Ernst Thälmann
Einige Fehler in unserer theoretischen und
praktischen Arbeit
und der Weg zu ihrer Überwindung
Dezember 1931
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Quelle: Die Internationale, Heft 11/12, 1931. Ernst Thälmann: Reden und Aufsätze 1930‑1933 - Band 1 - September 1930‑Februar 1932. Köln, Verlag Rote Fahne, 1975. S. 295‑323[1]. |
Um die Jahreswende 1930/31, als sich in den Maßnahmen der Brüningregierung auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet eine außerordentliche Verschärfung der politischen Reaktion und des Angriffs auf die Lebenshaltung der werktätigen Massen zeigte, brandmarkte die Kommunistische Partei Deutschlands den Charakter der Brüningregierung vor den Massen des deutschen Proletariats und aller Werktätigen als eine Regierung der Durchführung der faschistischen Diktatur.
Was war der Sinn unserer damaligen Politik? Die Sozialdemokratie, die nach ihrem Herauswurf aus der Reichsregierung im Frühjahr 1930 bis zu den Reichstagswahlen vom 14. September vorigen Jahres[2] eine “radikale” Scheinopposition betrieben hatte, war nach der Reichstagswahl offen in die Brüningfront eingeschwenkt. Sie deckte, ermöglichte und führte selbst am aktivsten alle reaktionären und volksfeindlichen Maßnahmen durch, die seitens der regierenden Bourgeoisie eingeleitet wurden. Um den faschistischen Charakter, den klassenverräterischen Inhalt ihrer Tolerierungspolitik für Brüning vor den Massen zu verschleiern, erfand die Sozialdemokratie die Theorie des sogenannten “kleineren Übels”. Die Brüningregierung sollte ‑ so versicherten die SPD-Führer den Massen ‑ ein kleineres Übel gegenüber einer Hitler-Hugenberg-Regierung, ein Schutzwall gegen den Faschismus sein. Deshalb müsse man sie unterstützen.
Gegenüber diesem Arbeiterbetrug der SPD galt es, den Massen mit aller Schärfe den wirklichen Charakter der Brüningregierung und die tatsächlichen Formen, in denen sich die Faschisierung der Herrschaftsmethoden der deutschen Bourgeoisie vollzog, klarzumachen. Gegenüber dem schändlichen Versuch der SPD, die Massen vom Kampf gegen den Klassenfeind, gegen die Diktatur der Bourgeoisie, durch Hinweis auf eine erst von einer Hitlerregierung drohende faschistische Diktatur, abzuhalten, mußte Klarheit über den Klasseninhalt der Brüningdiktatur, über das wirkliche Wesen des Faschismus, über die besondere Rolle der Nationalsozialisten und über die Beziehungen zwischen Brüningherrschaft, SPD und Hitlerbewegung geschaffen werden.
Nur wenn es gelang, den Massen zum Bewußtsein zu bringen, daß zwischen der voll entfalteten, offenen faschistischen Diktatur (von welchen Parteien immer sie ausgeübt werden würde) und der Brüningregierung, die tatsächlich am Ruder war, irgendein klassenmäßiger Unterschied keineswegs bestand, konnte das Betrugsmanöver der Sozialdemokratie zerschlagen werden. Nur dann konnte es gelingen, die antifaschistischen Energien der breitesten Massen für den Kampf gegen die Diktatur der Bourgeoisie und deren Träger, die Brüning-Severing-Herrschaft, nutzbar zu machen.
Die KPD zerschlug das sozialdemokratische Lügengespinst von der Rolle der Brüningregierung als “letztem Bollwerk der Demokratie”, enthüllte vor den Massen, daß diese Brüningregierung und in vollem Einverständnis mit ihr die Braun-Severing-Regierung selber den Übergang zu faschistischen Herrschaftsformen bei der Ausübung der Diktatur der Bourgeoisie vollziehen, und brandmarkte damit zugleich die Tolerierungspolitik der SPD und des ADGB für Brüning als Hilfe für den Faschismus.
Diese politische Stellungnahme, wobei einige fehlerhafte Formulierungen bei der Analyse rasch korrigiert wurden, ermöglichte es der Partei, mit ziemlichem Erfolg die Offensive gegen das Brüningsystem und seine sozialdemokratischen Stützen zu eröffnen. Die Rolle der nationalsozialistischen Bewegung wurde in diesem Zusammenhang richtig als die einer weiteren außerparlamentarischen Stütze der bürgerlichen Diktatur gekennzeichnet, deren sich die Bourgeoisie neben der Sozialdemokratie wechselseitig bedient. Unsere Beschlüsse in dieser Frage auf der Tagung des Plenums des Zentralkomitees der KPD im Januar sind durch die weitere Entwicklung ohne Zweifel bestätigt worden.
Wenn wir heute jedoch die gesamte praktische Politik und die Kampagnen unserer Partei im Jahre 1931 einer gründlichen Überprüfung unterziehen, müssen wir zu der Feststellung kommen, daß unsere Beschlüsse nicht immer vollständig zur Durchführung gelangten. Gilt das schon von den Beschlüssen der Tagungen des Plenums unseres Zentralkomitees (Januar, Mai), so trifft es in noch stärkerem Maße auf die Beschlüsse des XI. Plenums des EKKI zu, die wir zwar in unseren Reihen popularisiert, aber doch nicht überall und nicht zu jeder Zeit in unserer revolutionären Arbeit zur Durchführung gebracht haben.
Bolschewistische Selbstkritik ist für uns das wichtigste Mittel, um der Partei und den Massen des Proletariats durch die Konkretisierung unserer Klassenlinie bei der Lösung der gewaltigen geschichtlichen Aufgaben zu helfen, die vor der deutschen Arbeiterklasse und ihrer revolutionären Führerin, der KPD, stehen. Eine solche bolschewistische Selbstkritik aber macht es zur Pflicht, eine Reihe von ideologischen Abweichungen und politischen Schwächen, ja sogar politischen Fehlern an unserer revolutionären Massenarbeit festzustellen, die im Widerspruch zu den Beschlüssen des XI. Plenums des EKKI. und der Plenartagungen unseres Zentralkomitees stehen.
Um welche wichtigsten Fehler handelt es sich im besonderen?
Erstens: Schwächen im Kampf gegen die Sozialdemokratie und bei der Anwendung der Einheitsfrontpolitik.
Zweitens: Fehler in der Anwendung der Losung Volksrevolution.
Drittens: Schwächen im Kampf gegen den Nationalsozialismus.
Viertens: vereinzelte Abweichungen auch bei Kommunisten und vor allem an der Peripherie der Partei in den Fragen der Perspektive und des individuellen Terrors.
Bei allen diesen vier Hauptfragen handelt es sich selbstverständlich nicht um politische Fehler, die etwa von der Gesamtpartei durchgeführt und Ausdruck einer bestimmten festen und den Beschlüssen der Komintern entgegengesetzten politischen Ideologie entsprungen wären. Solche Abweichungen von der Linie der Kommunistischen Internationale sind in der Kommunistischen Partei Deutschlands heute, auf Grund ihrer reichen revolutionären Erfahrungen, kaum mehr möglich. Worum es geht, das sind vielmehr Fehler, oder auch nur Schwächen und Unklarheiten bei einzelnen Teilen der Partei, Abweichungen, die vielfach unbewußt, nur auf Grund einer ungenügenden politischen Erziehung der einzelnen Genossen und Funktionäre durch die Gesamtpartei oder auf Grund eines ungenügenden Verständnisses für die gefaßten Beschlüsse internationaler und deutscher Parteitagungen entstehen.
Aber auch für solche Erscheinungen trägt die Gesamtpartei und das Zentralkomitee in erster Linie die volle Verantwortung. Würde man sie vorübergehen lassen, ohne sie zu korrigieren, oder auch nur, ohne die notwendigen Schlußfolgerungen und Konsequenzen aus ihnen zu ziehen, so hieße das, auf die unentbehrliche, unablässige zähe Arbeit an der Bolschewisierung unserer Partei verzichten. Ohne Zweifel ist es unsere Pflicht, darauf hinzuarbeiten, der Partei mit den wachsenden revolutionären Aufgaben jederzeit eine höhere politische Reife zu verschaffen und damit den Abstand zwischen dem objektiven und subjektiven Faktor der revolutionären Entwicklung zu verringern, das Zurückbleiben der Partei hinter dem revolutionären Aufschwung zu liquidieren.
Statt dessen würden wir uns bei jeder Vernachlässigung einer ernsten Selbstkritik jenem “Kopfschwindel vor den Erfolgen” hingeben, wie ihn Genosse Stalin vor anderthalb Jahren bei einzelnen Teilen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion kritisierte und bekämpfte.
Von den genannten vier Hauptfragen, in denen sich solche Schwächen in unseren Reihen zeigten, werden wir die ersten drei Fragen zweckmäßigerweise nicht voneinander trennen, sondern gemeinsam untersuchen. Denn die Mißverständnisse, Mängel und Abweichungen in unserer Arbeit und Politik, die sich bei diesen drei Fragen des Kampfes gegen die Sozialdemokratie, gegen den Nationalsozialismus und der Anwendung der Losung Volksrevolution ergaben, sind aufs engste miteinander verknüpft.
* * *
Der Hinweis auf die richtige Analyse der Partei über die Rolle der Brüningregierung auf dem Januarplenum des ZK wurde deshalb an den Anfang dieses Artikels gesetzt, weil diese Analyse ‑ wie das XI. Plenum des EKKI hervorhob ‑ an und für sich der Partei den Schlüssel für eine richtige Problemstellung, sowohl im verschärften Kampfe gegen die Sozialdemokratie, wie gegen die Hitlerbewegung, als auch in der Behandlung der Fragen der Entwicklung des Faschismus gab. In seinem Schlußwort auf dem XI. Plenum führte Genosse Manuilski zu dieser Frage aus:
Der Hauptfeind der Arbeiterklasse war, ist und bleibt stets die Bourgeoisie. Wir brauchen nicht neue Formeln zu erfinden. In den sich faschisierenden bürgerlichen Demokratien, in den faschistischen Staaten, überall, auf allen Etappen der Faschisierung der kapitalistischen Staaten ist der Hauptfeind der Arbeiterklasse‑ die Diktatur des Kapitals, unabhängig von ihrer demokratischen oder faschistischen Form. [...] Das bedeutet, daß in Deutschland der Hauptfeind heute die von der Sozialdemokratie unterstützte Brüningregierung ist, die Regierung der Durchführung der faschistischen Diktatur, die heute den ganzen Druck der bürgerlichen Diktatur auf die Arbeiterklasse verkörpert. Je nachdem, auf welchen Flügel die Bourgeoisie sich im Kampf gegen das Proletariat stützen wird, müssen wir auch feststellen, nach welcher Seite der Hauptschlag der Kommunisten geführt werden muß.
Genosse Manuilski zeigt hier in unzweideutiger Klarheit die klassenmäßige Bedeutung der Brüningdiktatur und ihrer Stützen, der SPD und der Nationalsozialisten. Er betont auch, von welchem Gesichtspunkt die Kommunistische Partei Deutschlands sich leiten lassen muß, wenn sie die Frage prüft, gegen wen der Hauptschlag ihres Kampfes gerichtet sein muß. Die Antwort auf diese Frage muß vor allem von zwei Gesichtspunkten ausgehen: erstens von einer konkreten Untersuchung der jeweiligen Politik der Bourgeoisie im Rahmen einer allgemeinen Analyse der Klassenkräfte, zweitens von der revolutionären Aufgabenstellung der Kommunistischen Partei.
Wie ist nun die Lage bezüglich des ersten Punktes in Deutschland? Das XI. Plenum bezeichnete die Sozialdemokratie als die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie und wies die Richtigkeit dieser Formulierung insbesondere auch für Deutschland nach. In der Tat hat auch die Entwicklung seit dem XI. Plenum in Deutschland, wie in allen übrigen Ländern, vollständig die Richtigkeit der Feststellungen der Komintern bestätigt.
In den letzten Wochen erfolgte die Umbildung der Brüningregierung. Sie wurde seinerzeit durch einen Vorstoß vom rechten Flügel des Zentrums (v. Papen) und von der Volkspartei (Dingeldey) in die Wege geleitet. Die Grundlage für diese politischen Vorstöße, in denen die Notwendigkeit einer Rechtsentwicklung proklamiert wurde, bildete die Forderung der Industrieführer an Brüning, seinen politischen Kurs mit größter Entschiedenheit, entsprechend den Wünschen der Schwerindustrie, zu verschärfen. Die “Regierungskrise”, die somit unmittelbar vor der letzten Reichstagstagung ausgelöst wurde, endete damit, daß zwar nicht Vertreter der Schwerindustrie, die auf Grund ihrer schwierigen Lage Hauptträger der inflationistischen Tendenzen sind, wohl aber der Vertrauensmann der Chemieindustrie, der IG‑Farben-Industrie, des größten und zur Zeit führenden kapitalistischen Konzerns in Deutschland, Warmbold, als Reichswirtschaftsminister in die Regierung eintrat.
Die weitere Rechtsorientierung der Brüningregierung in ihrer neuen Form, kam in der Ausschiffung des Innenministers Wirth, in der Zusammenlegung des Reichsinnen- und Reichswehr-Ministeriums in Groeners Hand und damit in der Verstärkung des relativen Gewichts des Reichswehrflügels (Groener-Hindenburg) im Reichskabinett zum Ausdruck.
Im Anschluß an diese Regierungsbildung fanden die bekannten Kulissenverhandlungen der Regierung bzw., Hindenburgs und des Generalleutnants Schleicher (Chef des Nachrichtenamtes im Reichswehrministerium) mit dem nationalsozialistischen Führer Adolf Hitler statt. Der Ausgang dieser Verhandlungen, die auch in einer Pressediskussion zwischen der "Germania", der "Deutschen Allgemeinen Zeitung" und dem "Völkischen Beobachter" ihre Ergänzungen fanden, war im Reichsmaßstabe vorerst eine neue Absage des Zentrums, als der führenden Regierungspartei der deutschen Bourgeoisie, an die Koalitionswünsche der Nazis. Die Tatsache, daß das Zentrum unmittelbar danach sich anschickt, in Hessen diesen Koalitionswünschen der Nazis aller Wahrscheinlichkeit nach nachzugeben, und die Besprechungen der christlichen Gewerkschaftsführer mit Vertretern der Hitlerpartei zeigen, daß es sich bei der Stellungnahme des Zentrums um eine rein taktische und vorübergehende handelt.
Man muß jetzt die Frage aufwerfen, warum das Zentrum überhaupt die Verhandlungen im Reichsmaßstabe zuließ. Diese Frage läßt sich nur beantworten, wenn man die Rolle des Zentrums als führende Partei der deutschen Bourgeoisie in Betracht zieht, die die entscheidenden Schichten des Finanzkapitals repräsentiert. Als seinerzeit Hugenberg die Deutschnationale Partei spaltete, um seine Politik als Einpeitscher des Rechtskurses und der Faschisierung im Gesamtlager der deutschen Bourgeoisie betreiben zu können, suchte er sich zugleich in den Nazis eine Massenbasis für seine Politik zu schaffen. Er ging darauf aus, die Hitler-Partei ‑ wie es die großbürgerliche Presse nennt ‑ zu “kanalisieren”, das heißt in solche Bahnen zu lenken, die sie zu einem geeigneten Instrument für die Großbourgeoisie bei der Ausübung der bürgerlichen Diktatur mit faschistischen Methoden machen. Diese Funktion einer fortgesetzten Dressur der Hitler-Partei im Sinne des Großkapitals versuchte die Volkspartei mehrfach für sich zu übernehmen.
Neuerdings ist es nun das Zentrum selber, das die führende Rolle, die es längst gegenüber der Sozialdemokratie ausübt, auch bezüglich der Nationalsozialisten zu übernehmen sucht. Das ist offensichtlich auch der Beweggrund bei den Verhandlungen der Bourgeoisie und ihrer Brüningregierung mit den Nazis gewesen.
Untersucht man nun, warum diese Verhandlungen scheiterten, so ist für die entscheidenden Schichten des Finanzkapitals, die durch das Zentrum hervorragend repräsentiert werden, zweifelsohne die Frage der Sozialdemokratie ausschlaggebend gewesen. Nach wie vor sind die Nationalsozialisten nicht in entscheidendem Maße in die Betriebsarbeiterschaft eingedrungen. Nach wie vor stellt die SPD, trotz ihrer Schwächung durch unseren Vormarsch, die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie dar und gibt mit ihrem Millionenanhang im ADGB. und anderen Arbeiterorganisationen die wichtigste Massenbasis für die Sicherung der kapitalistischen Diktatur und ihre Durchführung ab. Andererseits wächst mit dem allgemeinen Anschwellen der nationalsozialistischen Bewegung auch in der Hitlerpartei eine immer stärkere Stütze für die Bourgeoisie heran. Dieser Prozeß wird in absehbarer Zeit, spätestens im Zusammenhang mit den Preußenwahlen, auch die Frage der offenen Regierungsteilnahme der Nazis erneut auf die Tagesordnung stellen, wodurch die Rolle der SPD keineswegs abgeschwächt würde.
Das Zentrum, das selbst durch seine besondere soziale Struktur von allen großbürgerlichen Parteien allein über einen relativ festen Massenanhang verfügt, versucht für seine Politik eine breite Massenbasis durch solche Institutionen wie den Wirtschaftsbeirat und die Arbeitsgemeinschaft zu schaffen, in denen sie ihr der faschistischen Ideologie verwandtes “ständisches” Prinzip (Volksgemeinschaft) und eine Zusammenarbeit von der SPD bis zu den Nazis verwirklicht.
Der klassenmäßige Inhalt der Brüningpolitik ist somit einerseits mit Hilfe der Nationalsozialisten die SPD, diese Hauptstütze des Kapitalismus in den Massen, zu schwächen, zu zermürben und dadurch um so uneingeschränkter auszunutzen (Preußen), andererseits umgekehrt die Nationalsozialisten durch gewisse Manöver im Zaum zu halten und in stärkerem Maße in den Dienst der Diktatur des Finanzkapitals zu stellen (Hessen!).
Die wechselseitige Ausnutzung der SPD und der Nationalsozialisten für die Diktatur der Bourgeoisie, die wachsende Anwendung faschistischer Formen bei der Ausübung dieser Diktatur durch die Brüning-Severing-Regierungen und die nach wie vor von der Bourgeoisie erkannte und ausgenutzte Rolle der Sozialdemokratie als sozialer Hauptstütze der Bourgeoisie ‑ das sind die wichtigsten Tatsachen, die sich bei der konkreten Untersuchung der Entwicklung in Deutschland seit dem XI. Plenum ergeben. Bestätigen diese Tatsachen nicht restlos die Lehren und Beschlüsse des XI. Plenums? Das trifft unbestreitbar zu.
Genosse Manuilski untersuchte in seinem Schlußwort auf dem XI. Plenum u. a. die Frage, worin das Zurückbleiben der Kommunistischen Parteien in der Frage des Faschismus hinter dem revolutionären Aufschwung sich äußert. Er führte dabei aus:
Zweitens äußert sich dieses Zurückbleiben in der Frage des Faschismus darin, daß wir der Sozialdemokratie erlauben, in der Frage der Formen der bürgerlichen Diktatur zu manövrieren. Und das ist jetzt ihr Hauptmanöver in einer ganzen historischen Periode. Die Sozialdemokratie ist bestrebt, die Massen von den grundlegenden Fragen des Klassenkampfes abzulenken auf einen polemischen Streit über die Form ihrer eigenen Unterdrückung ‑ auf die Fragen, welche Form der bürgerlichen Diktatur besser sei: die parlamentarische oder die außerparlamentarische. Die Theorie des sogenannten “kleineren Übels”, von der sowohl Gen. Thälmann als auch Gen. Pollit in ihren Reden gesprochen haben, ist augenblicklich der Hauptkanal, in dem sich die parlamentarischen Illusionen der Massen bewegen. Die Sozialdemokratie wird nicht nur heute, sondern im Laufe einer ganzen Periode, im Laufe einer längeren Zeit mit ihrem Scheinkampf gegen den Faschismus manövrieren und mit allen nur denkbaren Mitteln jene grundlegende Tatsache vertuschen, daß Faschismus und Sozialfaschismus lediglich zwei Schattierungen ein und derselben sozialen Stütze der bürgerlichen Diktatur sind. Diese Illusionen der Massen zu zertrümmern, das gewährleistet die Untergrabung des Massenfundaments der Sozialdemokratie in der Arbeiterklasse.
Und an einer anderen Stelle des Schlußwortes heißt es:
Und unsere Schwäche, die Schwäche der Komintern bestand darin, daß wir den Kampf gegen die Theorie des “kleineren Übels” in seiner ganzen Mannigfaltigkeit nicht zu unserer zentralen Aufgabe gemacht [...] und das Plenum nicht benutzt haben, um diese Fehler konkret richtigzustellen. Es wird notwendig sein, diese Scharte nach dem EKKI-Plenum auszuwetzen. In dieser höchst ernsten und verantwortungsvollen Arbeit sind am wenigsten allgemeine Schemata und auswendig gelernte Formeln über den Faschismus am Platze, sondern es bedarf einer konkreten Betrachtung der Verhältnisse jedes einzelnen Landes [...]
Wir müssen die Frage aufwerfen, ob wir in unserer gesamten Politik in Deutschland diese außerordentlich wichtigen Grundsätze in genügendem Maße berücksichtigt haben. Das ist nicht der Fall. Es würde nicht schwer fallen, dies an Hand unserer allgemeinen Agitation und Propaganda zu beweisen. Man brauchte nur eine beliebige kommunistische Zeitung in Deutschland vorzunehmen oder auch, aller Wahrscheinlichkeit nach, den größten Teil unserer Zeitschriften, Flugblätter, Broschüren usw. ‑ und es würde sich zeigen, daß mehr als einmal anstelle jener konkreten Untersuchung und Darstellung der Verhältnisse, Klassenkräfte, wie sie das XI. Plenum verlangt, auswendig gelernte Schemata über den Faschismus treten.
Solche Schwächen können wir keineswegs dulden. Zu den Severing, Wels und Breitscheid, die die “Tolerierung” Brünings betreiben, hat sich neuerdings auch Trotzki gesellt, der in seiner jüngsten Broschüre ganz unverhohlen die Politik der deutschen Sozialfaschisten popularisiert und die deutschen Arbeiter um Hilfe für Brüning und Braun anbettelt. Kein Wunder, daß sich der konterrevolutionäre Soldschreiber der Bourgeoisie auf diese Art den begeisterten Beifall der bürgerlichen Journalisten des Mosse- und Ullsteinkonzerns erworben hat.
Worauf kommt es für uns an? Die Massen in den Kampf gegen die sich Schritt für Schritt vollziehende Offensive der Bourgeoisie auf allen Gebieten zu führen und in den Tageskämpfen den sozialistischen Ausweg aufzuzeigen: gegen die Diktatur der Bourgeoisie die Diktatur des Proletariats! Statt diese äußerst wichtige historische Gegenüberstellung in den Mittelpunkt unserer gesamten Agitation und Propaganda zu stellen, haben wir oft Prozentrechnungen über den “Grad des Faschismus in Deutschland”, “Stufen”-Theorien und ähnliches mehr produziert.
Aber noch schlimmer ist die Tatsache, daß sich trotz der Beschlüsse des XI. Plenums, trotz der meisterhaften Klärung dieser Fragen, wie sie vor allem auch im Schlußwort des Genossen Manuilski gegeben wurde, Tendenzen einer liberalen Gegenüberstellung von Faschismus und bürgerlicher Demokratie, von Hitler-Partei und Sozialfaschismus, in unseren Reihen gezeigt haben.
War es nicht der Ausfluß einer solchen unzulässigen Gegenüberstellung, wenn wir in der Frage des roten Volksentscheids gegen die Preußenregierung bei einigen, wenn auch nur vereinzelten Funktionären der Partei Hemmungen hatten, die zwar nicht, wie es die Braun-Severing nur zu gern gesehen hätten, die Kraft unserer Mobilisierungsarbeit für den roten Volksentscheid schwächten, die aber nachher in den betreffenden Zellen der Partei erst einer Klärung bedurften?
Und ist nicht die Tatsache, daß die Partei überhaupt erst aus Anlaß des Volksentscheides zu einer so scharfen Frontstellung gegen die Preußenregierung kam, ein Beweis dafür, daß wir bis dahin den prinzipiellen Kampf gegen diese festeste Stütze der Brüningregierung, diesen Sturmblock der Bourgeoisie bei der Durchführung der faschistischen Diktatur, vernachlässigten? Eine solche Vernachlässigung ist besonders schädlich vom Standpunkt der bevorstehenden Preußenwahlen. Man muß darüber hinaus weitergehen bis zu der Feststellung, daß auch in den Reihen des revolutionären Proletariats nicht ohne unser Verschulden mindestens unterbewußte Stimmungen vorhanden waren, als ob die Braun-Severing vielleicht doch ein “kleineres Übel” gegenüber einer Hitler-Goebbels-Regierung in Preußen wären. Eine solche Beeinflussung revolutionärer Arbeiter durch die verlogene sozialdemokratische Ideologie, solche Überreste sozialdemokratischen Denkens in unseren Reihen sind jedoch, wie wir in voller Übereinstimmung mit den Beschlüssen des XI. Plenums aussprechen müssen, die schlimmste Gefahr für die Kommunistische Partei.
Wie groß diese Gefahr ist, das ergibt sich u. a. gegenwärtig aus dem neuesten Manöver des Soziafaschismus. Die SPD, die, im Zusammenhang mit den neuen Wahlerfolgen der Hitler-Partei und auf Grund ihrer Kenntnis von den ja nicht auf alle Ewigkeit abgebrochenen Koalitionsverhandlungen des Zentrums mit den Nazis, für ihre preußischen Ministersitze fürchtet, möchte einerseits ihre rebellierenden Anhängermassen bei der Stange halten, andererseits der Bourgeoisie ihre Unentbehrlichkeit demonstrieren. Aus diesem Grund vollführt sie ein neues demagogisches Manöver. Sie “droht” damit, “Einheitsfront mit der Kommunistischen Partei” zu machen. Die Rede Breitscheids in Darmstadt anläßlich der Hessenwahlen und die Kommentare zu dieser Rede im "Vorwärts" zeigen, daß die Sozialdemokratie mit diesem Manöver den Teufel des Hitler-Faschismus an die Wand malt, um die Massen vom wirklichen Kampf gegen die Diktatur des Finanzkapitals abzuhalten. Und diesen trügerischen Bissen, der ja nur eine Abwandlung der sonstigen Politik des “kleineren Übels” darstellt, will sie nun mit der Soße einer angeblichen plötzlichen Kommunistenfreundlichkeit (“Gegen das Verbot der KPD”) würzen und für die Massen schmackhafter machen.
Wir müssen die Frage stellen: Hat die KPD alle Voraussetzungen geschaffen, um einen solchen neuen Betrug, eine solche Irreführung der Massen leicht durchkreuzen zu können?
Wir können diese Frage nicht bedingungslos bejahen. Wir selbst haben allzu oft ein wenig fasziniert auf das Problem des Faschismus gestarrt, statt den Faschismus als eine der Formen der Diktatur der Bourgeoisie in den größeren Rahmen eben dieser bürgerlichen Diktatur einzuordnen. Wir haben der falschen Theorie von der “Unvermeidlichkeit” der faschistischen Diktatur unter dem Monopolkapitalismus zumindest teilweise Rechnung getragen, oder jedenfalls nicht immer einen genügend scharfen Kampf gegen diese falsche und uns auf Abwege führende Theorie entfaltet.
Wir haben die notwendige Verschärfung dies prinzipiellen Kampfes gegen die Sozialdemokratie nicht in vollem Umfang durchgeführt. Nur einige Beispiele:
Nach dem Leipziger Parteitag der SPD gaben wir eine vollkommen richtige Analyse der inneren Lage der Sozialdemokratischen Partei und signalisierten die bevorstehende Abspaltung der Zentristen, sowie ihre neue Parteigründung als größtes Verbrechen an der Arbeiterklasse, wobei in unserer damaligen Resolution die ausdrückliche Wiederholung unserer richtigen Beschlüsse (Essen, Wedding) über den Zentrismus als gefährlichste Form des Reformismus unterblieb. Trotz unserer richtigen Perspektive in dieser Frage haben wir aber dann in den folgenden Monaten doch die notwendige Steigerung unseres Kampfes gegen diesen klassenverräterischen zentristischen Plan zweifelsohne vernachlässigt.
Hätten wir das nicht getan, sondern auf der richtigen Linie der damaligen Resolution entschieden und rechtzeitig gegen den Plan der neuen Partei gekämpft, so würden die Seydewitze, diese schädlichsten Elemente vom Standpunkt der Revolution, mit ihrer SAPD, der Partei des zentristischen Sumpfes, heute eine viel geringere Rolle spielen.
Die Tatsache, daß z. B. in unserer revolutionären Gewerkschaftsarbeit Einheitsfrontangebote von oben, an bezirkliche ADGB-Führungen oder sonstige Instanzen der reformistischen Bürokratie gemacht werden konnten (Ruhrgebiet), beweist gleichfalls, daß unser prinzipieller Kampf gegen die Sozialdemokratie nicht entschieden genug geführt wurde, um solche Fehler unmöglich zu machen.
Ein ähnlicher Fall ist die unzulässige Bildung eines antifaschistischen Komitees durch Einheitsfront von oben mit “radikaldemokratischen Gruppen” (die nur wenig Massenanhang besitzen) und ähnlichen schwankenden Gestalten, statt das Schwergewicht der Verstärkung der antifaschistischen Kampffront - wie es in Braunschweig richtig geschah - in die Betriebe und auf die Massen unten zu verlegen
Was ergibt sich aus alledem? Wenn Genosse Manuilski in den zitierten Sätzen seines Schlußwortes die Forderung aufstellte, nach dem XI. Plenum im Kampf gegen die Theorie des “kleineren Übels” alle vorhandenen Scharten auszuwetzen, so kann die KPD, die von allen Parteien der Komintern am meisten dazu berufen und verpflichtet war, bis heute noch nicht von sich sagen, daß sie diese Aufgabe tatsächlich als ihre “zentrale” Aufgabe betrachtet und gelöst habe.
Und doch ist der Kampf in erster Linie gegen alle demokratischen Illusionen, besonders dagegen, daß die Sozialdemokratie eine “Stütze im Kampfe gegen den Faschismus” sei, eine unerläßliche Voraussetzung für die Mobilisierung der Massen zum Kampf gegen die faschistischen Maßnahmen der Brüning-Severing-Diktatur und darüber hinaus für den Sturz des Kapitalismus.
Die entscheidende Schlußfolgerung, die sich aus den Beschlüssen des XI. Plenums für die deutsche Partei ergeben mußte, war, wie wir gesehen haben: den Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie als die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie zu richten!
Nach dem Hamburger Wahlsieg der Partei hatten wir bei einigen Funktionären, darunter sogar Spitzenfunktionären der Partei, Stimmungen zu verzeichnen, die die Bedeutung dieses Wahlerfolgs auf Grund des Anwachsens der nationalsozialistischen Stimmen verkleinern wollten. Es wird hierbei ebenfalls notwendig sein, später noch jene Erscheinungen zu berücksichtigen, in denen sich eine Unterschätzung des Nationalsozialismus und eine Vernachlässigung seiner Bekämpfung seitens unserer Partei äußert. Wie aber steht es hinsichtlich der Beurteilung des Hamburger Wahlergebnisses?
Trotz des Wahlerfolges gab es dort erhebliche Mängel und Schwächen, die festgestellt und kritisiert wurden. Aber dort gelang uns immerhin, in die festeste Hochburg der deutschen Sozialdemokratie eine Bresche zu schlagen, wenn auch ein stärkerer Einbruch noch nicht gelang. Dort gelang es uns, aus den Reihen der sozialdemokratischen Arbeiterschaft Zehntausende für den Kommunismus zu gewinnen. Für jeden Kommunisten, der den Grundsatz anerkannte, daß unser Hauptstoß gegen die Sozialdemokratie gerichtet sein muß, mußte deshalb unser Erfolg gegenüber der SPD der entscheidende Gradmesser für die gesamte Beurteilung des Wahlausgangs sein. Wenn es richtig war, daß der Kampf gegen den Faschismus in allererster Linie Kampf gegen die SPD ist und sein muß, dann bedeutete der Erfolg gegenüber der Hamburger Sozialdemokratie eben auch einen Erfolg gegenüber dem Faschismus.
Und doch gab es solche Stimmungen, die vor den nationalsozialistischen Bäumen den sozialdemokratischen Wald nicht sehen wollten. Weil die Nationalsozialisten auch in Hamburg einen beträchtlichen Wahlerfolg erzielen konnten, unterschätzten diese Genossen die Bedeutung unseres Kampfes gegen den Sozialfaschismus, die Bedeutung unseres Erfolges gegenüber der SPD. Darin drückten sich unzweifelhaft Merkmale eines Abweichens von der politischen Linie aus, die uns verpflichtet, den Hauptstoß gegen die SPD zu richten.
Diesen falschen Einstellungen gegenüber müssen wir mit aller Schärfe feststellen: die Faschisten können überhaupt nur geschlagen werden, wenn man die SPD, ihr Bündnis mit dem Faschismus, ihren Dienst für den Klassenfeind vor den Massen der Arbeiter enthüllt und diese von den SPD-Führern loslöst. Die SPD prinzipiell schlagen, in den Betrieben und den Gewerkschaften des ADGB, wie unter den Millionen Erwerbslosen, ihre arbeiterfeindliche Politik entlarven ‑ das kann man nicht durch lautes Geschrei und Geschimpfe (wie es manchmal in letzter Zeit bei uns Mode geworden war), sondern nur durch die Tatsachen unserer revolutionären Politik. Indem wir die Einheitsfrontpolitik zum Kampfe für ihre eigenen Klasseninteressen verwirklichen, schaffen wir bei den sozialdemokratischen Arbeitern und der proletarischen Jugend neues Vertrauen zu unserer Partei als der einzigen Führerin des Proletariats.
Wir müssen einen Schritt weiter gehen in den Methoden dieser Politik zur Herstellung der roten Einheitsfront der Arbeiter aus allen Lagern zum gemeinsamen Klassenkampf. Wir müssen die SPD-Arbeiter durch kameradschaftliche Aufklärung und ihre eigenen Erfahrungen im gemeinsamen Kampf praktisch von der verräterischen Rolle ihrer Führer und von der Tatsache überzeugen, daß nur die KPD, daß nur wir für ihre eigenen Klasseninteressen durchs Feuer gehen. Wir müssen überall den sozialdemokratischen Arbeitern die wichtigsten Kampfforderungen für die Herstellung der roten Einheitsfront vorschlagen, die sich gegen das Brüning-Severing-System, gegen die Diktatur der Bourgeoisie und ihre Stützen, gegen Hitlerpartei und sozialdemokratische Führerschaft richten.
Das beste Beispiel für die richtige Durchführung der Linie des Hauptkampfes um die SPD-Arbeiter und der Anwendung der Einheitsfrontpolitik als Kampfpolitik ist Braunschweig: Über den dortigen Ausgang des Volkentscheides wußte unsere Parteizeitung in Frankfurt am Main nur zu berichten: "Volksentscheid in Braunschweig abgelehnt", ein Zeichen des geradezu parlamentarisch verknöcherten Denkens des betreffenden Redakteurs. Die Partei und die revolutionäre Arbeiterschaft mißt unseren Vormarsch in Braunschweig mit einem anderen Maß. Für sie spielen außerparlamentarische Faktoren, wie politischer Massenstreik, revolutionäre Demonstrationen, kämpfende rote Einheitsfront usw., die entscheidende Rolle.
* * *
In der Frage des Hauptstoßes gegen die SPD steckt das Kernproblem der kommunistischen Politik in Deutschland. Wir haben bereits an Hand der politischen Analyse nachgewiesen, weshalb auf Grund der Politik der Bourgeoisie, der Brüning-Severing-Regierungen, unser Kampf gegen die SPD das zentrale Problem unserer revolutionären Massenarbeit darstellt. In nachfolgendem wollen wir an die gleiche Frage noch von einer anderen Seite herangehen, die mit der ersten Fragestellung eng verbunden ist, aber darüber hinaus die ganze grundsätzliche Bedeutung dieses Problems aufrollt.
Ich meine das Problem des Kampfes um die eigene Klasse. Für jeden Marxisten-Leninisten muß es selbstverständlich sein, daß das erste Erfordernis der kommunistischen Politik der Kampf um die Gewinnung der eigenen Klasse, des Proletariats, sein muß. Nur wenn wir die proletarische Mehrheit für den Kommunismus gewinnen, können wir die weiteren Aufgaben der Heranziehung der Verbündeten des Proletariats aus den Mittelschichten an die antikapitalistische Kampffront verwirklichen und damit die Voraussetzungen für die Volksrevolution im Sinne von Marx und Lenin schaffen. Jede Verwischung dieser Grundsätze, jeder Verzicht auf die Voranstellung des Kampfes um die eigene Klasse ist Bruch mit dem Marxismus, Bruch mit dem Leninismus!
Wie stellt Lenin dieses Problem? In den Debatten bei der Ausarbeitung des Programms der sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands im Jahre 1902 hat Genosse Lenin besonders gründlich und ausführlich zu dieser Frage Stellung genommen. Sowohl in seiner Kritik der beiden damals von Plechanow ausgearbeiteten Programmentwürfe, als auch in seinen Bemerkungen zu dem Programmentwurf Martows und der später beauftragten Kommission entwickelt Lenin mit aller Schärfe den marxistischen Standpunkt zur Frage des Verhältnisses zwischen dem Proletariat und den Werktätigen. Er zieht hierbei die Schlußfolgerungen für die gesamte Politik der proletarischen sozialistischen Partei. So schreibt er u. a.:
Ich teile vollkommen die Ansicht von V. Sassulitsch, daß es bei uns möglich ist, eine viel größere Zahl von Kleinproduzenten und viel früher (als im Westen) für die Sozialdemokratie zu gewinnen ‑ daß wir, um das zu erreichen, alles, was in unseren Kräften steht, tun müssen, ‑ daß man diesen “Wunsch” im Programm “gegen” die Martynow und Konsorten zum Ausdruck bringen muß [...]
Aber man darf den Bogen nicht überspannen, wie es V. Sassulitsch tut! Man darf den Wunsch nicht mit der Wirklichkeit verwechseln und noch dazu mit der immanent-notwendigen Wirklichkeit, der allein unsere Prinzipienerklärung gewidmet ist. Es wäre wünschenswert, alle Kleinproduzenten zu gewinnen, ‑ natürlich. Aber wir wissen, daß das eine besondere Klasse ist, eine zwar mit dem Proletariat durch tausend Fäden und Übergangsstufen verknüpfte Klasse, aber doch eine besondere Klasse.
Es ist unbedingt erforderlich, sich zunächst von allen abzugrenzen und nur, einzig und allein und ausschließlich das Proletariat abzusondern, ‑ und erst nachher zu erklären, daß das Proletariat alle befreien wird, daß es alle ruft, alle auffordert.
Ich bin einverstanden mit dem “nachher”, aber ich verlange erst das “zunächst”!
Bei uns in Rußland haben die höllischen Qualen der “werktätigen und ausgebeuteten” Masse keine Volksbewegung hervorgerufen, solange die “Handvoll” Fabrikarbeiter nicht den Kampf, den Klassenkampf begonnen hatte. Und nur diese “Handvoll” verbürgt diesen Kampf, seine Fortsetzung, seine Ausbreitung. Gerade in Rußland, wo die Kritiker (Bulgakow) die Sozialdemokraten (heute würden wir sagen: Bolschewik! E. Th.) der Bauernfeindlichkeit anklagen, wo die Sozialrevolutionäre von der Notwendigkeit schwätzen, den Begriff des Klassenkampfes durch den Begriff des “Kampfes aller Werktätigen und Ausgebeuteten” zu ersetzen (Wjestnik Russkoi Revoluzii. Nr. 2), ‑ gerade in Rußland müssen wir uns zunächst durch eine ganz scharfe Definition einzig und allein des Klassenkampfes, einzig und allein des Proletariats, von diesem Gesindel abgrenzen, ‑ und erst dann erklären, daß wir alle rufen, alles aufnehmen, alles tun, auf alles ausdehnen werden. [...]
Die Kommission aber “dehnt aus” und vergißt abzugrenzen!! Und mich beschuldigt man der Engherzigkeit, weil ich verlange, daß man der Ausdehnung diese “Abgrenzung” vorausschicke? Aber das ist doch eine Verdrehung, Herrschaften!!
Der uns morgen unvermeidlich bevorstehende Kampf gegen die vereinigten Kritiker und die etwas radikaleren Herren aus dem "Russkije Wjedomosti" und dem "Ruskoje Bogatslowo" und die Sozialrevolutionäre wird von uns unbedingt erfordern, daß wir eine Grenze ziehen zwischen dem Klassenkampf des Proletariats und dem “Kampf” (Ist es ein Kampf?) “der werktätigen und ausgebeuteten Masse”. Das Gerede über diese Masse ist der Haupttrumpf in den Händen aller unsicheren Kantonisten, die Kommission aber arbeitet ihnen in die Hände und nimmt uns die Waffe zum Kampf gegen die Halbheiten. [...]
Diese Sätze Lenins, die zu den entscheidenden Grundsätzen des Marxismus-Leninismus gehören, ergeben, auf die praktischen Aufgaben der revolutionären Arbeit der KPD. angewandt, trotz mancher Ungleichheit der Lage doch, daß auch für uns im Vordergrund und als zentrale Aufgabe der Kampf um die eigene Klasse, der Kampf um die Gewinnung des Proletariats, bzw. seiner Mehrheit, seiner entscheidenden Schichten, stehen muß. Welche Folgerung ergibt sich aber daraus?
Die unbedingte Konsequenz, daß wir, schon um der Eroberung der proletarischen Mehrheit willen den Hauptstoß gegen diejenige Partei richten müssen, die heute noch die entscheidende Massenbasis im Proletariat für die Diktatur der Bourgeoisie besitzt. Das ist nicht die Hitlerpartei, sondern die Sozialdemokratie.
Ohne im Kampf gegen die Sozialdemokratie zu siegen, können wir nicht den Faschismus schlagen, das heißt gegen die mit faschistischen Methoden ausgeübte Diktatur der Bourgeoisie erfolgreich kämpfen. Ohne im Kampf mit der SPD entscheidend durchzubrechen, können wir auch unmöglich die Aufgaben meistern, in die Massenbasis des Zentrums entscheidend einzudringen und die andere Stütze der Diktatur der Bourgeoisie neben der SPD, die Hitlerpartei, deren Massenbasis vor allem die Mittelschichten abgeben, erfolgreich zu berennen und zu schlagen.
Das sind die selbstverständlichen Folgerungen, die sich aus der gesamten Strategie des Leninismus ergeben. Genosse Stalin bat in seinem "Vorwort" zum Buche "Auf dem Wege zum Oktober" über die "Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten" u. a. folgende Feststellungen getroffen:
Wie aber wurde von der Partei diese Führung gehandhabt, auf welcher Linie vollzog sie sich? Diese Führung vollzog sich auf der Linie der Isolierung der Kompromißler-Parteien, als der gefährlichsten Gruppierungen in der Entscheidungsperiode der Revolution, auf der Linie der Isolierung der Sozialrevolutionäre und der Menschewisten. [...] Der Kampf ging nicht mehr zwischen Zarismus und Volk, sondern zwischen Bourgeoisie und Proletariat. In dieser Periode bildeten die kleinbürgerlich-demokratischen Parteien, die der Sozialrevolutionäre und Menschewisten, die gefährlichste soziale Stütze des Imperialismus. Warum? Weil diese Parteien damals die paktierenden Parteien waren, die Parteien des Paktierens zwischen dem Imperialismus und den werktätigen Massen. Es ist daher natürlich, daß die Hauptschläge der Bolschewik damals gegen diese Parteien gerichtet wurden, denn ohne diese Parteien isoliert zu haben, war es unmöglich, auf einen Sieg der Sowjetrevolution zu rechnen. Viele begriffen damals nicht diese Eigentümlichkeit der bolschewistischen Taktik und bezichtigten die Bolschewik des “übertriebenen Hasses” gegenüber den Sozialrevolutionären und Menschewiken sowie der “Außerachtlassung des Hauptzieles”. Doch zeugt die ganze Periode der Vorbereitung des Oktober in beredter Sprache, daß die Bolschewiki nur durch eine solche Taktik den Sieg der Oktoberrevolution sichern konnten.
Alles, was wir vorher über die Schwächung unseres Kampfes gegen die Sozialdemokratie hinsichtlich des prinzipiellen Kampfes sagten, wie auch alles das, was hinsichtlich einer ungenügenden Anwendung einer Einheitsfrontpolitik von unten gegenüber den sozialdemokratischen Arbeitern hinzuzufügen wäre (eine ausführlichere Aufzählung von Beispielen für das letztere Gebiet ist hier nicht nötig, da diese Frage innerhalb der Partei an anderer Stelle schon erläutert wurde), ‑ all dies beweist, daß wir jene Grundregel der leninistischen Strategie und Taktik, wie sie Genosse Stalin schildert, noch nicht genügend in unserer Praxis berücksichtigen.
Die ganze Frage der Schwächen unseres Kampfes gegen die Sozialdemokratie, als die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie ist selbstverständlich von der Frage des Kampfes um die eigene Klasse, um die Eroberung der proletarischen Mehrheit nicht zu trennen. Denn ohne Zweifel ist die Sozialdemokratie, sind die SPD-Arbeiter neben den Unorganisierten, wie wir schon auf dem Januarplenum unseres Zentralkomitees betonten, ein Hauptreservoir für uns bei der Gewinnung von Arbeitern. Diese Erkenntnis ist für die Arbeit der Partei wie besonders auch der RGO in den Betrieben, den Gewerkschaften und unter den Erwerbslosen von größter Bedeutung.
* * *
Das Problem des Kampfes um die Mehrheit der Arbeiterklasse steht für uns in engster Verbindung zur Frage der Anwendung der Losung der Volksrevolution. Nicht immer wurde diese Losung völlig einwandfrei angewandt. Sogar in einem offiziellen Dokument findet sich die unzulässige Formulierung vom "Dreibund des Proletariats, der Bauern und der städtischen Mittelständler" ohne die notwendige Heraussortierung der proletarischen Hegemonie (und in der redaktionellen Aufmachung dieser Resolution durch das Zentralorgan sogar die Formulierung "Dreibund der Werktätigen"). Demgegenüber haben wir bereits zuvor die grundsätzlichen Darlegungen Lenins zur Frage des Proletariats und der kleinbürgerlichen Schichten, der Schächten der Kleinproduzenten, angeführt. Auf dem XI. Plenum führte Genosse Manuilski bezüglich der konkreten deutschen Verhältnisse hinsichtlich der Anwendung der Losung Volksrevolution folgendes aus:
Genosse Thälmann hatte recht, als er in seinem Referat darauf hinwies, daß man die Aufgabe der Eroberung der Verbündeten für das Proletariat nicht der Aufgabe der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse gegenüberstellen dürfe. Diese Aufgaben hängen aufs engste miteinander zusammen. Je näher die Kommunistische Partei der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse kommt, um so mehr wächst ihre Kraft und ihr Einfluß auf die anderen, nichtproletarischen Bevölkerungsschichten. Bedeutet das aber, Genossen, daß wir in Deutschland bereits die Losung, die Aufgabe der Eroberung der Mehrheit der Arbeiterklasse, von der Tagesordnung absetzen? Durchaus nicht! Das bleibt die grundlegende Hauptaufgabe, die strategische Aufgabe für Deutschland.
Das ist unbestreitbar richtig. Aber ebenso richtig ist es, daß die KPD nicht immer und überall diese richtige Erkenntnis ihrer Politik zugrunde gelegt hat. Mit anderen Worten: bei der Anwendung der Losung Volksrevolution haben wir nicht immer mit genügender Schärfe die Volksrevolution im Sinne der Politik der Arbeiterklasse als ein Synonym der proletarischen sozialistischen Revolution zur Anwendung gebracht. Fehler auf diesem Gebiete aber sind sowohl ein Verstoß gegen die strategische Aufgabe, die grundlegende Hauptaufgabe: die Eroberung der proletarischen Mehrheit, als auch gegen die Herausarbeitung jener grundsätzlichen Klassenlinie unserer Politik, die das Wesen einer marxistisch-leninistischen Partei ausmacht; ein Verstoß also gegen jene Prinzipien, wie sie Genosse Lenin in den vorher zitierten Bemerkungen zum Programm der russischen Sozialdemokratie (der späteren Bolschewiki, E. Th.) so entschieden und heftig verteidigte. Gibt es solche Fehler bei uns? In besonderer Häufung ergeben sie sich in der Zeitschrift "Propagandist". In ihrer Dezember-Nummer 1930 behandelt der Leitartikel "Volksrevolution gegen Faschismus" die Frage, welche Kräfte "zum Kampf gegen den Faschismus und zur Verhinderung seines Sieges mobilisiert werden müssen". Der Artikel stellt richtig fest, daß nur das Proletariat, als einzige bis ans Ende revolutionäre Klasse, die kapitalistische Ordnung stürzen und an ihre Stelle die sozialistische setzen kann. Es heißt dann aber weiter:
Aber bedeutet es, daß das Proletariat allein, ohne Verbündete, seine sozialistische Revolution machen kann und machen muß? Zweifellos nicht in den Ländern, wo das Kleinbürgertum einen großen Teil der Bevölkerung bildet. Und das ist die Regel für alle Staaten des europäischen Festlandes. Hier kommt es für die Strategie und Taktik der proletarischen Revolution vor allem darauf an, die kleinbürgerlichen Schichten für die proletarische Revolution zu gewinnen, oder mindest zu neutralisieren.
Man vergleiche diese Formulierungen mit der unerbittlichen Klarheit Lenins. Dann ergibt sich, daß hier die revolutionäre Strategie auf den Kopf gestellt ist. Bei Lenin mit aller Klarheit das "Zunächst": die Forderung, "einzig und allein das Proletariat abzugrenzen" und "erst dann": zu erklären, daß "wir alle rufen, dies aufnehmen, alles tun, auf alles ausdehnen werden". Im "Propagandist" statt dessen: "Hier kommt es [...] vor allem darauf an, die kleinbürgerlichen Schichten für die proletarische Revolution zu gewinnen, oder zumindest zu neutralisieren". Das gewiß sehr wichtige und um keinen Preis zu unterschätzende Problem der Ausdehnung auf die Bundesgenossen wird zur zentralen Frage der revolutionären Strategie und Taktik erhoben, auf die es vor allem ankomme. Das aber heißt, die Losung Volksrevolution nicht im Sinne von Marx und Lenin interpretieren, nicht im Sinne der Politik der Arbeiterklasse, sondern in einem “vorrevolutionären” Sinne, der mit Marxismus und Leninismus nichts mehr gemein hat.
Daß es sich hier nicht nur um einen falschen Zungenschlag, sondern um eine, wenn auch “unabsichtliche” und “unbewußte” Abirrung von der leninistischen Strategie handelt, ergibt sich aus weiteren Formulierungen des gleichen Artikels. Der Artikel beschäftigt sich mit dem Begriff der Volksrevolution im Rahmen der russischen Oktoberrevolution und fährt fort, daß dieser Begriff "in allen hochentwickelten kapitalistischen Ländern, namentlich in Deutschland, unentbehrlich" sei. Es heißt dann:
Denn in diesem Begriff steckt unmittelbar der Begriff der Hegemonie des Proletariats, der Führung aller ausgebeuteten Schichten der Bevölkerung, in erster Reihe der werktätigen Bauernmassen durch das Proletariat im Kampfe gegen die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung. Will das Proletariat diese seine Hegemonie, diese seine Rolle als Vorkämpfer aller Ausgebeuteten tatsächlich verwirklichen, so muß es die "Volksrevolution" organisieren. Das ist besonders wichtig in der jetzigen Zeit, in der es gilt, die kleinbürgerliche Massenbasis des Faschismus zu untergraben, die werktätigen Schichten in Stadt und Dorf von den Nationalsozialisten und von dem Faschismus überhaupt loszureißen und sie zu Verbündeten des Proletariats zu machen.
Also: in dem Begriff Volksrevolution "steckt unmittelbar" der Begriff der proletarischen Hegemonie. In der Tat, eine bequeme Methode! Denn wenn die proletarische Hegemonie schon "unmittelbar" im Begriff Volksrevolution enthalten ist, darin "steckt", so ist das Proletariat und seine Partei ja aller Schwierigkeiten für die Herstellung dieser proletarischen Hegemonie enthoben. Und wirklich: der Artikelschreiber im "Propagandist" belehrt uns, daß das Proletariat zur tatsächlichen Verwirklichung seiner Hegemonie nur ganz einfach "die Volksrevolution organisieren" muß. Der bescheidene Leser, der einfache Propagandist und Parteiarbeiter ist gewiß neugierig, wie man das macht. Aber der Leitartikler des "Propagandist" behält seine Weisheit (falls er deren teilhaftig ist) für sich und verrät nichts als dieses nichtssagende Schema: das Proletariat muß "die Volksrevolution organisieren". Ja, um die Verwischung und Verwirrung zu vollenden, beschäftigt sich der nächste Satz schon in kühnem Sprung mit der "kleinbürgerlichen Massenbasis des Faschismus".
Wie das Proletariat zum Vorkämpfer aller Ausgebeuteten wird, wie die Hegemonie des Proletariats tatsächlich verwirklicht wird, darüber wird nicht eine Silbe ausgeplaudert. Wir erwarten keine konkrete und praktische Antwort auf diese Frage, weil die ganze Behandlung des Problems allzu “gelehrt” im schlechten Sinne, allzu sehr im luftleeren Raum rein abstrakter und schematischer Behandlung von statten geht. Aber wenigstens einen theoretischen Hinweis müßte der Leitartikler des "Propagandist" geben, wenn nicht das Wort von der proletarischen Hegemonie in seinem Munde zu einer leeren Phrase werden soll.
Das aber ist tatsächlich der Fall. Der Artikel verschweigt, daß das Proletariat unter Führung der Kommunistischen Partei seine Hegemonie über alle Werktätigen nur verwirklicht, indem es seine Politik, die Politik der Arbeiterklasse, ohne Kompromisse, ohne Abschwächungen, revolutionär bis zum Ende durchführt.
Im Gegensalz zu dieser liberalen Verwässerung der Losung Volksrevolution findet sich in der Januar-Nummer 1931 der gleichen Zeitschrift in einem Artikel des Genossen J. L. "Die faschistische Diktatur und die Propaganda des antifaschistischen Kampfes" eine richtige und leninistische Behandlung des Problems der proletarischen Hegemonie über die Werktätigen. In diesem Artikel, der in einigen anderen Fragen (revolutionäre Situation usw.) bestimmte, inzwischen durch das Januar-Plenum des ZK. bereits korrigierte Fehler enthält, wird zum Problem der Hegemonie des Proletariats ausgeführt, daß diese Hegemonie nur verwirklicht werden kann, wenn der proletarische Massenkampf selbst ‑ mit Streiks und Erwerbslosenaktionen ‑ schärfere Formen annimmt, breitere Massen erfaßt und "dadurch den eingeschüchterten Massen der Bauern und Kleinbürger zeigt, daß es eine Kraft gibt, die mächtiger ist, als die der kapitalistischen Unterdrücker, die Kraft des revolutionären Proletariats".
Diese Stellungnahme ist richtig. Die Kleinproduzenten in Stadt und Land, werktätige Bauern und notleidender Mittelstand, sind ja keineswegs unter allen Umständen Verbündete des revolutionären Proletariats, sondern auf Grund ihrer Klassenlage ebenso gut und ebenso oft Verbündete der Reaktion. Sie werden nach Lenin nur insoweit zu Bundesgenossen, als sie sich vom Kapitalismus “lossagen”, als es gelingt, sie zum Proletariat “herüberzuziehen”. Diese Tatsache vergessen, heißt die Klassenrolle des Proletariats, als die einzige bis zu Ende revolutionäre Klasse, vertuschen, auch wenn man sie in Worten anerkennt.
Ein ungenügendes Verständnis für diese Bedingungen, unter denen allein die Losung Volksrevolution marxistisch-leninistisch angewandt werden kann, findet sich jedoch nicht nur in dem zuvor erwähnten Artikel, sondern auch in einer ganzen Reihe weiterer Hefte des "Propagandist". In einem Artikel des Genossen A. E. über "Proletarische Revolution und Volksrevolution" im Februar-Heft 1931 wird z. B. die "Volksrevolution" mit der "spontanen Erhebung der Massen" gleichgesetzt, die erst "durch das organisierende und politisch führende Auftreten des Proletariats zur proletarischen Revolution umzuwandeln" sei. Das soll zwar als Aufgabenstellung für den ersten Teil der bürgerlichen Revolution seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gelten, aber es beweist schlagend die völlige Verworrenheit, mit der hier die Losung "Volksrevolution" behandelt wird. Diese Verworrenheit wird auch dadurch nicht aus der Welt geschafft, daß in dem gleichen Artikel später einige richtige Formulierungen folgen.
Es handelt sich nicht um zufällige und nur gelegentliche Abweichungen, sondern um wirkliche Fehler. Das beweist die Juli-Nummer 1931 des "Propagandist" in ihrem leitenden Spitzenartikel. Dort lesen wir:
Die Masse ‑ das Volk, tritt in den Kampf gegen den bürgerlichen Staat, gegen die bürgerliche Klassenherrschaft ‑ gegen das System der Bourgeoisie.
Die Masse ‑ das Volk, will kämpfen. "Lieber ein Ende mit Schrecken ‑ als ein Schrecken ohne Ende", rufen bereits Tausende und aber Tausende jahrzehntelang organisierte sozialdemokratische Arbeiter.
Welch ein babylonischer Sprachenwirrwarr, hinter dem sich die Verwirrung und Vermanschung aller Begriffe verbirgt! Bald ist es "die Masse", bald ist es "das Volk", bald sind es "die sozialdemokratischen Arbeiter". Es ist unbestreitbar, daß dieser Phrasenschwall mit der Aufgabe marxistisch-leninistischer Klarheit und Sauberkeit in der Definition und Analyse nicht mehr das Mindeste gemein hat. Das ist nicht "Propaganda des Marxismus-Leninismus", wie sie auf dem Umschlag dieser Zeitschrift angekündigt wird, sondern das krasse Gegenteil: die Verwirrung aller marxistisch-leninistischen Begriffe!
Es ist nur eine Fortsetzung dieser groben theoretischen Fehler, wenn es im November-Heft des "Propagandist" 1931 in dem Leitartikel von A. E. heißt:
Was ist die bürgerliche Revolution? Sie ist eine politische Revolution und keine soziale.
Und an einer anderen Stelle des gleichen Artikels:
Hätte im November 1918 nur die bürgerliche Revolution auf der Tagesordnung gestanden, so wäre der Verrat der Sozialdemokratie nicht so ungeheuerlich groß, so wären “ihre” November-“Errungenschaften” enorm.
Das bedeutet eine völlige opportunistische Verfälschung der marxistischen Theorie, wonach jede Revolution (auch die bürgerliche) eine soziale ist. Das bedeutet darüber hinaus den glatten Bruch mit der leninistischen Fragestellung über die Rolle des Proletariats in der bürgerlichen Revolution. A. E., der geradezu den Beweis dafür antritt, daß in einer bürgerlichen Revolution die SPD ‑ also der Reformismus ‑ die geeignete Führung der Arbeiterklasse abgeben würde, leugnet damit alle Erfahrungen der Bolschewik! im Kampf mit dem Menschewismus in der russischen Revolution von 1905/06 und alle Feststellungen der Komintern über die Rolle der II. Internationale und ihrer Parteien in den bürgerlich-demokratischen Revolutionen der letzten Zeit (China, Spanien usw.). Er entpuppt sich als ein “Theoretiker”, der die Eierschalen der Sozialdemokratie, von denen er sich nicht zu befreien vermochte, als verfälschten “Leninismus” in unsere Reihen einzuschmuggeln versucht.
Es ist selbstverständlich, daß die Partei gegen solche Abweichungen und Fehler entschieden Front machen, die falschen Auffassungen überwinden und so schnell wie möglich Klarheit schaffen muß.
* * *
Wir haben gesehen, wie die Schwächen in der Durchführung der Linie des XI. Plenums ‑ den Hauptstoß gegen die soziale Hauptstütze der Bourgeoisie, die SPD zu führen ‑ aufs engste mit den Abweichungen und Fehlern bei der Anwendung der Losung Volksrevolution verbunden sind. Auch das dritte Problem, dem wir hier nur kurz unsere Aufmerksamkeit zuwenden wollen, die großen Schwächen im Kampf gegen den Nationalsozialismus, hängen eng mit den vorhergehenden Fragen zusammen. Wir beschäftigten uns bereits mit den Erscheinungen einer Überschätzung des Nationalsozialismus, die einzelnen Genossen den klaren Blick für eine klassenmäßige Analyse und einen klassenmäßigen Maßstab bei diesem Problem verdunkelte. Aber selbstverständlich ist dies nicht die einzige Art von Fehlern gegenüber dem Nationalsozialismus.
Neben dieser opportunistischen Abweichung und den angeführten schweren opportunistischen Fehlern in der Frage Faschismus und Demokratie gibt es auch sehr ernste “linke” Fehler einer Unterschätzung sowohl der Bedeutung des Faschismus allgemein im Rahmen des Klassenkampfes, als auch der speziellen Rolle der nationalsozialistischen Massenbewegung. Sind solche Fehler an der deutschen Partei vorhanden?
Wir können uns alle, die gesamte Partei und ihre Führung, nicht davon freisprechen. Beginnen wir mit einigen theoretischen Unterlassungen. Wir haben (das trifft auch auf den Bericht der deutschen Partei auf dem XI. Plenum zu, den der Verfasser dieses Artikels erstattete. E. Th.) den Faschismus einschließlich des Wachstums der nationalsozialistischen Bewegung zu einseitig und zu mechanisch nur als die Antithese des revolutionären Aufschwungs, als die Abwehr der Bourgeoisie gegen das Proletariat betrachtet. Diese Einschätzung war richtig, aber sie allein reichte nicht aus und wurde so zu einem Schema, das dem dialektischen, wechselseitigen Prozeß der Klassenbeziehungen nicht ganz gerecht wurde. Erst in letzter Zeit wurde dieser Mangel ernsthaft korrigiert. Auf dem XI. Plenum führte Genosse Manuilski im Schlußwort aus:
Der Faschismus widerspiegelt den dialektischen Widerspruch der sozialen Entwicklung. Er birgt in sich beide Elemente, sowohl das Element der Offensive der herrschenden Klasse, als auch das Element ihrer Zersetzung. Mit anderen Worten ‑ die faschistische Entwicklung kann sowohl zu einem Siege des Proletariats, als auch zu einer Niederlage führen. Die Frage entscheidet hier der subjektive Faktor, d. h. der Klassenkampf des Proletariats.
Und an einer anderen Stelle seines Schlußwortes setzte sich Genosse Manuilski unter berechtigtem Spott mit jener Theorie auseinander, als ab das Wachstum des Faschismus sozusagen den Sieg des Kommunismus vorbereite:
Die Aufgaben der Kommunisten würden bei einer solchen Stellung der Fragen überaus vereinfacht werden. Die Lösung dieser Aufgaben würde nahezu als ein ununterbrochener Triumphmarsch erscheinen. Überwindung des Faschismus ‑ nichts leichter als das! Er verfault und zerfällt ganz von allein. Das Kleinbürgertum ist bereits selbst vom Faschismus enttäuscht und kehrt ihm den Rücken. Hat sich aber der Faschismus bei dem Versuch, in die Betriebe einzudringen, die Finger verbrannt, so könnten wir, ausgehend von dieser Einstellung, wieder leicht zu der irrigen Schlußfolgerung gelangen, daß er schon geschlagen sei. Wenn der alte Guesde, als er noch Marxist war, sagte, daß der Krieg die Mutter der Revolution ist, müssen wir trotzdem sagen, daß der Faschismus ‑ nicht der Vater der Revolution ist.”
Ist diese Frage eine untergeordnete Frage? Keineswegs! Wie gefährlich für uns jede auch nur geringfügige Abweichung in der Richtung der von Manuilski mit Recht so scharf kritisierten “Theorie” ist, das ergibt sich gerade in jüngster Zeit aus einigen Erklärungen der deutschen Sozialdemokratie.
Die SPD ist sich darüber klar, daß die Bourgeoisie auf ihre Mithilfe bei der Ausübung der Diktatur der Bourgeoisie auch dann nicht verzichten wird, wenn sie in einem späteren Zeitpunkt die Nationalsozialisten bei der Durchführung der faschistischen Herrschaftsformen der kapitalistischen Klassenherrschaft innerhalb der Reichsregierung mitwirken läßt. So bereitet sie sich allmählich schon auf die Unterstützung auch einer Brüning-Hitler-Regierung an Stelle der heutigen Brüning-Groener-Regierung vor.
Während die SPD auf der einen Seite “linke Manöver” mit der “Drohung” eines Zusammengehens mit der KPD vollführt, erfindet sie andererseits bereits eine neue Auflage der Theorie des “kleineren Übels”. Danach soll eine Brüning- Hitler-Regierung immer noch ein “kleineres Übel” gegenüber einer bloßen Hitler-Regierung sein. Nicht mehr und nicht weniger als diese famose Theorie hat Herr Breitscheid auf einer öffentlichen Kundgebung in Emden, wenige Wochen vor seinem neuen “Bekenntnis” von Darmstadt, entwickelt. Die Nazis in der Reichsregierung ‑ das wäre nicht weiter tragisch, denn um so rascher werden sie sich ihre Dummheiten abgewöhnen.
Mit dieser Theorie, die Nationalsozialisten in der Regierung “sich Abwirtschaften” zu lassen, will die SPD dem antifaschistischen Kampfeswillen der Massen lahmen und von vornherein auch einer möglicherweise bevorstehenden Brüning-Hitler-Regierung den Weg bereiten, so wie sie es bisher mit der Brüning-Regierung getan hat.
Aber diese Erziehung der Massen zur Passivität spiegelt sich ja ebenso auch in jener mechanischen Theorie wider, als ob der Faschismus nur ein Produkt der kapitalistischen Krise und der Zersetzung im Lager der Bourgeoisie sei, gegen die Genosse Manuilski polemisierte. Würden wir deshalb eine solche Theorie in unseren Reihen dulden ‑ und das ist, wenigstens teilweise, geschehen ‑, so hieße das, dem neuen sozialdemokratischen Betrugsmanöver nachgeben Und damit kommen wir zu den ernsten Fehlern einer Unterschätzung des Faschismus in unseren Reihen.
In einem Artikel des Genossen Kr. im September-Heft 1931 des "Propagandist" findet sich folgender Passus:
Eine sozialdemokratische Koalitionsregierung, der ein kampfunfähiges, zersplittertes, verwirrtes Proletariat gegenüberstände, wäre ein tausendmal größeres Übel, als eine offen faschistische Diktatur, der ein klassenbewußtes, kampfentschlossenes, in seiner Masse geeintes Proletariat gegenübertritt.
Hier zeigt sich eine völlig falsche Einschätzung des Faschismus und dessen, was eine faschistische Diktatur in der Praxis bedeutet. Es ist beinahe der ähnliche Ruf nach einer Hitler-Regierung, die sich schon leicht schlagen lassen werde, wie bei Breitscheid. Bei Breitscheid dient dies bewußt der Einschläferung der Massen. Beim "Propagandist" ist es ein Ausdruck für einen gewissen sektiererischen Fatalismus gegenüber der faschistischen Entwicklung, das Gegenstück zur opportunistischen Panikstimmung anderer Genossen. Hier ist ein Zweifrontenkampf der Partei eine unbedingte Notwendigkeit. Schon früher stand einmal im "Propagandist" (Dezember-Heft 1930, Leitartikel des Genossen S.) die Formulierung: "sogar bevor der Faschismus zur Macht kommt, bevor die faschistische Diktatur triumphiert [...]"
Der "Triumph der faschistischen Diktatur" wird also als “unabwendbar” bereits in Kauf genommen. Das ist eine rein defätistische Stellungnahme, mit der unsere Linie nichts gemein hat.
Wir müssen statt dessen mit aller Schärfe feststellen, daß sowohl über die faschistische Entwicklung im allgemeinen, als auch über die Entwicklung der nationalsozialistischen Bewegung im besonderen, in ausschlaggebender Weise der revolutionäre Klassenkampf des Proletariats entscheidet.
Es muß uns gelingen, die defätistischen Stimmungen in der Arbeiterklasse gegenüber dem Faschismus, wie sie von den SPD-Führern gezüchtet werden, restlos zu überwinden. Andernfalls kann die Gefahr entstehen, daß die Bourgeoisie auf kaltem Wege zur offenen faschistischen Diktatur übergehen könnte, ohne den entschlossenen revolutionären Widerstand des Proletariats bis zu den höchsten Kampfformen befürchten zu müssen.
Die KPD kann unzweifelhaft im Kampf gegen die Hitlerpartei manche Erfolge verbuchen. Aber ebenso unzweifelhaft steht es fest, daß das neuerliche Anwachsen der nationalsozialistischen Welle bis zu einem gewissen Grade auf eine Schwäche unseres Abwehrkampfes zurückzuführen ist. Wir hätten bei dem rapiden Tempo des Zerfalls der alten bürgerlichen Parteien das schnelle Anwachsen der nationalsozialistischen Bewegung sicherlich nicht vereiteln können. Aber die kommunistische Bewegung Deutschlands ist heute schon stark genug, um die Entwicklung wenigstens entscheidend verändern und beeinflussen zu können.
Dazu gehört allerdings eine bedeutende Verstärkung unseres ideologischen Massenkampfes gegen die Hitlerpartei. Es genügt nicht, sich nur mit ihrem Mordterror auseinanderzusetzen. Notwendig ist vielmehr ‑ und das ist eine der wichtigsten Lehren, die wir aus den verschiedensten Wahlen der letzten Zeit ziehen müssen ‑ eine ernste Politik gegen die Nationalsozialistische Partei, um ihren arbeiterfeindlichen Charakter als Schutztruppe für die Diktatur der Bourgeoisie, Schutztruppe für das Unternehmertum zu enthüllen. Wir müssen durch unsere Politik als einzige Partei des Kampfes gegen Versailles und Young und für die Befreiung des werktätigen Deutschland durch die Aufrollung unseres Freiheitsprogramms auch die “nationale” Demagogie der Hitlerpartei aufdecken und zerschlagen. Wir müssen den Massen zeigen, daß die Nationalsozialisten auch in der Frage des nationalen Befreiungskampfes jenseits der Barrikade stehen und Todfeinde dieses Kampfes sind. Diese Frage ist ein entscheidender Teil unseres Massenkampfes gegen den Nationalsozialismus und gehört mit zu den wichtigsten Fragen unserer gesamten Politik.
Das gilt in noch viel stärkerem Maße für die jetzt mit äußerster Schärfe einsetzenden Versuche der Nationalsozialisten, sich Positionen mit Hilfe ihrer HIB-Aktion (“Hinein in die Betriebe”) unter dem Proletariat zu verschaffen. Neben der unbedingt notwendigen Verschärfung unseres prinzipiellen Kampfes gegen die Sozialdemokratie, der auch vom Standpunkt des Kampfes gegen den Faschismus allgemein und gegen den Nationalsozialismus im besonderen das Kernproblem darstellt, ist der entschlossenste Kampf gegen jedes Eindringen der Faschisten in die Betriebe und für die Säuberung der Betriebe von den faschistischen Zellen eine unbedingte Notwendigkeit. Das gleiche gilt von der Erwerbslosenbewegung und der Arbeit unter den Angestellten.
Darüber hinaus steht vor der Partei in aller Schärfe der Kampf um die Heranziehung der werktätigen Mittelschichten an das Proletariat, den wir unverzüglich und energisch verbessern und lebendiger gestalten müssen. Wie wir dieses Problem der Gewinnung von Bundesgenossen für den proletarischen Klassenkampf, das Problem der Volksrevolution im marxistisch-leninistischen Sinne und nicht im Sinne der liberalen Abweichungen des "Propagandist" zu stellen haben (die mehrfach auch in der Parteipresse, auftauchten), das ist im Vorhergehenden bereits gezeigt worden.
* * *
Es bleibt uns nun die vierte und letzte Hauptfrage, die wir im Zusammenhang mit der mangelhaften Durchführung der Beschlüsse des XI. Plenums in der KPD zu untersuchen haben: Unklarheiten in der Frage der Perspektive und Tendenzen des individuellen Terrors.
Wir brauchen im Rahmen dieser theoretischen Untersuchung nicht den albernen Schwindel der Bourgeoisiepresse und der Sozialdemokratie zu widerlegen, als ob es in der KPD oder den ihr nahestehenden Organisationen “illegale Terrorformationen” gäbe oder gegeben habe. Solche erbärmlichen Erfindungen der Polizistenseelen und Tintenkulis in den Redaktionen des "Vorwärts" und der bürgerlichen Boulevardpresse der Ullstein, Mosse und Hugenberg, mit der das nationalsozialistische Schmutzorgan des Herrn Goebbels an marktschreierischer Sensationsgier erfolgreich wetteifert, richten sich selber.
Was uns jedoch interessiert, sind tatsächliche Erscheinungen bei einzelnen Arbeitern, innerhalb und außerhalb der revolutionären Bewegung, die sich durch die bewußten Provokationen des Naziterrors von der Linie des revolutionären Massenkampfes abdrängen lassen und, mehr oder weniger bewußt, der Sozialrevolutionären Ideologie des individuellen Terrors, der Schießereien, abenteuerlichen Unternehmungen und dergleichen mehr, anheim fallen. In solchen vereinzelten Erscheinungen drückt sich zweierlei aus:
Erstens: Arbeiter, die sich auf diesen Weg drängen lassen, haben nicht die marxistische Analyse der heutigen Lage und der Entwicklungsperspektive verstanden und anerkannt, wie sie die Kommunistische Partei Deutschlands und die Kommunistische Internationale stellen. Schon auf dem XI. Plenum haben wir für Deutschland mit völliger Klarheit festgestellt, daß wir uns in jener Etappe des revolutionären Aufschwungs befinden, in der noch nicht der unmittelbare Machtkampf der Revolution selbst auf der Tagesordnung steht, sondern die Voraussetzungen einer revolutionären Krise in Deutschland beschleunigt heranreiten.
Wer diese Perspektive der KPD und der Komintern anerkennt, muß auch verstehen, daß heute vor jedem revolutionären Arbeiter und vor der Gesamtpartei die zentrale Aufgabe steht: zähes, unermüdliches Ringen um die Eroberung der proletarischen Mehrheit und darüber hinaus die Gewinnung von Bundesgenossen für das Proletariat aus allen werktätigen Schichten zum gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus unter proletarischer Hegemonie. Das bedeutet: die Kampfe der Arbeiterklasse, die Streiks der Betriebsarbeiter, die Massenaktionen der Erwerbslosen, die Massenkämpfe aller werktätigen Schichten, Mieter-Streiks, Steuerstreiks, Abwehr von Exmissionen und Zwangsversteigerungen usw., mit anderen Worten: den Massenkampf gegen die Notverordnungen der Bourgeoisie bis zu politischen Massenstreiks und anderen höheren Kampformen zu organisieren und zur Entfaltung zu bringen. Eine Reihe von politischen Massenstreiks in der letzten Zeit (Braunschweig, Nowawes, Riesa) zeigen, daß diese Arbeit vorwärts geht.
Wer an die Stelle dieser zähen, unablässigen, revolutionären Massenarbeit das Spiel mit dem Revolver oder der Handgranate zu einem Zeitpunkt setzt, wo die Bedingungen für einen bewaffneten Kampf der Massen noch keineswegs gegeben sind, ‑ der leugnet die Analyse der Situation und die Perspektive der Entwicklung, wie sie die KPD und die Komintern geben. Es ist klar, daß wir die Pflicht haben, wenn wir die Rolle unserer Partei als Führerin der Klasse erfüllen wollen, gegen jede solche putschistische und sektiererische Tendenz unser ideologisches Feuer zu richten. Das ist die eine Seite des Problems.
Zweitens: Jene Arbeiter, die sich von den planmäßigen Naziprovokationen zur Abwehr mit gleichen Methoden des individuellen Terrors verleiten lassen, entfernen sich hinsichtlich der Methoden des proletarischen Freiheitskampfes von den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus. Denn der individuelle Terrorismus hat im System des Leninismus ebensowenig Platz wie das feige, jämmerliche liberale Geschwätz der Sozialpazifisten. Diese Todfeinde des Marxismus brüsten sich damit, daß sie auch den revolutionären Terrorismus als Methode der gewaltsamen Unterdrückung der feindlichen Klasse durch die proletarische Diktatur und damit die proletarische Revolution überhaupt “ablehnen”. Sie schaudern vor jeder Gewalt zurück, wenn es nicht die Gewalt des bürgerlichen Polizeisäbels oder der Reichswehrmaschinengewehre ist.
Überflüssig zu sagen, daß wir Kommunisten die Gewalt bejahen, ohne die keine geschichtliche Umwälzung denkbar ist. Überflüssig zu betonen, daß für uns wie für Karl Marx "die Gewalt die Geburtshelferin jeder alten Gesellschaftsordnung ist, die mit einer neuen schwanger geht". Selbstverständlich, daß wir den revolutionären Terrorismus des kämpfenden Proletariats im Rahmen des unmittelbaren Machtkampfes und zur Sicherung der eroberten Macht der Arbeiterklasse bejahen, wie ihn das siegreiche russische Proletariat nach dem Oktober 1917- zur Vernichtung der Konterrevolution anwendete.
Aber all das hat nichts mit dem individuellen Terror zu tun, zu dem die nationalsozialistische Mordwelle die revolutionären Arbeiter verlocken will. Wenn klassenbewußte Arbeiter sich von den Aufgaben der Massenarbeit auf dieses Gebiet ablenken lassen, vertauschen sie das Rüstzeug des Leninismus mit den durch die Geschichte der Arbeiterbewegung längst widerlegten Methoden der Sozialrevolutionäre aus der Zeit des russischen Zarismus.
Warum lehnen, wir diese Taktik der Sozialrevolutionäre ab? Genosse Lenin hat in einem Aufsatz vom Jahre 1902 "Warum muß die Sozialdemokratie (die spätere Bolschewistische Partei, E. Th.) den Sozialrevolutionären einen entschiedenen Krieg ansagen?" die Antwort auf diese Frage gegeben. Dort heißt es u. a.:
Weil die Sozialrevolutionäre, die den Terror in ihr Programm aufnehmen und ihn als Mittel des politischen Kampfes in seiner gegenwärtigen Form propagieren, damit der Bewegung einen schweren (den schwersten) Schaden zufügen und die untrennbare Verbindung der sozialistischen Arbeit mit der Masse der revolutionären Klasse zerstören. Auch die wortreichsten Beteuerungen und Beschwörungen können die zweifellos bestehende Tatsache nicht widerlegen, daß der Terror, wie ihn die Sozialrevolutionäre heute anwenden und propagieren, in gar keiner Verbindung mit der Arbeit in den Massen, für die Massen und zusammen mit den Massen steht, daß die von der Partei ausgehende Organisierung terroristischer Anschläge unsere zahlenmäßig äußerst geringen organisatorischen Kräfte von ihrer schwierigen und bei weitem noch nicht erfüllten Aufgabe der Organisierung einer revolutionären Arbeiterpartei ablenken, daß der Terror der Sozialrevolutionäre in der Tat nichts anderes ist als ein Zweikampf, den die Erfahrung der Geschichte vollkommen verurteilt hat. Sogar die ausländischen Sozialisten beginnt die geräuschvolle Terrorpropaganda, die unsere Sozialrevolutionäre jetzt entfalten, zu beunruhigen. In den russischen Arbeitermassen aber sät diese Propaganda geradezu die schädlichen Illusionen, als "zwänge der Terror die Menschen, auch gegen ihren Willen politisch zu denken", als wäre er "sicherer als Monate mündlicher Propaganda imstande, die Meinung von Tausenden von Menschen über die Revolutionäre und den Sinn(!!) ihrer Tätigkeit zu ändern", als wäre er fähig, "den Schwankenden, Mutlosen, durch den traurigen Ausgang vieler Demonstrationen Erschütterten neue Kräfte einzuflößen" usw. Diese schädlichen Illusionen können nur zu einer raschen Enttäuschung und zur Schwächung der Arbeit, die den Ansturm der Massen auf den Absolutismus vorbereitet, führen.
Und in einem Aufsatz in der "Iskra" vom 1. August 1902 "Revolutionäres Abenteurertum" beschäftigt sich Lenin erneut und noch ausführlicher mit der Frage des Terrors:
Die Sozialrevolutionäre bemerken naiverweise nicht, daß ihre Neigung zum Terror ursächlich aufs engste mit der Tatsache zusammenhängt, daß Sie von Anfang an abseits von der Arbeiterbewegung standen und auch weiter abseits von ihr stehen, ohne auch nur bestrebt zu sein, die Partei der revolutionären Klasse zu sein, die ihren Klassenkampf führt. Eifriges Schwören veranlaßt häufig aufzuhorchen und die innere Wahrheit dessen anzuzweifeln, was eine scharfe Beize erfordert. Und ich muß häufig an die Worte denken: “Wie werden sie des Schwören nicht müde?” ‑ wenn ich die Beteuerungen der Sozialrevolutionäre lese: "Wir drängen durch den Terror die Arbeit unter den Massen nicht in den Hintergrund". Beteuern das doch dieselben Leute, die von der Sozialdemokratischen Bewegung (den späteren Bolschewiki, E. Th.), die die Massen tatsächlich auf die Beine bringt, bereits abgerückt sind und auch weiterhin von ihr abrücken, wobei sie sich an Bruchstücke bald der einen, bald der anderen Theorie klammern.
Als ausgezeichnete Erläuterung des Gesagten kann das von der Partei der Sozialrevolutionäre herausgegebene Flugblatt vom 3. April 1902 dienen. [...] Das Flugblatt vom 3. April ahmt mit sklavischer Treue die Schablone der “neuesten” Beweisführung der Terroristen nach. [...] Die Zeit, "da das Arbeitervolk aus der Finsternis hervortreten" und in "machtvoller Volksbewegung die eisernen Tore in Stücke schlagen wird"‑ "wird leider (buchstäblich heißt es so: leider!) noch nicht sobald kommen, und furchtbar ist der Gedanke, wie viele Opfer es dabei geben wird!” Bringen denn nicht diese Worte: "Leider noch nicht sobald" den vollständigen Mangel an Verständnis für die Massenbewegung und das Fehlen des Glaubens an sie zum Ausdruck? Ist diese Behauptung nicht absichtlich zum Hohn auf die Tatsache ersonnen, daß das Arbeitervolk sich bereits zu erheben beginnt? Und wenn schließlich sogar diese abgedroschene Behauptung ebenso begründet wäre, wie sie in Wirklichkeit unsinnig ist, ‑ so würde sich aus ihr besonders handgreiflich die Untauglichkeit des Terrors ergeben, denn ohne das Arbeitervolk sind alle Bomben machtlos, offenkundig machtlos. [...]
Wie viele Berge von Papier die Sozialrevolutionäre auch verschreiben mögen, um zu versichern, daß sie durch ihre Terrorpropaganda die Arbeit in den Massen nicht beiseite schieben, nicht desorganisieren, ‑ es wird ihnen nicht gelingen, durch ihren Wortschwall die Tatsache zu widerlegen, daß die wirkliche Seelenverfassung des modernen Terroristen gerade durch das angeführte Flugblatt richtig wiedergegeben wird. [...] Daß die einzige Hoffnung der Revolution die “Volksmenge” ist, daß gegen die Polizei einzig und allein eine revolutionäre Organisation kämpfen kann, die (in der Tat und nicht mit Worten) diese Menge führt, das ist eine Binsenwahrheit. Es wäre eine Schande, das noch beweisen zu müssen. Und nur Leute, die alles vergessen und gar nichts hinzugelernt haben, konnten “umgekehrt” zu dem hanebüchenen, himmelschreienden Unsinn gelangen, zu behaupten, daß die Soldaten den Absolutismus vor der Menge, die Polizei ihn vor den revolutionären Organisationen “retten” können, vor einzelnen aber, die auf die Minister Jagd machen, könne nichts retten!!
"Jeder Zweikampf eines Helden weckt in uns allen den Geist des Kampfes und des Mutes", sagt man uns. Wir aber wissen aus der Vergangenheit und sehen in der Gegenwart, daß nur neue Formen der Massenbewegung oder das Erwachen neuer Schichten der Massen zum selbständigen Kampf wirklich in allen den Geist des Kampfes und den Mut erwecken. Die Zweikämpfer aber, gerade soweit sie Zweikämpfe der Balmaschows (sozialrevolutionärer Student, der 1902 den zaristischen Innenminister Sipjagin tötete und vom Kriegsgericht zum Tode verurteilt wurde. E. Th.) bleiben, rufen unmittelbar nur eine rasch vorübergehende Sensation hervor, führen aber mittelbar zur Apathie, zum tatenlosen Abwarten des nächsten Zweikampfes. [...]
Das unmittelbar Handgreifliche und Aufsehenerregende der Ergebnisse verwechseln die Sozialrevolutionäre mit dem praktischen Zweck. Die Forderung, unbeugsam auf dem Klassenstandpunkt zu verharren und den Massencharakter der Bewegung zu wahren, ist für sie ein “unklares Theoretisieren”. Klarheit heißt für sie: jeden Stimmungsumschwung sklavisch folgen und [...] infolgedessen bei jedem Umschwung hilflos dastehen. Es beginnen Demonstrationen ‑ und von diesen Leuten kommt ein blutrünstiger Wortschwall, ein Gerede über den Anfang vom Ende. Die Demonstrationen hören auf, sie lassen die Hände sinken und, ehe man noch die Schuhsohlen abgelaufen hat, beginnt schon das Geschrei: "das Volk wird leider noch nicht sobald"…
Die Sozialdemokratie (Bolschewistische Partei, E. Th.) wird stets vor Abenteuertum warnen und unerbittlich die Illusionen entlarven, die unvermeidlich zu vollständiger Enttäuschung führen. Wir dürfen nicht vergessen, daß eine revolutionäre Partei nur dann ihren Namen verdient, wenn sie in der Tat die Bewegung der revolutionären Klasse leitet. Wir dürfen nicht vergessen, daß jede Volksbewegung außerordentlich mannigfaltige Formen annimmt, ständig neue Formen herausarbeitet, alte abstreift und Änderungen oder neue Verbindungen alter und neuer Formen erzeugt. Und es ist unsere Pflicht, an diesem Prozeß der Herausarbeitung von Kampfmethoden und Kampfmitteln aktiv teilzunehmen. [...] Wir verschließen unsere Augen nicht vor der Schwierigkeit dieser Aufgabe, aber wir werden tatkräftig und standhaft an ihr arbeiten, ohne uns durch die Einwände beirren zu lassen, daß das eine “unbestimmt ferne Zukunft” sei. Ja, ihr Herren, wir sind auch für die zukünftigen und nicht nur für die vergangenen Formen der Bewegung. Wir ziehen eine langwierige und schwierige Arbeit an dem, was eine Zukunft hat, der “leichten” Wiederholung dessen, was bereits von der Vergangenheit verurteilt worden ist, vor.”
Was Lenin hier über den individuellen Terror als Kampfmethode sagt, können wir mit vollem Recht als die klassische Formulierung des marxistischen Standpunktes zu diesem Problem auch auf die Gegenwart anwenden. Gewiß kann es Situationen geben, wo der Terror auch im Sinne der Aktionen einzelner Gruppen eine revolutionäre Rolle spielt. Lenin hat das in der Revolution von 1905 bezüglich der Partisanengruppen sehr oft beschrieben (ähnlich spielten auch in China und im russischen Bürgerkrieg nach dem Oktober 1917 die roten Garden, Partisanengruppen usw. eine große Rolle). Aber die Voraussetzung hierfür war eine allgemeine Lage, in der der bewaffnete Kampf, der Aufstand der Massen bereits auf der Tagesordnung stand. Das Jahr 1902, in dem, um Lenins Formulierungen zu gebrauchen, bereits eine Erhebung der Massen begann, Demonstrationen, sogar bewaffnete Demonstrationen stattfanden, war jedoch eine Zeit des revolutionären Aufschwunges der noch nicht zur revolutionären Krise, geschweige zur revolutionären Situation geführt hatte. Das gleiche trifft für die gegenwärtige Entwicklungsphase in Deutschland zu.
So ist der Beschluß des Zentralkomitees der KPD vom 10. November 1931 gegen den individuellen Terror keineswegs, wie es die bürgerliche Presse den revolutionären Arbeitern einreden möchte, nur ein “taktisches Manöver”, das zur Sicherung der Partei vor einem Verbot dienen solle, in Wirklichkeit aber “nicht ernst gemeint” wäre. Im Gegenteil: der Hauptgrund für diesen außerordentlich ernsten und bedeutungsvollen Beschluß war gerade die Überzeugung des Zentralkomitees der KPD, daß jede Vernachlässigung eines bolschewistischen Kampfes gegen den individuellen Terror und jede versöhnliche Duldung diesem gegenüber nur den Nationalsozialisten und damit der Bourgeoisie überhaupt ihr Spiel zur Ablenkung der Arbeiterklasse von den entscheidenden revolutionären Aufgaben des Massenkampfes erleichtern würde. Der Hauptgrund für den Beschluß des Zentralkomitees war also unser Bestreben, die Partei und die Arbeiterklasse nicht ablenken zu lassen von dem Gebiet der Organisierung von Streiks, Erwerbslosenaktionen, Mieterstreiks, Steuerstreiks, politischen Streiks usw., vom Kampf gegen die Hungeroffensive der Bourgeoisie zur Abwälzung der Lasten der Krise und der imperialistischen Tribute auf die arbeitenden Massen.
Ein zweiter entscheidender Grund war der Gesichtspunkt, unseren Kampf gegen den Nationalsozialismus erfolgreicher zu gestalten. Der Mordterror der SA-Banden ist ja nicht zuletzt auch ein Mittel für die Hitler-Partei, die Massen der nationalsozialistischen Anhänger durch eine möglichst erhitzte Atmosphäre blutiger Auseinandersetzungen gegen die kommunistische Aufklärung unempfänglich zu machen. Darüber hinaus versucht die Hitler-Partei, indem sie die Auseinandersetzung mit dem revolutionären Proletariat auf das Gebiet der Schießereien und Messerstechereien zu drängen sucht, ihre eigene großkapitalistische Politik vor ihren Anhängern zu verschleiern und dabei zugleich einen Druck auf die Regierung in der Richtung des Verbotes der KPD auszuüben.
Auch aus allen diesen Gründen war der Beschluß unseres Zentralkomitees notwendig. Er hat also keineswegs eine Abschwächung, sondern im Gegenteil, die größtmögliche Verschärfung unseres ideologischen Massenkampfes gegen den Faschismus zum Ziele. Es braucht in diesem Zusammenhang kaum erst darauf hingewiesen zu werden, daß der Beschluß des Zentralkomitees nicht dazu dienen soll, den Massenkampf des Proletariats und der Werktätigen zur Abwehr faschistischen Mordterrors auch nur im mindesten abzuschwächen.
Im Gegenteil: das Beispiel Braunschweigs auf diesem Gebiet, auf das wir bereits hinwiesen, zeigt, wie die richtige Anwendung der proletarischen Einheitsfrontpolitik im antifaschistischen Massenkampf die größten Erfolge zeitigt. Der Beschluß des Zentralkomitees wird dazu beitragen, in Zukunft diese Linie noch entschlossener und noch erfolgreicher anzuwenden.
Die Erscheinungen, in denen sich ein Abgleiten von der Linie des Leninismus zur Politik der Sozialrevolutionäre, zu Methoden des individuellen Terrors zeigt, widerspiegeln genau wie die Schwächen ideologisch-politischer Natur auf den drei anderen Hauptgebieten, mit denen wir uns zuvor beschäftigten, einen erheblichen Mangel in der Durchführung der Beschlüsse des XI. Plenums und unserer ZK-Tagungen. Uns zwar ist es in diesem Fall die ungenügende Konkretisierung unserer Analyse und unserer Perspektive und ihre mangelhafte Popularisierung unter den Massen, die die Grundlage für solche sektiererischen Fehler wie das Abgleiten auf den individuellen Terror abgibt.
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Es ist nicht Aufgabe dieses Artikels, auf die großen und positiven Erfolge hinzuweisen, die wir im letzten Jahre erreichten. Auch beschäftigen wir uns hier nicht mit verschiedenen wichtigen Schwächen unserer revolutionären Praxis (Streikführung, Einheitsfrontpolitik, RGO, Betriebsarbeit, Arbeit unter der Jugend usw.). Auch diese Fragen hängen naturgemäß mit den hier behandelten Problemen zusammen.
Was zeigt sich also? Es erweist sich, daß trotz der großen Erfolge unserer Partei ihr theoretisches Niveau, das ideologisch-politische Niveau unserer Parteiarbeit, ungenügend ist und einer wesentlichen Besserung unbedingt bedarf. Sind unsere Beschlüsse einwandfrei und richtig? Niemand kann es bestreiten. In diesem Artikel wurde der Versuch gemacht, an Hand des XI. Plenums des EKKI den Nachweis zu führen, daß alle die angeführten Abweichungen, Schwächen und Fehler unmöglich gewesen wären bei einem genügenden, gründlichen Studium der Ergebnisse des XI. Plenums.
Oder sind es vielleicht Mängel in den Beschlüssen der deutschen Partei, auf Grund deren sich die gezeigten ideologischen Schwächen und Fehler erklären lassen? Auch das trifft nicht zu. Man braucht dazu nur aus der Resolution des Zentralkomitees der KPD im Mai über die Beschlüsse des XI. Plenums des EKKI einige wichtige Sätze zu zitieren, die sich gerade mit jenen Fragen beschäftigen, in denen sich in unserer Arbeit Schwächen und Abweichungen von der Linie des XI. Plenums ergeben haben. Es heißt in der Resolution:
In der gegenwärtigen Periode geht die Bourgeoisie dazu über, immer stärker faschistische Herrschaftsmethoden anzuwenden. Doch ist es unrichtig, anzunehmen, daß die faschistische Diktatur unter allen Umständen und in allen Ländern zwangsläufig die einzige Form der kapitalistischen Herrschaft werden müsse. Die faschistische Diktatur stellt keineswegs einen prinzipiellen Gegensatz zur bürgerlichen Demokratie dar, unter der auch die Diktatur des Finanzkapitals durchgeführt wird. Im Übergang von den demokratischen zu faschistischen Herrschaftsmethoden drückt sich vielmehr lediglich ein Wandel in den Formen, ein organischer Übergang von der verschleierten und versteckten zur offenen und unverhüllten Diktatur, nicht eine Veränderung des Klasseninhalts aus.
In Deutschland versucht die SPD, als soziale Hauptstütze der Bourgeoisie, die Regierung der Durchführung der faschistischen Diktatur, das Kabinett Brüning als das “kleinere Übel” gegenüber einer Naziregierung hinzustellen, um dadurch den faschistischen Charakter der Herrschaftsmethoden der Brüningregierung zu vertuschen. Hier würde jede Tendenz einer liberalen Gegenüberstellung von Faschismus und bürgerlicher Demokratie als prinzipiell gegensätzlicher Systeme im besonderen Maße eine Unterstützung des sozialdemokratischen Betrugs der Arbeitermassen und eine Abschwächung des Massenkampfes gegen die Durchführung der faschistischen Diktatur bedeuten.
Eine besonders raffinierte Rolle im sozialdemokratischen Massenbetrug spielen gegenwärtig wieder die “linken” Sozialdemokraten. Um die gegen die klassenverräterische Politik der SPD empörten und sich von ihr loslösenden Massen bei dieser Partei zu halten, führen sie eine demagogische Opposition ohne jede politische Konsequenz durch…
In Deutschland vollzieht sich zur Zeit eine Steigerung der Voraussetzungen der revolutionären Krise. [...] Aufgabe der Partei ist es, durch die von ihr geführten Kampfaktionen der Massen diesen Prozeß im Rahmen der objektiven Bedingungen zu fördern und sein Tempo zu beschleunigen. [...]
Die Preußenpolitik der SPD ist die Hauptstütze dieses Brüningkurses und hat das schwarz-rot-goldene Preußen zu einem Hort der finsteren Reaktion in Deutschland gemacht. Der Kampf gegen die Preußenregierung ist deshalb ein entscheidender Teil unseres allgemeinen Massenkampfes gegen die Kapitalsdiktatur und den Faschismus. [...]
Diese wenigen Sätze aus der Resolution des Mai-Plenums des ZK. der KPD mögen als Beweis dienen, daß bei einer gründlichen Auswertung unserer Beschlüsse in der gesamten Parteiarbeit die angeführten Fehler unterblieben wären. Man muß es aber aussprechen, daß in unserer Partei, trotz ihrer großen Erfahrungen, trotz ihrer bolschewistischen Entwicklung und ihres Reifungsprozesses zum Leninismus, noch kleinbürgerliche Schwächen einer Vernachlässigung der theoretisch-politischen Arbeit und des ernsten Studiums der Beschlüsse der Komintern und des Zentralkomitees vorhanden sind. Wenn auch nur vereinzelt, so sind doch, Stimmungen vorhanden, in denen sich ungenügendes Verständnis für die untrennbare Verbundenheit von revolutionärer Theorie und revolutionärer Praxis ausdrückt. Stimmungen, die bisweilen gerade bei der Erörterung theoretischer Fragen im Zusammenhang mit Tagungen der Komintern und des Zentralkomitees der Partei laut wurden. Es gibt Genossen, die bei der Erörterung solcher Probleme glauben, man müsse nun “von der hohen Warte der Theorie wieder auf die ebene Erde der rauhen Praxis hinabsteigen.” Solche Stimmungen und Tendenzen haben mit bolschewistischen Auffassungen nichts gemein. Jedes Nachgeben gegenüber solchen Stimmungen bedeutet Vernachlässigung der inneren politischen Erziehungsarbeit unserer Partei und damit Abschwächung unserer praktischen Massenarbeit. Ohne die Verstärkung und wesentliche Vertiefung dieser Erziehungsarbeit kann der notwendige Zweifrontenkampf gegen die Hauptgefahr des rechten Opportunismus und die “linken” Abweichungen nicht erfolgreich geführt werden. Wir müssen die Beschlüsse der Tagungen der Kommunistischen Internationale und unseres Zentralkomitees leidenschaftlicher, ernster und aktiver in unseren Reihen studieren und zur richtigen Durchführung in den proletarischen Massen bringen.
Wir müssen, gerade wenn wir in unserer revolutionären Praxis das Zurückbleiben der Partei hinter den objektiven Möglichkeiten des revolutionären Aufschwungs liquidieren wollen, eine entschlossene Wendung zur Überwindung der Schwächen auf theoretischem Gebiet machen. Das ist keine Frage, die nur die Spitzenfunktionäre der Partei, die oberen und mittleren Leitungen Angeht, sondern eine Frage unserer gesamten Parteiarbeit, ‘vom Zentralkomitee bis zur Zelle.
Diese Arbeit in Angriff nehmen, die Linie der Partei ausrichten, das Feuer auf alle Schwächen, Abweichungen und Fehler konzentrieren und dabei das Niveau der gesamten Partei heben, die Einheit zwischen Theorie und Praxis im Sinne des Leninismus herstellen - das alles bedeutet: die Voraussetzungen für noch größere Erfolge der revolutionären Massenarbeit, für einen noch stärkeren Vormarsch des Kommunismus schaffen!
Diese theoretische Arbeit und das Bestreben, alle Probleme schärfer und prinzipieller zu stellen, ist auch eine Voraussetzung dafür, daß die Partei an die große Aufgabe herangehen kann, die ihr vom VI. Weltkongreß der Komintern gestellt wurde: die Schaffung eines Programms der deutschen Partei bis zum VII. Weltkongreß zu ermöglichen.
Auf dem XI. Plenum des EKKI war es vor allem auch Genosse Piatnitzki, der die Arbeit aller Sektionen der Kommunistischen Internationale auf den verschiedensten Gebieten einer gründlichen Überprüfung und Kritik unterzog. Für die Aufgaben, die wir im Sinne der Liquidierung der in diesem Artikel geschilderten Schwächen stellen, gilt das gleiche, was Genosse Piatnitzki am Schluß seiner Rede auf dem XI. Plenum sagte:
Man muß entschieden alles aus dem Wege räumen, was eine wirkliche Wendung in der Arbeit der Partei, des Kommunistischen Jugendverbände, der Roten Gewerkschaften und der Gewerkschaftsopposition hindert, damit die Komintern, die Profintern und alle ihre Sektionen erfolgreich das Proletariat organisieren, führen, und in den kommenden Kämpfen gegen die Diktatur der Bourgeoisie, für die Diktatur des Proletariats zum Siege führen können.
Wir müssen uns daran gewöhnen, jeden Schritt unserer täglichen Praxis des revolutionären Klassenkampfes mit dem höchsten Maßstab revolutionärer Theorie zu messen. Nur dann werden wir das Maß an Verantwortlichkeit verwirklichen, das eine revolutionäre Partei in allen ihren Teilen jederzeit bekunden muß. Es ist klar, daß die Direktiven des Zentralkomitees in allen politischen Fragen bis herab zur kleinsten Zelle einer verhältnismäßig langen Weg zurücklegen. Dabei besteht die Gefahr, daß diese Direktiven, bis sie zu den Mitgliedern gelangen, oft weniger qualifiziert, weniger präzis formuliert, abgeschwächt oder unter Umständen sogar ein wenig “verbogen” werden, manchmal sogar überhaupt “verloren” gehen. Das ist zum Teil in den Schwierigkeiten und dem Tempo der revolutionären Massenarbeit unserer Partei begründet. Ein bedeutender Schutz gegen solche Erscheinungen aber ist die verstärkte Arbeit für die allgemeine Hebung des theoretischen Niveaus der Partei, die allgemeine politische Schulung und Festigung unserer Kaders.
Mit der Zuspitzung der Klassensituation, der Verschärfung des Klassenkampfes und dem Wachstum der revolutionären Bewegung steigen die Aufgaben und die Anforderungen an die Partei. Die Entwicklung der Partei zeitigte einen inneren Umwandlungsprozeß unseres Funktionärkörpers, der an vielen Stellen neue, jüngere Elemente an die Stelle solcher Genossen brachte, die mit der revolutionären Entwicklung vorübergehend oder ständig nicht Schritt zu halten vermochten. Das hat dazu geführt, daß in den letzten ein bis zwei Jahren ungefähr die Hälfte unseres Funktionärstabes erneuert wurde. Diese Entwicklung ist zweifelsohne zu begrüßen. Aber sie bringt mit sich die große Pflicht für die Partei, diesen jüngeren Genossen durch ständige unermüdliche politisch-ideologische Erziehungsarbeit das geistige Rüstzeug zu verschaffen, dessen sie für ihre verantwortungsvolle Arbeit bedürfen. Nur dann werden sie als Vorbild für ihre Klassengenossen zu wirklichen Führern der Arbeiterklasse werden, die mit dem Arbeiterleben zutiefst verbunden sind und bei der schöpferischen Entfaltung der Initiative der Massen durch unsere revolutionäre Arbeit den höchsten Elan entwickeln.
Die gefestigte Einheit der Partei, die sowohl ein Produkt ihres inneren Reifungsprozesses wie der allgemeinen Konsolidierung der revolutionären Klassenkräfte ist, sichert die Partei im wesentlichen vor der Entstehung parteifeindlicher Strömungen, Gruppierungen oder gar Fraktionen. Um so mehr ist die Partei gerade auf Grund ihrer Einheit verpflichtet, ihre Arbeit jederzeit mit offener und uneingeschränkter bolschewistischer Selbstkritik zu überprüfen und zu verbessern. Der Bolschewismus, gewachsen im unversöhnlichen Kampf gegen den rechten Opportunismus und den Trotzkismus, muß uns allen als ein besonderes Beispiel und Vorbild dienen.
Die Erziehung der Partei ist stets auch Arbeit für die Steigerung ihrer Kampfkraft. Wenn wir mit allen Kräften daran gehen, das politische Niveau unserer Partei zu heben und zu verbessern, so ist das zugleich Arbeiten an den Massen und für die Massen, um die Partei und mit ihr die Arbeiterklasse aktionsfähiger für die großen und schweren Aufgaben des revolutionären Freiheitskampfes gegen die Diktatur der Bourgeoisie, für die Diktatur des Proletariats zu machen!
[1]. Cf. http://www.deutsche-kommunisten.de/Ernst_Thaelmann/Band3/thaelmann-band3-026.shtml.
[2]. Am 14. September 1930 fanden Reichstagswahlen statt, bei denen die NSDAP einen beträchtlichen Zuwachs an Abgeordneten verzeichnete. Von insgesamt 577 Abgeordneten stellt die SPD 143, die NSDAP 107, die KPD 77, die großen Rechtsparteien (Zentrum, DNVP, DVP) 139.