wir z. B. die Krisentheorie. Was die Krisentheorie betrifft, so behauptet Kautsky, daß wir jetzt bei der theoretischen Betrachtung der Entwicklung des kapitalistischen Systems ganz offen sagen sollen, daß die Krisentheorie bei unserer Betrachtung "bescheidenere Dimensionen" annehmen müsse. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß die kapitalistische Welt nach Kautsky in der letzten Zeit harmonischer geworden ist. Diese Behauptung ist natürlich die Verkörperung der reinen Dummheit. Umgekehrt ist es. Wir können jetzt die These aufstellen, daß die Krisentheorie sich als vollständig richtig herausgestellt hat. Wir können jetzt sogar behaupten, daß der Krieg selbst eine ganz spezifische Form der ökonomischen Krise war, und gerade diese spezifische Form sollen wir theoretisch begreifen, theoretisch analysieren. Und wenn diese Leute jetzt die Revolution beurteilen, wenn sie eine proletarische Revolution mit Fleisch und Blut beurteilen wollen, dann sagen sie: Das ist keine wahre Revolution; wir wollen auf eine "wirkliche" Revolution warten.

Es gibt bürgerliche Gelehrte, die Sprünge in der Natur und in der Wissenschaft verneinen, obwohl diese Tatsachen empirische Tatsachen sind. Ebenso Kautsky, der sagt: Die Revolution in Rußland ist erfolgt, aber das ist keine proletarische, keine wirkliche, keine wahre Revolution. Der Zusammenbruch ist da, wir sind mitten drin; die größte Krise, die die Weltgeschichte kennt, ist da, aber Kautsky sieht die Krise nicht und sagt: Bei unseren theoretischen Betrachtungen der Krisentheorie sollen wir bescheidener sein. Das ist ein reiner Blödsinn der irrsinnigen Opportunisten, die vollständig das Gefühl für die Realität verloren haben, die in ihren Kabinetten sitzen und deren Sitzfleisch in voller Blüte (Heiterkeit), deren Hirn aber vollständig verloren gegangen ist.

Einer von diesen Herren behauptet z. B. sogar, der Kapitalismus sei aus dem Kriege noch gestärkt hervorgegangen. Sie sehen also die "theoretischen Proportionen". Die einfachsten Liberalen, die Pazifisten, die Pfaffen, die bürgerlichen Ökonomen sehen fast alle mehr oder weniger die ökönomische Schwäche der kapitalistischen Welt, kein einziger von ihnen negiert sie. Und dann kommt ein Sozialdemokrat, ein angeblicher "Marxist" und sagt: der Kapitalismus wurde nach dem Kriege noch stärker. Das klingt fast wie eine Aufforderung zu einem neuen Kriege. Wenn der Kapitalismus nach einem Kriege immer stärker wird, dann probiert er es noch einmal! Dieser komische Standpunkt ist mit allem Ernste von Theoretikern der 2. Internationale jetzt vertreten worden.

Nehmen wir ferner die Staatstheorie. Die Staatstheorie wird jetzt bei allen Theoretikern der 2. Internationale ohne Ausnahme zu einer direkten Apologie der bürgerlichen Republik. Kein anderes Wort, kein Versuch, etwas zu begreifen, absolut keine Gedanken, nur eine reine Apologie der bürgerlichen Republik. Sie können mit den Leuten tausendmal reden, sie sind absolut taubstumm, sie kennen nur eins: diese Apologie der bürgerlichen Republik. Hier besteht absolut kein Unterschied zwischen den bürgerlichen Gelehrten, zwischen den Liberalen und den Sozialdemokraten. Wenn wir z. B. die theoretischen Schriften von Cunow lesen, dann sehen wir, daß einige der bürgerlichen Professoren, wie z. B. Franz Oppenheimer oder andere von dieser Richtung oder bürgerliche Gelehrte der Schule Gumplovicz, viel näher zum Marxismus stehen als Cunow. Cunow behauptet in seinem Buche, daß der Staat sozusagen eine allgemeine Wohlfahrtsinstitution sei, die als guter Vater für alle Kinder, einerlei ob aus der Arbeiterklasse, oder aus der Bourgeoisie, Sorge trägt. So ist die Geschichte. Ich sagte einmal, das ist eine Theorie, die schon der babylonische König Hammurabi vertreten hat. Auf diesem theoretischen Niveau steht der Vertreter und Hauptgelehrte der 2. Internationale.

Aber es gibt theoretische Verrätereien, die noch eklatanter und noch schamloser sind. Da ist die Auffassung Kautskys über die proletarische Revolution und über die Koalitionsregierung. So etwas zu schreiben, heißt wirklich die letzten Atome jedes theoretischen Gewissens verlieren. Z. B. Kautskys Theorie über die Revolution! Wissen Sie, was die neueste Entdeckung in dieser Frage ist? Das sind folgende Behauptungen: 1. die bürgerliche Revolution operiere mit Gewalt; 2. die proletarische Revolution dürfe notwendigerweise gerade deswegen, weil sie eine proletarische Revolution ist, mit keiner Gewalt operieren, oder, wie ein anderer der Herren sagte, die Gewalt sei immer reaktionär. Wir wissen, was Engels über die Revolution in einem italienischen Artikel "Dell autorità" geschrieben hat. Er schrieb: die Revolution ist die autoritativste Sache in der Welt; denn Revolution bedeutet ein geschichtliches Ereignis, in dem ein Teil der Bevölkerung dem anderen Teil der Bevölkerung mit Bajonetten, Kanonen und Flinten seinen Willen aufzwingt. So war die Auffassung des revolutionären Marxismus. Und dann kommt ein kläglicher Herr Kautsky und erzählt uns: Bajonette, Kanonen und andere Gewaltmittel sind rein bürgerliche Mittel! Nicht das Proletariat hat sie ausgedacht, sondern das Bürgertum. Die Barrikade ist eine rein bürgerliche Institution (Heiterkeit). Auf diese Weise kann man alles beweisen. Wenn Kautsky zu uns kommt und sagt: Vor der bürgerlichen Revolution operierte das Bürgertum mit Gedanken, und das ist eine rein bürgerliche Methode! so müßte man analog sagen, wir dürfen auch nicht mit Gedanken operieren. Vielleicht hat Kautsky jetzt eben keine Gedanken (Heiterkeit). Es wäre absolut blöde, eine solche Methode wirklich ernst zu nehmen.

Dann kommt noch die Frage der Koalition. Das ist der Gipfel aller theoretischen Entdeckungen Kautskys. Kautsky meint, er sei der Vertreter des orthodoxen Marxismus. Marx behauptete, daß die Seele seiner Lehre in der Lehre von der Diktatur des Proletariats bestehe. Es gibt eine Stelle bei Marx, wo er sagt: "Von dem Klassenkampf wußten auch andere vor mir etwas, aber meine Lehre besteht darin, daß die Entwicklung des Kapitalismus notwendigerweise zur Diktatur des Proletariats führt." So faßte also Marx selbst seine Lehre auf. Das ist das konstitutive Merkmal, das Spezifische, was in der marxistischen Lehre ist. Und dann kommt Kautsky und schreibt:

In einem berühmten Artikel zur Kritik des sozialdemokratischen Programms sagte Marx:

Zwischen der kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andere. Dem entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts anderes sein kann, als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.

So sagt Marx.

Und Kautsky? Ich zitiere hier wörtlich!

Diesen Satz können wir heute auf Grund der Erfahrungen (er drückt das sehr hübsch aus) der letzten Jahre für die Frage der Regierung dahin variieren daß wir sagen:

Zwischen der Zeit des rein bürgerlich und des rein proletarisch regierenden demokratischen Staates liegt eine Periode der Umwandlung des einen in den andern. Dem entspricht auch eine politische 'Übergangsperiode, deren Regierung in der Regel eine Form der Koalitionsregierung bilden wird. (Heiterkeit).

Das ist also wirklich nicht mehr eine Übergangsform vom Marxismus zum Revisionismus, sondern das ist schlimmer als der reinste Revisionismus. Hier liegen verschiedene Verrätereien vor, denn bei Marx war auch nach der Übergangsperiode ein Kommunismus vorhanden, hier verschwindet der Kommunismus vollkommen. Wo ist er hier? Es besteht hier kein Kommunismus, denn es ist die Übergangsphase von der rein kapitalistischen Regierung zu einer rein proletarisch-demokratischen Regierung. Wo ist der Platz für den Kommunismus? Es gibt keinen Platz für den Kommunismus. Was überhaupt diese Ersetzung der Diktatur durch die Koalition bedeutet, das können Sie selbst beurteilen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, wenn einige bürgerliche Theoretiker ganz sinnig davon sprechen, daß bei den Theoretikern der 2. Internationale von dem Marxismus gar nichts übrig geblieben ist. Es gibt z. B. in Deutschland einen Professor, einen sehr klugen, aber auch sehr zynischen und frechen Kerl, Hans Delbrück, der, nachdem er verschiedene Schriften der 2. Internationale durchgelesen hat, wörtlich in einer Nummer der "Preußischen Jahrbücher" folgendes schreibt:

Die Differenz zwischen uns sozialpolitisch denkenden Bürgerlichen und ihnen (gemeint ist Kautsky usw.) ist nur noch ein gradueller. Noch einige Schritte weiter auf dem beschrittenen Wege, meine Herren, und der kommunistische Nebel hat sich verflüchtigt.

Das ist ein sehr gutes Zitat. Ein bürgerlicher, wilhelminischer Professor also sagt zu dem Theoretiker des angeblichen Marxismus und der angeblichen "internationalen" "revolutionären" Sozialdemokratie: es gibt keinen Unterschied zwischen uns Sozialdenkenden, also zwischen den bürgerlichen wilhelminischen Professoren und Kautsky und Genossen. Das ist ein Zitat, das die ganze Situation recht gut beleuchtet.

Also in der Theorie gibt es auch eine eigenartige Taktik und Strategie und diese theoretische Taktik und Strategie ist eine vollständige Parallele zu der wirklichen politischen Taktik und Strategie. Auf dem Schachbrett verschiedener Klassen, Parteien, Gruppierungen und Untergruppierungen haben wir verschiedene Verschiebungen erlitten und die größte Verschiebung war die Spaltung des Proletariats infolge des politischen Verrats der sozialdemokratischen Parteien und der Führer der Gewerkschaften und der Blockbildung dieser Schichten der Arbeiterorganisationen mit der Bourgeoisie. Und parallel zu diesem Prozeß haben wir einen anderen Prozeß der theoretischen Blockbildung der gewesenen angeblichen Marxisten mit der bürgerlichen Wissenschaft. Eine solche Situation haben wir jetzt in der Theorie der 2. Internationale. Ebenso, wie politisch jetzt nur die Kommunistische Internationale den wirklich revolutionären praktischen Standpunkt vertritt, ebenso vertritt unter den jetzigen Umständen auch nur die Kommunistische Internationale theoretisch wirklich den Marxismus.

Ich gehe dann zu einer anderen Frage über. Nach der Auseinandersetzung mit den Theoretikern der 2. Internationale will ich einige Worte über die neue Analyse der heutigen Epoche sagen, und zwar werde ich hier ausschließlich über solche Punkte sprechen, die im großen und ganzen noch nicht genügend durchgearbeitet sind. Ich stelle zuerst die Frage: Unter welchem Gesichtswinkel ist es am zweckmäßigsten, die ganze kapitalistische Entwicklung zu betrachten? Es muß doch bei der ganzen Betrachtung der kapitalistischen Entwicklung irgendwelche theoretische Achse geben. Welche Achse wählen wir hier am besten? Wir können hier natürlich verschiedene Achsen wählen. Wir können entweder die Lage der Arbeiterklasse als das Entscheidende herauskristallisieren oder die Konzentration des Kapitals, oder wir können die Architektonik des Programms vom Standpunkt der Bildung der Elemente der neuen Gesellschaft aufstellen, oder auch irgendwelche anderen Züge der kapitalistischen Entwicklung als das Entscheidende betrachten. Aber ich meine, die ganze kapitalistische Entwicklung muß vom Standpunkt der erweiterten Reproduktion der kapitalistischen Widersprüche betrachtet werden; von diesem Gesichtspunkt aus müssen wir alle Prozesse der kapitalistischen Entwicklung betrachten. Jetzt sind wir schon in einem solchen Stadium der Entwicklung, wo der Kapitalismus zerfällt. Zum Teil betrachten wir die kapitalistische Entwicklung schon retrospektiv, aber das hindert uns nicht, daß wir alle Ereignisse der kapitalistischen Epoche, sogar die Prognose, die wir auch berühren müssen, vom Standpunkt dieser stetigen und permanenten Reproduktion der kapitalistischen Widersprüche betrachten. Der Krieg ist die Äußerung der Widersprüche, die überhaupt in der kapitalistischen Konkurrenz inbegriffen sind. Wir brauchen den Krieg nur als eine erweiterte Reproduktion der anarchistischen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft festzustellen. Wenn schon diese Reproduktion der Widersprüche zur Unmöglichkeit der Existenz der kapitalistischen Gesellschaft geführt hat, so können wir alles andere - die Gruppen der Arbeiterklasse, die soziale Gliederung der Gesellschaft, die Lage der Arbeiterklasse, die soziale Struktur - unter diesem Gesichtspunkt beleuchten.

Die zweite Frage ist meines Erachtens die Frage des Imperialismus. Ich gehe auf die ganze Analyse den imperialistischen Epoche nicht näher ein, denn in unseren Kreisen ist die theoretische Beantwortung dieser Frage schon etwas ganz Selbstverständliches. Ich will nur den einen Punkt betonen, den ich für sehr wichtig halte, nämlich den: womit soll man die spezifischen Formen der Gewaltpolitik des Finanzkapitals erklären, worin ist die tiefste Tiefe dieser Gewalt begründet? Man hat es mit vielem erklärt. Man erklärte es mit dem monopolistischen Charakter des Kapitalismus und mit anderen Dingen. Das trifft zu, meines Erachtens aber ist ein sehr wichtiger Faktor für die Beantwortung dieser Frage folgender: Wenn die ganze frühere politische Ökonomie, auch die marxistische Ökonomie, von der Konkurrenz redete und die Erscheinungen der Konkurrenz betrachtete, so betrachtete sie in Wirklichkeit nur eine Form der Konkurrenz, nämlich die Form, die für die Epoche des sogenannten industriellen Kapitalismus spezifisch war.

Das war die Epoche des Kampfes verschiedener Industrieller, deren Methode des Konkurrenzkampfes die Methode der billigeren Preise war. Sie finden bei Marx fast ausschließlich diese Sorte der Konkurrenz. Aber in der imperialistisch-kapitalistischen Epoche sind nicht nur diese Arten der Konkurrenz auf die Avantszene getreten, sondern Arten des Konkurrenzkampfes, bei denen die Methode der billigeren Preise überhaupt nichts bedeuten kann. Wenn z. B. ein Kohlesyndikat mit einem Eisensyndikat um den Mehrwert kämpft so ist klar, daß diese Syndikate durch billigere Preise nicht konkurrieren können, das wäre eine Absurdität. Solche Gebilde können den Kampf ausschließlich mit irgendwelchen Gewaltmitteln, mit Boykott, Aussperrung usw. führen. Die Hauptgruppierungen der Bourgeoisie sind jetzt trustartige Gruppierungen, die im Staatsrahmen eingeschlossen sind. Und diese Gebilde sind in Wirklichkeit nichts anderes, als kombinierte Unternehmungen.

Es ist natürlich sehr begreiflich, daß eine solche Form des Unternehmens, eine solche Konstruktion der konkurrierenden Gruppen das Schwergewicht ihrer Kampfmethoden in den Gewaltmitteln hat. Die internationale Teilung der Arbeit, das Bestehen der agrarischen und industriellen Länder, die verschiedenartigen Kombinierungen der Produktionszweige innerhalb dieser imperialistischen Staaten ergeben den Umstand, daß diese Staaten keine andere Politik führen können. Die Politik der billigeren Preise ist fast unmöglich. Es entstehen also neue Formen des Konkurrenzkampfes, was zu militärischen Eingriffen seitens dieser Staaten führt.

Ich möchte jetzt den dritten Punkt, der im Programm besonders erwähnt werden muß, berühren, das ist nämlich die Betonung der Rolle des Staates überhaupt und die Rolle des Staates im jetzigen Moment im besonderen. Wir sollen ganz offen sagen, daß in der marxistischen Theorie und sogar bei den orthodoxen Marxisten überhaupt die Frage des Staates nicht besonders gut untersucht wurde. Wir wissen alle: die Epigonen haben diese Frage berührt und später verräterisch gelöst. Aber fragen wir uns selbst, wer von den revolutionären Marxisten diese Frage gut untersucht hat? Was bedeutet das? Das bedeutet folgendes: Die marxistische Theorie entstand in einer Periode, die stark mit Manchestertum gefärbt war. Die freie Konkurrenz herrschte vollständig. Dieser Umstand hat seine Wurzeln in den besonderen spezifischen Merkmalen dieser Epoche. Aber wir können uns damit nicht begnügen. Die Rolle des Staates ist jetzt sehr wichtig, und zwar von allen Seiten betrachtet, vom Standpunkt der Bourgeoisie sowohl, als auch vom Standpunkt des Proletariats. Einerseits handelt es sich darum, daß wir eine Organisation zertrümmern sollen, und zweitens ist die Frage deshalb wichtig, weil wir etwas Neues errichten sollen und unsere Staatsgewalt als den Hebel der Veränderung der ökonomischen Verhältnisse gebrauchen. Alle diese Ursachen zwingen uns im großen und ganzen dazu die Frage der Rolle des Staates im Programm viel schärfer zu betonen, als das früher geschah.

Dann meine ich, wir sollen im Programm noch etwas sagen über das Bildungsmonopol der herrschenden Klasse. Früher geschah das bei der Feststellung der programmatischen Fragen fast gar nicht. Aber jetzt, wo das Proletariat nach der Gewalt und nach der Reorganisierung der Gesellschaft strebt, spielen solche Fragen, wie die Frage der Qualifizierung unserer Funktionäre, unserer Administratoren, des Wissensvermögens unserer Führerschaft vor und nach der Eroberung der Macht eine gewaltige Rolle. Alle diese Fragen sind ungemein wichtig, während sie das früher nicht in dem Maße waren, denn sie standen nicht immer als praktische Fragen vor uns. Jetzt aber sind sie zu absolut praktischen Fragen geworden und deshalb sollen wir auch dieser Frage einen größeren Platz in unseren programmatischen Feststellungen geben, als das früher geschah.

Dann meine ich, wir sollen in unserem Programm die Frage der spezifischen Merkmale der Ausreifung des Sozialismus in der kapitalistischen Gesellschaft berühren. Es ist eine klassische Stelle in Marx’ Lehre, daß die neue Gesellschaft bereits in der Hülle der alten vorhanden ist. Aber mit dieser Theorie treibt man in den Reihen der Internationale einen so großen Unfug, daß wir in dieser Frage viel konkreter sein sollen, als wir es früher waren. Ich kann hier diese Frage nicht im ganzen berühren, aber ich möchte sagen: Wir sind uns alle dessen bewußt, daß die proletarische Revolution viele Anforderungen an uns stellt, daß die proletarische Revolution in einer gewissen Zeit mit dem Fallen und Sinken der Produktivkräfte verbunden ist. Das ist ein immanentes Gesetz der proletarischen Revolution. Unsere Gegner aber wollen uns beweisen, daß diese Ausgaben deswegen so groß sind, weil überhaupt der Kapitalismus für den Sozialismus noch nicht reif ist. Das ist ihre theoretische Hauptthese und dabei verwechselt man andere Arten der Ausreifung des Kapitalismus innerhalb der Feudalherrschaft. Wir sollen aber den prinzipiellen Unterschied zwischen beiden Erscheinungen hervorheben. Jedenfalls müssen wir die Bedingungen der sozialistischen Gesellschaft im Programm feststellen.

Der Unterschied zwischen den zwei Typen der Ausreifung neuer Formationen besteht nämlich darin, daß der Kapitalismus innerhalb der Feudalherrschaft vollkommen ausreifte. Es wuchsen nicht nur die Arbeiter, sondern die kommandierenden Schichten, der ganze Apparat der Gesellschaft, vom Arbeiter bis zum kommandierenden Bourgeois, - alles wurde reif innerhalb des Schoßes der feudalen Gesellschaft. So kann aber der Sozialismus niemals ausreifen, auch unter den günstigsten Verhältnissen nicht, wenn wir sogar die mathematische Grenze der Reife des Kapitalismus schildern. Es ist unmöglich, daß schon im Schoße der kapitalistischen Gesellschaft die Arbeiterklasse die Produktion beherrscht. Das ist ein Unsinn, das ist eine contradictio in adjecto. Und deswegen ist der Typus der speziellen Züge der Ausreifung des Sozialismus in der bürgerlichen Gesellschaft ein ganz anderer, als das spezifische Merkmal der Ausreifung des Kapitalismus innerhalb der feudalen Gesellschaft. Das Kapital hatte seine administrativen, seine regierenden Schichten schon während der Feudalherrschaft. Und das Proletariat, das unterdrückt ist, nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch und kulturell, das Proletariat, das keine eigenen Ingenieure, keine eigenen Technologen usw. usw. hat, es kann das alles erst erlernen, wenn es die Möglichkeit dazu hat, d. h. wenn es schon die Diktatur des Proletariats verwirklicht hat. Nur dann zerbricht es die Türen der Hochschulen und dringt ein. Kulturell ist das Proletariat unentwickelt, wir müssen sagen, daß es sehr unwissend und sehr rückständig ist im Vergleich zur Bourgeoisie. Das bedeutet, daß das Proletariat im Rahmen des Kapitalismus nicht reifen kann zum Organisator der Gesellschaft. Es reift aus als eine Organisationskraft, als Führer der ganzen Gesellschaft, als wirklicher Schöpfer dieser Gesellschaft in positivem Sinn erst nach seiner Diktatur. Anders kann es nicht sein. Diesen prinzipiellen Unterschied zwischen der Ausreifung des Kapitalismus und der des Sozialismus, müssen wir unterstreichen. Die Gegner berufen sich auf die blödsinnige Idee, daß wir in der bürgerlichen Gesellschaft ebenso ausreifen können, wie die Kapitalisten in der feudalen. Leider ist es nicht so, und man muß verstehen, welche speziellen Differenzen hier existieren.

Dann sollte ich noch einen Punkt berühren, der nicht genug analysiert wurde, auch in unserer Literatur nicht; das ist das Problem des Hineinwachsens in den Sozialismus. Dieses Problem des Hineinwachsens in den Sozialismus besprach man sehr viel in der revisionistischen Fragestellung. Die revisionistische Auffassung bestand darin, daß der Kapitalismus in den Sozialismus hineinwächst. Man kann sagen, daß wir ausschließlich mit dem Dekret, mit reinen Gewaltmaßregeln unsere Aufgabe nicht erfüllen können, sondern daß das ein großer langandauernder organischer Prozeß, bedingt gesprochen, ein Prozeß des wirklichen Hineinwachsens in den Sozialismus ist. Aber der Unterschied zwischen uns und den Revisionisten besteht in dem Zeitpunkt, wo dieses Hineinwachsen anfängt. Die Revisionisten, die keine Revolution wollen, behaupten, daß schon im Schoße des Kapitalismus dieser Prozeß des Hineinwachsens vor sich geht. Wir behaupten, er fängt nach der Diktatur des Proletariats an. Das Proletariat soll den alten bürgerlichen Staat zertrümmern, die Gewalt an sich reißen und mit diesem Hebel die ökonomischen Verhältnisse ändern. Da haben wir einen langen Prozeß der Entwicklung, wo die sozialistischen Formen der Produktion und der Verteilung immer mehr Boden gewinnen und so allmählich alle Überbleibsel der kapitalistischen Wirtschaft verdrängen werden, bis die vollständige Verwandlung der kapitalistischen in die sozialistische Gesellschaft stattgefunden hat.

Dann noch ein Punkt, der auch in Zusammenhang mit dem obengenannten steht: die Frage über die "nationalen Typen" des Sozialismus, als Produktionsform natürlich. Vor der Revolution stellten wir uns ohne Ausnahme die Sache so vor, daß wir über Planwirtschaft, Kollektivwirtschaft sprachen, ohne konkret darüber zu denken. Jetzt aber, besonders nach den Erfahrungen der russischen Revolution, sehen wir, daß wir eine große Periode vor uns haben werden mit verschiedenen nationalen Typen der sozialistischen Produktionsform. Nehmen wir den Kapitalismus, vergleichen wir den französischen mit dem amerikanischen Kapitalismus. Der französische Kapitalismus hat seine speziellen Merkmale, der amerikanische die seinigen. Nehmen wir den Charakter des Wucherkapitalismus der Franzosen und des Finanzkapitalismus vom reinsten Wasser in Amerika, oder die Geschichte der Syndikate und Trusts in Deutschland und England. Das sind verschiedene Wege, verschiedene Züge. Mit der Zeit wird natürlich alles mit dem Wachstum der Weltwirtschaft nivelliert. Aber der Sozialismus kann ausschließlich auf dem wachsen, was schon da ist, und deswegen darf man behaupten, daß verschiedene sozialistische Formen in einem gewissen Sinne die Verlängerung der früheren kapitalistischen Formen in anderer Form sein werden, d. h., daß die speziellen Merkmale je nach dem Lande des Kapitalismus ihren Ausdruck in den speziellen Formen der sozialistischen Produktionswirtschaft finden werden. Später wird auch das nivelliert werden mit dem Wachsen der Weltherrschaft des Proletariats, der Weltproduktion im sozialistischen Sinne. Das Anfangsstadium der Entwicklung, sogar nachdem das Proletariat in allen Ländern die politische Macht erobert hat, wird verschiedene sozialistische Produktionsformen haben. Wir können ganz offen sagen, der russische Sozialismus wird im Vergleich zu anderen asiatisch aussehen. Die Proportion zwischen dem, was wir nationalisieren können und was nicht, das Verhältnis zwischen Industrie und Bauern usw usw., - alle diese rückständigen Züge unserer ökonomischen Entwicklung werden ihren Ausdruck finden in den rückständigen Formen unseres Sozialismus. Wenn wir alles das in Betracht ziehen, wenn wir damit schon vorher rechnen, können wir über andere Dinge sprechen, z. B. über die Frage der neuen ökonomischen Politik.

Das ist der achte Punkt, den ich mir vermerkt habe. Ich will hier kurz ein paar Worte sagen.

Man kann diese neue ökonomische Politik von zwei ganz besonderen Standpunkten aus beleuchten, vom taktischen Standpunkt oder vom Standpunkt der revolutionären Taktik und Strategie und dann vom Standpunkt der ökonomischen Rationalität. Das sind zwei Standpunkte, die nicht immer identisch sein können. Vom Standpunkte der Strategie und der Taktik haben schon verschiedene Genossen gesprochen, u. a. Gen. Lenin und Trotzki. Aber ich möchte hier nicht von diesem Standpunkte, sondern vom Standpunkt der ökonomischen Rationalität diese Frage beleuchten.

Ich behaupte: jedes Proletariat jedes einzelnen Landes, das am Ruder der politischen Gewalt steht, hat als wichtigstes ökonomisch-organisatorisches Problem vor sich das Problem des Verhältnisses zwischen den Produktionsformen, die dieses Proletariat rationalisieren, organisieren, planmäßig bewirtschaften kann, und den Produktionsformen, die es nicht imstande ist, im Anfangsstadium seiner Entwicklung zu rationalisieren und planmäßig zu bewirtschaften. Das ist das wichtigste ökonomische Problem, das das Proletariat vor sich haben würde. Falls das Proletariat dieses Verhältnis nicht richtig bestimmt in dem Sinne, daß es zu viel an sich reißt, dann bekommt das Proletariat notwendigerweise folgende Situation: Die Produktivkräfte werden nicht entwickelt, sondern gehemmt; das Proletariat ist nicht imstande, alles zu organisieren; das Proletariat kann mit seinen Plänen nicht gewaltsam den Kleinproduzenten, den Kleinbauer, der individuell wirtschaftet, ersetzen. Und an Stelle der Funktion dieser Schicht, die der Gesellschaft wirklich etwas Reelles liefert, bekommt das Proletariat eine Null. Die Zirkulation bekommt sozusagen eine Verstopfung. Das bedeutet das weitere Sinken der Produktivkräfte und ein weiteres Sinken des ökonomischen Lebens überhaupt.

Unter solchen Umständen bekommt das Proletariat dann noch etwas anderes. Wenn das Proletariat bestrebt ist, zuviel in seine Hände zu kommen, dann braucht es einen riesigen Verwaltungsapparat. Es braucht zu viel Beamte, zu viel Funktionäre, die alle diese Kleinproduzenten, Kleinbauern usw, in ihren ökonomischen Funktionen ersetzen sollen. Und dieser Versuch des Ersetzens aller dieser kleinen Funktionäre durch die staatlichen Beamten - oder wie Sie sie nennen wollen, in Wirklichkeit sind es Staatsbeamte - produziert einen so gewaltigen bürokratischen Apparat, daß dessen Kosten viel größer sind, als die Unkosten, die wegen der anarchischen Zustände innerhalb der kleinen Produktionssphäre entstehen, und dann bekommen wir das Bild, daß die ganze Verwaltungsform, der ganze ökonomische Apparat des proletarischen Staates nicht die Form der Entwicklung der Produktivkräfte bedeutet, sondern die Fessel der Entwicklung der Produktivkräfte darstellt. Er bedeutet gerade das Gegenteil dessen, was er sein soll, und deswegen muß er mit eiserner Notwendigkeit gesprengt werden. Ob dies einer gewissen Konterrevolution entspringt oder dem Kleinbürgertum, oder ob dieser Apparat durch die Partei selbst verkürzt und reorganisiert wird, wie es bei uns der Fall war, ist gleichgültig. Falls das Proletariat das nicht selbst macht, wird er von anderen Kräften gesprengt. Das sollen alle Genossen ganz klar sehen.

Deswegen behaupte ich: die neue ökonomische Politik ist zwar einerseits eine spezifisch russische Erscheinung, aber andererseits ist sie auch eine allgemeine Erscheinung. (Sehr richtig!) Sie ist nicht ausschließlich ein strategischer Rückzug, sondern sie ist eine Lösung eines großen organisatorisch-gesellschaftlichen Problems, nämlich des Verhältnisses zwischen den verschiedenen Produktionszweigen, die wir rationalisieren sollen; und den Produktionszweigen, die wir zu rationalisieren nicht imstande sind. Genossen, offen gesprochen: wir haben versucht, bei uns alles zu organisieren, sogar die Bauern und die Millionen von Kleinproduzenten. Deswegen haben wir einen so riesengroßen bürokratischen Apparat gehabt. Deswegen haben wir so große Verwaltungsunkosten gehabt. Deswegen haben wir auch die politische Krise bekommen. Deswegen mußten wir auch, um uns zu retten, wie Gen. Lenin ganz offen ausgesprochen hat, um die Sache des ganzen Proletariats zu retten, diese neue ökonomische Politik einführen. Das ist keineswegs, wie einige Genossen meinen, etwas Ähnliches wie eine geheime Krankheit, die man verbergen muß. Das ist nicht bloß eine Konzession gegenüber dem Gegner, der mit aller Kraft gegen uns losgeht, das ist auch die richtige Lösung eines organisatorisch-gesellschaftlichen Problems. Und offen gesagt: Wenn wir bei dem alten ökonomischen Kurse solche Zustände hatten, daß unsere Rote Miliz in Moskau alte Weiber, die Brot usw. verkauften, auseinanderjagte, so war das vom Standpunkte der ökonomischen Rationalität ein Irrenhaus. Und wenn man das richtig erkannt hat, dann soll man dieses Irrenhaus in etwas Besseres verwandeln. Einige Genossen meinen: das war eine Sünde vom Standpunkte des orthodoxen Marxismus. Das war nicht unsere Sünde, sondern das war die durch unsere Partei erfolgte und notwendige Korrektur dessen, was wir in der ersten proletarischen Revolution wegen unserer Unerfahrenheit und infolge unserer Unwissen herbeigeführt haben. Das ist unsere Auffassung. Und ich sage: die Probleme der neuen ökonomischen Politik sind auch internationale. Das Spezifische haben wir natürlich in dem konkreten Koeffizienten des Verhältnisses zwischen dem, was wir rationalisieren und dem, was wir nicht rationalisieren können. Darin besteht das spezifisch Russische.

Wir haben sehr viele Bauern, Kleinbürger usw., aber wenn wir die fortgeschrittensten industriellen Länder nehmen, wie Deutschland oder sogar Amerika, - meinen Sie, daß diese Probleme da nicht sofort auftauchen werden? Aber sofort! Können wir z. B. amerikanische Farmer gleich von Anfang an organisieren? Keineswegs! Für solche Schichten muß die freie wirtschaftliche Bewegung beibehalten werden. Ebenso ist es z. B. in Deutschland. Glauben Sie, daß das siegreiche Proletariat sofort alle bäuerlichen Wirtschaften, besonders die in Bayern, kommunistisch organisieren kann? Keineswegs! Wissen Sie, was der Bauer, wenn Sie von ihm die Lieferung des Brotes verlangen, fordern wird? Daß er sich frei bewegen, daß er verkaufen darf. Deshalb werden Sie auch in Deutschland dieses Problem immer vor Ihren Augen haben müssen. Sie werden immer gezwungen sein, sehr sorgfältig auszurechnen, in welchem Verhältnis Sie die gebundene sozialistische Wirtschaft haben wollen und in welchem Maßstabe Sie die freie Wirtschaft beibehalten müssen.

So steht das Problem der neuen ökonomischen Politik. Dieses Problem ist aber mit einem ganz anderen Problem verbunden. In der Revolution nämlich steht das Prinzip der ökonomischen Rationalität im Widerspruch zu einem anderen Prinzip, das auch für das Proletariat notwendig ist, nämlich zu dem Prinzip der rein politischen Kampfzweckmäßigkeit. Ich habe schon oft Beispiele dafür gebracht. Wenn Sie z. B. Barrikaden bauen und für die Barrikaden die Telephonstangen absägen, so heißt das keineswegs, die produktiven Kräfte erhöhen, das versteht sich von selbst. (Heiterkeit.) Ebenso in der Revolution. Wenn z. B. das kapitalistische Bürgertum mit allen Kräften gegen Sie losgeht und innerhalb der kleinbürgerlichen Kreise seine Agenten hat, die direkt im Auftrage der Großbourgeoisie handeln, was ist dann für das Proletariat notwendig? Das Proletariat muß diese kleinbürgerlichen Agenturen der Großbourgeoisie um jeden Preis schmettern. Mit dem Anschwellen des Kampfes ist es gezwungen, auch die ökonomische Basis dieses Kleinbürgertums wegzunehmen. Dann kommt das Unrationelle, was rein ökonomisch betrachtet unzweckmäßig ist, was aber vom Standpunkte des politischen Kampfes und des siegreich sein sollenden Bürgerkrieges zweckmäßig sein kann. Diese zwei Standpunkte, die ökonomische Rationalität einerseits und die Zweckmäßigkeit des politischen Kampfes andererseits, sind nicht dasselbe und sie stehen oft im Widerspruch. Das Primäre muß aber die Zweckmäßigkeit des politischen Kampfes sein, und zwar deshalb, weil man nicht den Sozialismus aufbauen kann, ohne vorher den proletarischen Staat zu haben. Wir müssen aber unser Augenmerk immer darauf richten, daß wir nichts Überflüssiges tun, nichts tun, was vom Standpunkte des politischen Kampfes unzweckmäßig und vom ökonomischen Standpunkt aus unrationell ist. Ich kann natürlich diese Gedankengänge nicht weiter entwickeln, sie verstehen sich aber von selbst, wir können dieses Problem auch vom Standpunkte verschiedener Klassen, Schichten und Gruppierungen beleuchten. Es kommt da unser Verhältnis zum Mittelstande in Betracht, zur sogenannten Intelligenz, d. h. zum neuen Mittelstande, dann unser Verhältnis zum Bauerntum und den verschiedenen Schichten des Bauerntums. Alles das müssen wir hier programmatisch feststellen. Dabei wollen wir die Erfahrungen der russischen Revolution natürlich verwerten, denn es wäre geradezu dumm, wenn wir die Erfahrungen der größten Revolution, die wir bisher gehabt haben, theoretisch nicht begreifen und verwerten würden.

Ich komme nun zur vierten Unterabteilung, die ich als die neuen allgemein taktischen Probleme bezeichne. Bisher habe ich verschiedene Probleme rein theoretischer Natur betrachtet, nun will ich also einige Probleme betrachten, die allgemein taktischen Charakter haben und die deshalb auch in gewissem Sinne als programmatisch bezeichnet werden können.

Zunächst ganz flüchtig eine Frage, nämlich die der Kolonien. Dieser Frage müssen wir in unserem Programm viel größere Dimensionen schenken, als es bisher der Fall war. (Sehr richtig.) Wir versuchen jetzt, ein internationales Programm zu schreiben. Der aristokratische Beigeschmack, den die Bücher von Kautsky und Konsorten haben, muß mit Blut und Eisen heraus: Wir müssen begreifen, daß im Prozeß der Weltrevolution unsere Reserven, die von größter Wichtigkeit sind, sich in den kolonialen Ländern befinden. Deshalb muß diese Frage viel ausführlicher behandelt werden, als es früher der Fall war.

Das zweite taktische Problem ist das der Landesverteidigung. Dieses Problem der Landesverteidigung, das für uns Kommunisten zu Anfang des Krieges absolut klar war und das in der fast glatten Ablehnung der Landesverteidigung bestand, stellt sich jetzt etwas anders, etwas modifiziert und kompliziert dar. Die größere Kompliziertheit in Fragestellung hat ihren Grund darin, daß wir jetzt in einem Lande proletarische Diktatur haben, und das Bestehen eines proletarischen Staates verändert sofort die ganze Situation. Überhaupt müssen wir Marxisten und Dialektiker mit solchen Veränderungen im großen Maßstabe rechnen. Ich will nur ein Beispiel anführen.

Als wir eine oppositionell-revolutionäre Partei waren, konnten wir natürlich keinen einzigen Moment daran denken, von irgend einem bürgerlichen Staate für unsere revolutionäre Tätigkeit Geld zu nehmen. Das wäre zu dumm gewesen. Wir hätten in dem Moment, wo wir von irgend einer feindlichen Macht Geld bekamen, unsere Sache vollständig diskreditiert. Deshalb behandelte die internationale Bourgeoisie dieses Problem von ihrem Standpunkte aus ganz richtig, wenn Sie zu beweisen versuchte, daß wir die Agenten des deutschen Imperialismus wären oder daß Karl Liebknecht der Agent der französischen Bourgeoisie wäre. Wir haben sehr richtig erkannt, daß wir niemals so etwas tun dürfen und wir sind immer gegen solche Versuche gewesen. Nachdem aber jetzt ein proletarischer Staat existiert und mit irgend einem bürgerlichen Staate eine Anleihe abschließen kann, so. wäre es auch dumm, wenn er das prinzipiell ablehnen wollte. Das ist also ein kleines Beispiel, um eine solche prinzipielle Wendung zu zeigen, die dann eintritt, wenn wir bereits einen proletarischen Staat haben.

Ebenso ist es bei der Frage der Landesverteidigung. Es ist ganz klar, was proletarisches Land heißt, d. h. der proletarische Staat (denn in allen diesen Fragen ist das Wort "Land" das Synonym des Wortes "Staat" mit der oder ohne die Klassencharakteristik). Wenn die Bourgeoisie über Landesverteidigung spricht, so meint sie damit die Verteidigung des bürgerlichen Staatsapparates; und wenn wir über die Landesverteidigung sprechen, so meinen wir die Verteidigung des proletarischen Staates. Wir wollen also programmatisch klar feststellen: der proletarische Staat darf und muß nicht nur von dem Proletariat dieses Landes, sondern von den Proletariern aller Länder verteidigt werden. Das ist das Neue gegenüber der Fragestellung zu Beginn des Krieges. Die zweite Frage ist die: Dürfen die proletarischen Staaten, von den Zweckmäßigkeiten der Strategie des Gesamtproletariats ausgehend, militärische Blocks mit den bürgerlichen Staaten bilden? Es gibt hier keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einer Anleihe und einem militärischen Bündnis. Und ich behaupte, daß wir schon so gewachsen sind, daß wir ein militärisches Bündnis mit einer anderen Bourgeoisie schließen können, um mittels dieses bürgerlichen Staates ein anderes Bürgertum niederzuschmettern. Was später sein wird unter gewissen Kräfteverhältnissen, das können Sie sich leicht vorstellen. Das ist eine Frage der rein strategisch-taktischen Zweckmäßigkeit. So soll man das im Programm aufstellen.

Bei dieser Form der Landesverteidigung, des militärischen Bündnisses mit bürgerlichen Staaten, ist es die Pflicht der Genossen eines solchen Landes, diesem Block zum Siege zu verhelfen. Wenn in einer anderen Phase der Entwicklung die Bourgeoisie eines solchen Landes selbst besiegt ist, so tauchen andere Probleme auf (Heiterkeit), die ich hier nicht zu skizzieren verpflichtet bin, die Sie aber leicht begreifen werden.

Dann sollen wir noch einen taktischen Punkt erwähnen, das ist das Recht auf die Rote Intervention. Das ist m. E. der Probestein für alle kommunistischen Parteien. Das Geschrei über den Roten Militarismus ist stark verbreitet. Wir sollen programmatisch feststellen, daß der proletarische Staat ein Recht auf die Rote Intervention hat. (Zuruf Radek: Du bist Chef eines Regiments und deswegen sprichst Du so! Heiterkeit.) Im Kommunistischen Manifest stand, daß das Proletariat die ganze Welt erobern soll. Nun, das kann man nicht mit einem Finger (Heiterkeit), das muß man mit Bajonetten und Flinten tun. Und deswegen ist die Verbreitung des Systems, auf dem jede Rote Armee basiert, eine Verbreitung des Sozialismus, der proletarischen Macht, der Revolution. Damit ist begründet das Recht der Roten Intervention unter besonderen Umständen, die rein technisch die Realisierung ermöglichen.

Damit habe ich die verschiedenen Probleme erledigt und gehe jetzt - ich kann da ziemlich kurz sein - zu der allgemeinen Auffassung des Programms, insbesondere der Architektonik des Programms über. Ich meine, daß die Programme der nationalen Parteien mindestens aus zwei Teilen bestehen sollen: 1. einem allgemeinen Teil, der für alle Parteien gültig ist. Der allgemeine gemeinsame Teil muß im Parteibuch eines jeden Mitgliedes in einem jeden Lande enthalten sein. 2. soll das Programm aus einem nationalen Teil bestehen, der die spezifischen Forderungen der Arbeiterbewegung der betreffenden Länder beleuchtet. Und dann 3. vielleicht - aber das ist nicht ein eigentlich programmatischer Bestandteil - ein Aktionsprogramm, das die rein taktischen Fragen beleuchtet, das beliebig rasch verändert werden kann, vielleicht alle zwei Wochen (Heiterkeit). Einige Genossen behaupten, daß die taktischen Fragen, wie die Erfassung der Sachwerte in Deutschland, die Taktik der Einheitsfront oder die Frage der Arbeiterregierung auch programmatisch festgestellt werden sollen. Gen. Varga sagt, es sei Feigheit des Gedankens, wenn man dagegen protestiert. (Radek: Sehr richtig!) Aber ich behaupte, der Wunsch, diese Fragen festzustellen, ist nichts anderes, als der Ausfluß der opportunistischen Einstellung der betreffenden Genossen. (Heiterkeit.) Solche Fragen und solche Losungen, wie z. B. die Einheitsfront oder die Arbeiterregierung oder die Erfassung der Sachwerte, sind Losungen, die auf sehr fluktuierender Basis gegründet sind. Diese Basis besteht in einer gewissen Depression innerhalb der Arbeiterbewegung. Und diese Defensive, in der sich das Proletariat befindet, wollen diese Genossen programmatisch festlegen, also die Offensive unmöglich machen. Dagegen werde ich mit allen Mitteln kämpfen. Wir werden niemals erlauben, solche programmatischen Feststellungen zu machen. (Radek: Wir, wer ist wir?) Wir, das sind die besten Elemente der Kommunistischen Internationale. (Heiterkeit, Beifall.)

Ich meine, Genossen, daß in diesem theoretischen Teile folgende Unterabteilungen vorhanden sein müssen: Zunächst eine allgemeine Analyse des Kapitalismus; dieser Teil wird besonders notwendig sein für die Kolonialvölker. Dann sollen wir darin die Analyse des Imperialismus und der Zerrüttung des Kapitalismus haben und weiter die Analyse der Epoche der sozialistischen Revolution.

Als zweiter Teil des Programms sollen wir eine Skizze der kommunistischen Gesellschaft haben. Ich meine, daß die Schilderung der kommunistischen Gesellschaft im Programm notwendig ist, daß es notwendig ist zu sagen, was der Kommunismus eigentlich bedeutet und was der Unterschied zwischen den verschiedenen Übergangsphasen ist.

Der dritte Teil soll den Sturz der Bourgeoisie und den Kampf dli Proletariats um die Macht enthalten.

Der vierte Teil soll allgemein strategischen Fragen gewidmet sein, aber nicht Fragen, wie z. B. das Verhältnis zu der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften.

Denn diese Fragen sind nicht fluktuierender Natur und diese strategisch taktischen Fragen können im Programm festgestellt werden.

Was die nationalen Teile betrifft, so ist es nicht meine Aufgabe, diese Probleme zu berühren; da muß man eine spezielle Untersuchung je nach dem Lande und dem Programm vornehmen.

Genossen, ich möchte hier noch einige kritische Bemerkungen über Äußerungen - auch schriftliche Äußerungen - und Artikel verschiedener Genossen machen.

Es liegen aus der Diskussion über diese Frage folgende Dokument, folgende Äußerungen vor:

1. Der Bericht der ersten Diskussion der Programmkommission, den alle Parteien erhalten haben.

2. Die Antwort der italienischen Zentrale auf diesen Bericht.

3. Einige Artikel des Gen. Varga.

4. Ein Artikel des Gen. Rudas.

5. Ein Artikel des Gen. Rappoport.

6. Ein Artikel des Gen. Smeral.

7. Ein Projekt der deutschen Partei.

8. Ein Projekt der bulgarischen Partei und

9. mein Projekt.

Was die erste Diskussion in der Programmkommission betrifft, so kamen in ihr zwei Standpunkte zum Ausdruck. Die Differenzen lagen gerade auf der Linie, ob wir solche taktischen Probleme wie die der Arbeiterregierung usw. programmatisch feststellen sollen oder nicht. Ich begründete hier den einen Standpunkt.

Die italienische Zentrale gab ihre Antwort auf die Diskussion der Programmkommission in einem Brief, in dem sie meine Auffassung der Dinge vertrat, aber mit einer sehr sonderbaren Motivierung. Sie erklärte, man könne diese Sachen nicht programmatisch feststellen, denn man könne nicht von den nationalen Parteien "das Credo" erzwingen. Also nicht, weil es opportunistisch und unmöglich ist, diese Fragen in das Programm zu bringen - in diesem Falle müßten wir unser Programm alle zwei Wochen ändern -, vertrat die italienische Zentrale meinen Standpunkt, sondern weil die Internationale nicht das Credo von den nationalen Parteien erzwingen könne.

Ich sage den italienischen Genossen vielen Dank, daß sie meiner Auffassung beistimmen, aber ich kann ihnen keinen Dank, nicht mal einen kleinen, für diese sonderbare Motivierung sagen.

Nun zu den Artikeln des Gen. Varga. Gen. Varga ist ein sehr braver Kerl, und er meint deswegen, daß alle feige sind, die seinen Standpunkt in dieser Frage nicht einnehmen wollen. Ich habe schon gesagt, seine Bravheit ist eine opportunistische Bravheit und unsere Feigheit ist die Feigheit, keine Opportunisten zu sein. Darin besteht unsere Feigheit. Wie fürchten, uns in Opportunisten zu verwandeln und Varga ist nicht so feige, das zu fürchten. Darin besteht der Unterschied zwischen ihm und uns.

Varga fordert noch, daß die Typologie aller Länder in der Periode Zerrüttung des Kapitalismus gegeben wird. Er will überhaupt statt eines Programms ein Universalbuch aller Gesellschaftswissenschaften mit allen Beilagen dazu geben. Die Typologie aller Länder zu geben sie programmatisch festzustellen, ist meines Erachtens auch sehr riskant. Die Verschiebungen innerhalb der Länder können sehr rasch vor sich gehen. Wenn es z. B. in Deutschland zu einer siegreichen Revolution kommt, so werden wir sofort eine vollständige Veränderung der ganzen Weltkonstellation haben. Deswegen meine ich, ist es nicht zweckmäßig, eine konkrete Typologie der Länder zu geben, es ist nicht zweckmäßig vom Standpunkt der raschen Veränderungen aus, die möglich sind, und es ist nicht zweckmäßig deshalb, weil dann unser Programm so lang sein würde, daß kein einziger Arbeiter imstande wäre, es zu Ende zu lesen.

Was den Artikel des Gen. Smeral betrifft, so unterscheide ich zwei Richtlinien seiner Wünsche, die in dem Artikel zum Ausdruck kommen. Er fordert in seinem Artikel einerseits, daß wir die Erfahrungen der russischen Revolution vollständig ausnutzen, und stellt ganz richtig die Frage nach dem Verhältnis zwischen den verschiedenen Produktionszweigen, den Produktionsgebieten, Formen und den verschiedenen sozialen Schichten und fragt nach unserem Verhältnis zu ihnen. In dieser Fragestellung hat er vollständig recht, aber er hat nicht recht, wenn er zusammen mit Varga und Radek die programmatische Fixierung solcher Fragen, wie der Fragen der Arbeiterregierung, des Offenen Briefes usw. fordert.

Mit dem Artikel des Gen. Rudas bin ich im großen und ganzen einverstanden.

Was den Artikel des Gen. Rappoport betrifft, so habe ich beim besten Willen darin absolut keinen Gedanken finden können.

Zu dem Programm der deutschen Bruderpartei möchte ich folgende allgemeine Bemerkungen machen. Das Programm hat meines Erachtens folgende Mängel:

1. Es ist zu gelehrt geschrieben.

2. Es ist zu konkret-beschreibend abgefaßt.

Es gibt da z. B. einen langen Passus über verschiedene konkrete Dinge, über die Folgen des Versailler Friedens usw. usw., die meines Erachtens nicht zum Programm gehören. Diese beschreibende und konkret-historische Seite des deutschen Entwurfs verursacht auch seine Länge. Das ist kein Programm, sondern ein sehr großes universelles Manifest. Diesen Eindruck habe ich von dem Projekt erhalten. Viele Stellen sind stilistisch glänzend geschrieben und theoretisch sehr gut.

3. Der Entwurf ist zu europäisch abgefaßt - die deutschen Genossen erkennen das selbst an - und meines Erachtens auch ein bißchen zu deutsch, vom Standpunkt Zentraleuropas ausgehend.

4. Der letzte Fehler des deutschen Programms, der alle anderen summiert, ist, daß es zu lang ist. Es enthält nicht die allgemeine Analyse des Kapitals, die nötig ist, es enthält nicht die allgemeine Beschreibung des Kommunismus, die auch nötig ist, und trotzdem ist es sehr, sehr lang.

Was, das bulgarische Programm betrifft, so habe ich folgendes zu bemerken:

Es enthält einige Stellen die auch zu konkret-beschreibend, nicht den Anforderungen eines Programms angepaßt sind; sie können als Kommentar dienen. Dann ist die Architektonik des Programms nicht ganz glücklich, weil es eine gewisse architektonische Mischung zwischen den balkanischen Fragestellungen und den allgemeinen Fragestellungen darstellt. Ich habe zu einer Stelle materiell Bemerkungen zu machen, nämlich zu der Stelle, an der die bulgarischen Genossen die Rolle der Partei behandeln. Am Ende dieses Passus sprechen sie sogar über den bewaffneten Aufstand. Sie sagen, wir gehen durch die Massenaktionen mit Streiks zum bewaffneten Aufstand; und das ist sehr revolutionär. Aber wo überhaupt über die Rolle der Partei gesprochen wird, da enthält das Programm meines Erachtens eine zu überflüssige Betonung der parlamentarischen Parteitätigkeit.

Das Verhältnis zwischen der außerparlamentarischen und der parlamentarischen Tätigkeit ist sogar, wenn wir die Dimensionen des Papiers, worauf das geschrieben ist, berücksichtigen, nicht ganz glücklich und ich meine, es würde besser sein, wenn wir hier eine kleine Korrektur vornähmen.

Dann zum Schluß noch eine kurze Bemerkung: Wenn die Forderungen der Partei, die im bulgarischen Programm sehr ausführlich dargestellt werden, für alle Parteien, die der Internationale angehören, bestimmt sind, so ist das zu viel. Wenn das ausschließlich für die balkanischen Länder bestimmt ist, dann fehlen die Forderungen, die für die Internationale gültig sein sollen. Auch hier sollte man meines Erachtens eine kleine Korrektur anbringen.

Ich werde meine eigene "Ware" natürlich nicht anpreisen. (Heiterkeit.) Das ist selbstverständlich. Ich bitte die Genossen aber doch, diese Fragen etwas zu diskutieren und besonders nach dem Kongreß viele Bestandteile des Programms in größerem Maßstabe theoretisch zu bearbeiten.

Ich schließe mein langes Referat mit der Hoffnung, daß wir alle aus dem fünften Kongreß mit einem einträglichen, wirklich revolutionären und wirklich orthodoxen, marxistischen Programm hervorgehen werden. (Lebhafter Beifall.)